Book Title: Zum Begriff Der Substanz Im Vaisesika
Author(s): Wilhelm Halbfass
Publisher: Wilhelm Halbfass

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Page 5
________________ Substanz (dravya) im Vaiseşika 145 Zur Art und Weise, in der die Vaišeşika-Texte den Substanzbegriff einführen und zum Thema stellen, ist zunächst folgendes zu bemerken: Es wird keine allgemeine und funktionale Bestimmung oder Definition von drarya gegeben; es wird überhaupt nicht eigentlich gefragt, was denn die Substanz selbst und was die grundsätzlichen Implikationen ihres Begriffs seien. Stattdessen wird eine umfassende Aufzählung alles dessen geboten, was unter diesen Begriff fällt - die bekannte Liste der neun drarya Erde, Wasser, Feuer, Luft, Ather, Raum, Zeit, Seelen, innere Organe-, und daran anschließend, und in durchaus sekundärer Weise, werden einige mehr oder weniger gemeinsame Attribute der in dieser Liste genannten Entitäten zusammengestellt. - Eine vollständige Aufzählung in diesem Sinne wäre mit dem ,,kategorialen“ Zugang zum Substanzthema, wie wir ihn etwa bei Kant oder auch schon bei Aristoteles finden, offenkundig nicht zu vereinbaren: Beide können, was sie oủola bzw. Substanz nennen, nur durch Beispiele illustrieren; für eine vollständige Liste wäre im begrifflichen Rahmen und angesichts der grund. sätzlichen Orientierung ihrer Kategorienlehren kein Platz". - Im Vorgriff auf Späteres ist hier anzumerken, daß der enumerative Zugang zum Substanzthema im Vaiseșika, zu dem funktionale und kategoriale Uberlegungen nur gleichsam nachträglich und derivativ hinzutreten, mit dem kosmologisch-naturphilosophischen Hintergrund des Systems zusammen. hängt; und dieser Hintergrund ist auch für die späteren kategorialen Erörterungen des Verhältnisses von dravya und guna noch bedeutsam. Die als Substanzen zusammengefaßten Entitäten bzw. Klassen von Entitäten bilden eine in mancher Hinsicht heterogene Gruppe, auf deren geschichtliche und systematische Problematik wir hier im einzelnen nicht eingehen können. Wir wenden uns vielmehr einer weiteren Unterteilung zu, die innerhalb dieser Gruppe, und zwar in speziellem Bezug auf die atomaren' Substanzen Erde, Wasser, Feuer und Luft, durchgeführt wird - der Unterteilung in ewige (nitya) und vergängliche, „nicht-ewige" (anitya) Substanzen. Die ewigen Substanzen sind die unteilbaren, unzerstörbaren Grundbausteine der Welt, ihre letzten Materialursachen, d. h. speziell die „Atome“ (anu, paramāņu) der genannten vier elementaren Auf doxographisch Grundsätzliches zum Vaiseşika wird im folgenden nicht näher eingegangen; vgl. dazu E. FRAUWALLNER, Geschichte der indiachen Philosophie. Bd. II (Salzburg 1956). 13 Vgl. z. B. Kants funktionale Bestimmung des Substanzbegriffs (Kri. tik der reinen Vernunft A 182): „Alle Erscheinungen enthalten das Behart. liche (Substanz) als den Gegenstand selbst, und das Wandelbare, als dessen bloße Bestimmung, d. i. eine Art, wie der Gegenstand existiert." - Auch in der indischen Tradition kommt es zu durchaus funktionalen Bestimmungen des Substanzbegriffs, einerseits z. B. in der Philosophie der Jainas, anderer. seits vor allem in der Philosophie der Grammatik. 10

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