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ZUM BEGRIFF DER SUBSTANZ (DRAVYA) IM VAIŠEŞIKA
Von Wilhelm Halbfass, Philadelphia
I.
Seit den Anfängen der neuzeitlichen Indienkunde im 18. Jahrhundert und vor allem seit COLEBROOKES grundlegenden Arbeiten zur indischen Philosophie ist es üblich, dravya mit,,Substanz" zu übersetzen1, und nur relativ selten ist nach dem genauen Sinn dieser Übersetzung gefragt worden. Der Substanzbegriff wird als Mittel der Interpretation einfach in Anspruch genommen, und die Unterscheidung von Substanz und Qualität gilt als sicherer und selbstverständlicher Maßstab für das Verständnis und die Beurteilung dessen, was in der indischen Tradition durch Begriffe wie dravya und guna erreicht worden ist.
Nun bedarf es jedoch nur einer flüchtigen philosophiehistorischen und systematischen Besinnung, um zu sehen, daß das Verhältnis von Substanz und Qualität keineswegs eindeutig und gesichert ist und daß der Begriff der Substanz wohl einer der vertrautesten und traditionsreichsten, zugleich aber einer der vieldeutigsten und umstrittensten Begriffe der abendländischen Philosophie ist. Die Kritik dieses Begriffs und die historische Entwirrung seiner vielfältigen Implikationen ist in der Tat eines
1 Schon ALEXANDER Dow gibt in seiner,,Dissertation concerning the Customs, Manners, Language, Religion and Philosophy of the Hindoos" (in: The History of Hindostan, vol. 1, London 1768) dravya-Dow selbst schreibt „dirba" - mit,,substance" wieder; entsprechend wird guna (,,goon") mit,quality" übersetzt (vgl. The British Discovery of Hinduism in the 18th Cent., ed. P. J. MARSHALL, Cambridge 1970, 131). Zu COLEBROOKES Darstellung des Nyaya und Vaiseşika vgl. Miscellaneous Essays, vol. 1, London 1837, 261294).
• Abweichende Übersetzungen sind nur vereinzelt und in Arbeiten vorgeschlagen worden, die heute kaum noch als aktuell gelten dürfen. So verwendet etwa M. MÜLLER (Beiträge zur Kenntnis der indischen Philosophie. I. ZDMG 6, 1852, 1-34; 219-242) die Übersetzung,,Gegenstand"; J. C. CHATTERJI (The Hindu Realism, Allahabad 1912) spricht von neun "realities”.
Vgl. z. B. H. JACOBI, Jaina Sutras. Pt. II (Sacred Books of the East 45; repr. New York 1968), Introduction XXXIII; E. FRAUWALLNER, Geschichte der indischen Philosophie. Bd. II (Salzburg 1956) 116.
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der Leitthemen der neueren Philosophie geworden. - Allein mit dem Substanzbegriff aristotelischer Prägung verbindet ein modernes philosophisches Nachschlagewerk die folgenden sechs Bedeutungen: 1) konkretes Individuum; 2) Grundbestand wesentlicher Eigenschaften; 3) was selbständig zu existieren vermag; 4) Zentrum der Veränderung; 5) Substrat; 6) logisches Subjekt". Es kann hier nicht darum gehen, zu erörtern, inwieweit diese Liste der aristotelischen Substanzlehre gerecht wird; und wir können auch darauf verzichten, sie durch nähere Hinweise auf nacharistotelische Entwicklungen zu ergänzen. Zur grundsätzlichen Orientierung mag es genügen, sich die folgenden Bedeutungen und Aspekte des Substanzbegriffs zu vergegenwärtigen: das Beharrende gegenüber der Veränderung; das Selbständige gegenüber dem Abhängigen, den Attributen; das Wesentliche gegenüber dem Akzidentiellen; das numerisch Identifizierbare und Individuelle gegenüber dem bloß generisch und qualitativ Bestimmbaren; und in anderer Perspektive: das konkrete Ding als relative" empirische Substanz; ein dem Ding zugrundeliegendes Substrat oder Trägerwesen als theoretisch postulierte,,absolute" Substanz. Alle diese Bedeutungen und Aspekte begegnen in mannigfacher Brechung und Variation im Kontext kosmologischer, ontologischer, theologischer, erkenntnistheoretischer und logischer Erörterungen".
Unsere Hinweise auf das Ausmaß der mit dem Substanzbegriff verknüpften Fragen und Ambivalenzen sollen keineswegs besagen, daß dieser Begriff als Mittel der Interpretation untauglich sei oder daß er durch eine definitorische Willenserklärung terminologisch festgelegt werden müsse. Es geht vielmehr darum, in der systematischen Besinnung auf die Mehrdeutigkeit, Fragwürdigkeit und Offenheit des abendländischen Substanzbegriffs sich methodisch offen zu halten für die mannigfachen Implikationen und Komplikationen im Begriff des dravya und in verwandten indischen Konzeptionen- und darüber hinaus für die den beiden Traditionen denn doch wohl gemeinsamen sachlichen Probleme".
Als eine der neuesten kritischen Bestandsaufnahmen zum Substanzthema vgl. A. QUINTON, The Nature of Things (London 1973). QUINTON leitet sein Werk mit der Feststellung ein:,,Substance is the oldest topic of philosophical inquiry and it is also one of the most entangled".
P. EDWARDS (ed.), The Encyclopedia of Philosophy (New York/London 1967), Art.,,Substance and Attribute", bes. S. 37.
Vgl. auch R. EISLER, Wörterbuch der philosophischen Begriffe (Berlin 1927-1930), Art. Substanz".
'Demgemäß geht es im folgenden weder um eine neutrale" historischphilologische Darstellung noch um ein freies Weiterdenken berührter Probleme; es wird vielmehr versucht, in stetem Bezug auf die Texte zugleich philosophisch-kritisch nachzudenken.
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II.
Wenn wir die Gebrauchsweisen von dravya und verwandten Begrif. fen und Termini in der indischen Tradition -- d. h. vor allem im Veiseşika und Nyaya, in der Philosophie der Grammatik und Mimāmsā, aber auch z. B. im Jinismus und in der Kritik der Buddhisten und Vedāntins - überblicken, so wird ein weites Bedeutungsfeld und eine Vielzahl begriffs- und problemgeschichtlicher Zusammenhänge sichtbar: Im Kon. text von Begriffen wie guna, paryāya, sāmānya, jāti, āksti, vyakti, asraya, und in einer Reihe wechselnder Zuordnungen und Gegenüberstellungen, bezeichnet dravya u. a. das Beständige gegenüber dem Unbeständigen, das Selbständige gegenüber dem Unselbständigen, das Individuelle und Besondere gegenüber dem Allgemeinen, das Konkrete gegenüber dem Abstrakten, das „Selbstsein“ oder „Eigenwesentliche“ gegenüber dem Relativen. Während es einerseits an die kosmogonisch-kosmologische, schon in den Upanişaden zentrale Thematik des Beständigen im Werden, des Weltsubstrats anschließt, steht es andererseits im Schnittpunkt logischer und erkenntnistheoretischer Uberlegungen zum Begriff und Problem des konkreten ,,Dinges". – Grundsätzliche philosophische Perspektiven und goschichtliche Reflexionsstufen finden jeweils ihren symptomatischen Ausdruck im Zugang zum Substanzthema; auch in der Kritik und Polemik, für die Formulierung von Alternativen und Gegenposi. tionen, erweist sich dravya noch als wichtiger begrifflicher Katalysator.
Schon einige der frühesten uns erhaltenen expliziten Stellungnahmen und Definitionsversuche, wie sie vor allem Patañjali in seinem Mahăbháşya', durchweg in Anknüpfung an ältere Autoritäten, präsentiert, illustrieren die Mehrdeutigkeit und Spannweite des Themas: dravya be
.. Bharthari erklärt (Vakyapadiya III/1, Dravyasamuddesa 1), daß die Substanz (draryo) schlechthin, als das Absolute, dasjenige sei, worum es in allen Schulen des Denkens, wenn auch unter verschiedenen Bezeichnungen, letztlich geht:
åtmå vastu svabhāvas ca sariram tattvam ity apil
dravyam ity asya paryayas tac ca nityam iti ampiam II Helarăja bemerkt dazu (ed. SUBRAMANIA IYER, Poona 1963), daß es außer diesem absoluten (paramarthika) Substanzbegriff auch einen empirisch-um. gangssprachlichen (samvyavahärika)-d. h. den gewöhnlichen" offenen Ding. begriff — gebe.
Vgl. besonders Mahābhāşya (od. F. KIELHORN; 3rd ed. K. V. ABHYANKAR, Poona 1962-1972) II 366; hier wird dravya zunächst als von den Qualitäten (guna) verschiedenes Substrat, dann als „Zusammenlauf von Qualitäten“ (gunasamdräva) bestimmt. Vgl. auch II 200; drawya als gunasamudaya. Zum ambivalenten Verhältnis von dravya und akyti vgl. besonder I 7.-Ambivalent ist das Wort auch in NS.
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gegnet als das partikulär bestimmte Einzelding, als ein stabiler Komplex von „wesentlichen“ Eigenschaften, oder auch als ein dem Ding zugrundeliegendes, nur in seinen bzw. des Dinges Formen und Modi zugängliches Stoffsubstrat. Einerseits ist es der vielen, durch unwesentliche und ver. gängliche Formen (akyti) voneinander verschiedenen Dingen gemeinsame und in ihnen beständige Stoff, andererseits bezeichnet es die geformten Einzeldinge selbst, die nun ihrerseits als unbeständige Exemplifikationen beständiger Formen gelten. - Die Dialektik und Ambivalenz, die sich hier andeutet, ist in den Diskussionen der folgenden Jahrhunderte zen. tral, wenn auch nicht immer offenkundig: Sie betrifft das Verhältnis von Bestimmung, Bestimmungsträger und der konkreten Einheit beider; in diesem Rahmen oszilliert das Verständnis von dravya, in mehr oder weniger deutlicher Annäherung, zwischen zwei Grenzwerten - nämlich dem am vollsten Qualifizierten, d. h. dem konkret-bestimmten, durch Eigennamen zu bezeichnenden Einzelding, und dem selbst unqualifizierten, seiner Tendenz nach sich im Unbestimmten verlierenden Träger der Bestimmungen 10
Die folgenden Erörterungen konzentrieren sich auf die Frage des Verhältnisses von dravya und guña, und zwar unter weitgehender Be schränkung auf die Literatur des klassischen Vaibeşika und ihr nahestehende Nyāya-Texte. Einige der erwähnten grundsätzlichen Probleme treten auch in solcher Beschränkung deutlich genug zutage. - Das Vai. šeşika gilt manchen seiner indischen und westlichen Beurteiler als ein bis zur Grobschlächtigkeit eindeutiges, in seinen dem common sense verpflichteten Voraussetzungen leicht durchschaubares System. In der Tat wird an gewissen Grundvoraussetzungen mit unverdrossener Hartnäckig. keit festgehalten. Auf diese Weise freilich werden sie zu Konsequenzen verfolgt, die vom common sense weit entfernt sind und nicht selten als scholastische Verstiegenheiten und karikaturistische Verzerrungen echter Probleme erscheinen mögen. Gleichwohl bleiben die Lehren und Problemstellungen des Vaiseșika auch in ihren Einseitigkeiten und Paradoxien noch aufschlußreiche Belegstücke für wichtige Möglichkeiten und Ver. suchungen philosophischen Denkens, und sie verdienen nicht nur als historische Kuriosa, sondern auch als Ansatzpunkte zu systematischphilosophischem Nachdenken und zur, Uberprüfung unserer eigenen Voraussetzungen ernst genommen zu werden".
In der Diskussion um das Problem der Wortbedeutung kann sowohl dravya (vgl. die Einleitung des Mahabhasya) wie vyakti (vgl. NS II b 57ff.) das individuelle Einzelding bezeichnen; vgl. auch NM I 297ff.; sowie allgemein zu diesem Thema M. BIARDEAU, Théorie de la connaissance et philo. sophie de la parole dans le brahmanisme classique (Le Hayo/Paris 1984) 22981.
u S. o., Anm. 7.
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Zur Art und Weise, in der die Vaišeşika-Texte den Substanzbegriff einführen und zum Thema stellen, ist zunächst folgendes zu bemerken: Es wird keine allgemeine und funktionale Bestimmung oder Definition von drarya gegeben; es wird überhaupt nicht eigentlich gefragt, was denn die Substanz selbst und was die grundsätzlichen Implikationen ihres Begriffs seien. Stattdessen wird eine umfassende Aufzählung alles dessen geboten, was unter diesen Begriff fällt - die bekannte Liste der neun drarya Erde, Wasser, Feuer, Luft, Ather, Raum, Zeit, Seelen, innere Organe-, und daran anschließend, und in durchaus sekundärer Weise, werden einige mehr oder weniger gemeinsame Attribute der in dieser Liste genannten Entitäten zusammengestellt. - Eine vollständige Aufzählung in diesem Sinne wäre mit dem ,,kategorialen“ Zugang zum Substanzthema, wie wir ihn etwa bei Kant oder auch schon bei Aristoteles finden, offenkundig nicht zu vereinbaren: Beide können, was sie oủola bzw. Substanz nennen, nur durch Beispiele illustrieren; für eine vollständige Liste wäre im begrifflichen Rahmen und angesichts der grund. sätzlichen Orientierung ihrer Kategorienlehren kein Platz". - Im Vorgriff auf Späteres ist hier anzumerken, daß der enumerative Zugang zum Substanzthema im Vaiseșika, zu dem funktionale und kategoriale Uberlegungen nur gleichsam nachträglich und derivativ hinzutreten, mit dem kosmologisch-naturphilosophischen Hintergrund des Systems zusammen. hängt; und dieser Hintergrund ist auch für die späteren kategorialen Erörterungen des Verhältnisses von dravya und guna noch bedeutsam.
Die als Substanzen zusammengefaßten Entitäten bzw. Klassen von Entitäten bilden eine in mancher Hinsicht heterogene Gruppe, auf deren geschichtliche und systematische Problematik wir hier im einzelnen nicht eingehen können. Wir wenden uns vielmehr einer weiteren Unterteilung zu, die innerhalb dieser Gruppe, und zwar in speziellem Bezug auf die atomaren' Substanzen Erde, Wasser, Feuer und Luft, durchgeführt wird - der Unterteilung in ewige (nitya) und vergängliche, „nicht-ewige" (anitya) Substanzen. Die ewigen Substanzen sind die unteilbaren, unzerstörbaren Grundbausteine der Welt, ihre letzten Materialursachen, d. h. speziell die „Atome“ (anu, paramāņu) der genannten vier elementaren
Auf doxographisch Grundsätzliches zum Vaiseşika wird im folgenden nicht näher eingegangen; vgl. dazu E. FRAUWALLNER, Geschichte der indiachen Philosophie. Bd. II (Salzburg 1956).
13 Vgl. z. B. Kants funktionale Bestimmung des Substanzbegriffs (Kri. tik der reinen Vernunft A 182): „Alle Erscheinungen enthalten das Behart. liche (Substanz) als den Gegenstand selbst, und das Wandelbare, als dessen bloße Bestimmung, d. i. eine Art, wie der Gegenstand existiert." - Auch in der indischen Tradition kommt es zu durchaus funktionalen Bestimmungen des Substanzbegriffs, einerseits z. B. in der Philosophie der Jainas, anderer. seits vor allem in der Philosophie der Grammatik.
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Substanzen. Die vergänglichen Substanzen sind die aus den Atomen auf. gebauten oder vielmehr durch sie verursachten konkreten und teilbaren Dinge, welche mit einem im Vaiseşikasūtra noch nicht gebrauchten, wohl eher im Nyāya beheimateten Ausdruck avayavin genannt werden", - Bei flüchtigem Hinsehen mag diese Unterteilung des Substanzbegriffs als ein im System wohlintegriertes und keineswegs mit besonderen Problemen beladenes Lehrstück des Vaiseşika erscheinen. Die Lehre von den ewigen und den vergänglichen Substanzen hat jedoch viel weiterreichende Konsequenzen als diejenigen, welche in ihrer expliziten Darlegung ohne weiteres sichtbar sind. Was als bloßes Nebeneinander zweier Arten der Gattung Substanz erscheint, ist in Wahrheit eine Gegenüberstellung zweier verschiedener Zugangsweisen zum Substanzthema, mit grund. sätzlich verschiedenartigen Problem bezügen, auch wohl historisch ver. schiedenen Reflexionsstufen zuzuordnen. Mit der Konzeption des anityadrarya bzw. avayavin halten Probleme und Gesichtspunkte Einzug, die dem ursprünglich naturphilosophischen Rahmen des Vaiseșika fremd und in ihm nicht zu bewältigen sind: Die vergänglichen Substanzen sind nicht kosmische Grundbausteine, theoretisch-reduktiv postulierte Elemente und Materialursachen, sondern konkrete, numerisch identifizier. bare Dinge unserer empirischen und praktischen Welt, Zuhandenes, mit dem wir tatsächlich zu tun haben 15, dem die Worte unserer alltäglichen Sprache entsprechen, und das insofern in ganz anderer Weise in den Kon. text sprach- und erkenntnistheoretischer Uberlegungen einzutreten vermag. Und diese konkreten Dinge fügen sich ja offenbar keineswegs dem Anspruch umfassenden Aufzählens, wie wir ihn im ursprünglich kosmologisch-naturphilosophischen Zugang zum Substanzthema fanden; sie sind vielmehr nur von Fall zu Fall exemplifizierbar und können den ewigen Substanzen nur aufgrund einer im folgenden näher zu kennzeichnenden funktionalen Analogie an die Seite gestellt werden. – Das gleich. wohl auch in der Auslegung der unter dem Titel „vergängliche Substan
11 Vgl. NS II a 30ff; IV b 3; 7ff.; PB 21. - Hier ist daran zu erinnern, daß nach der umstrittenen Lehre des Vaiseşika der avayavin nicht einfach ein Aggregat seiner Teile ist, sondern seinen Materialursachen als etwas Zusätz. liches, als in ihnen nicht enthaltene Wirkung hinzugefügt wird. Obwohl durch Teile verursacht, ist der avayavin als solcher teillos; er hat seine eigene, in sich geschlossene Identität und Bestimmtheit, in welcher er entweder „ganza oder überhaupt nicht existiert; und genau genommen ist das Wort „ganz" (krtona) auf den avayavin als solchen überhaupt nicht anwendbar; vgl. NBh zu NS II a 33 (ND272-273).
1 Natürlich kann es in dem kosmologisch.naturphilosophischen Hori. sont des Vaisepika keinen Begriff des „Zuhandonen“ oder der Lebenswelt" geben; gleichwohl werden in diesem Rahmen Entitäten konzipiert, die in ihrer Funktion „lebensweltlich“ sind.
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zen" vorgeführten konkreten Dinge ein grundsätzlich kosmologisch-natur. philosophisches und enumeratives Realitätsverständnis verbindlich bleibt, führt, wie zu zeigen sein wird, zu einigen der notorischen Verstiegenheiten des Vaiseșika und zu symptomatischen Verständigungsschwierigkeiten zwischen diesem System und seinen Opponenten.
Alle Substanzen können im Verhältnis zu ihren Qualitäten als Träger, Substrate (āšraya) bestimmt werden, aber nicht allen kommt es zu, selbst ohne Substrat, „nicht-getragen“ zu sein; nur die ewigen Substanzen sind zugleich auch substratloslo und insofern ohne (materiale) Ursache '7. Nur die teillosen Substanzen, die den teilbaren zugrunde liegen, sind Substrate in absolutem, in keiner Hinsicht eingeschränktem oder bedingtem Sinne. Sie sind die selbst nicht verursachten Ursachen und Substrate der „nicht-ewigen" empirischen Dinge, die ihrerseits Materialursachen und Substrate ihrer Qualitäten sind. Die teillosen Substanzen sind, als das Tragende und Beständige im Vergänglichen und Abhängigen, Substanzen schlechthin.
Die Frage nach dem Bestand im Werden, nach seiner letzten Materialursache, gehört in Indien wie im Westen bekanntlich zu den ältesten philosophischen Fragen; und das Substanzproblem in diesem kosmologischen Sinne ist nicht selten sogar als geschichtlicher Ausgangspunkt wissenschaftlich-philosophischen Denkens bezeichnet worden 18. - Schon Aristoteles sieht das Problem der Substanz (ouoia) als eigentliches Leitthema im kosmologisch-physikalischen Denken seiner vorsokratischen Vorgänger; zugleich weist er jedoch auf das grundsätzlich Andersartige seines eigenen Ansatzes hin und hebt hervor, daß der kosmologisch-physi. kalische Ansatz auf den Gesichtspunkt des stofflichen Substrats, der bloßen Unterlage" (Únoxcluevov) beschränkt bleibt und weder zum Begriff der Substanz als konkretes Ding (TÓSE TI) noch zu einer Unterschei. dung von „Bodeutungen des Seins“ und damit zu einer kategorialen Be. stimmung des Verhältnisses von Substanz und Qualität gelangt.
Auch in der indischen Tradition ist, wie schon bemerkt, das Substanzthema ein in seinen Ursprüngen kosmologisches Thema; und in kos mologischem Kontext wird auch die Konzeption der Qualität" (una)
10 Vgl. PB 21: andsritatvanityatve ca-anyatra-avayavidnavyobhyan. 17 Vgl. PB.17: karyatvdnityatve karanavatam eva.
16 Z.B.E. CASSIRER, Substanzbegriff und Funktionsbegriff (Berlin 1910) 200: „Der logische Gedanke der Substanz steht an der Spitze der wissenschaftlichen Weltbetrachtung überhaupt; er ist es, der geschichtlich die Grensncheide zwischen Forschung und Mythos vollzieht.“
10 Vgl. 2. B. Metaphysik 992 b 18 ff. (zum Ungenügon des Bogriffs des Elemento", GrouxeTov).
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vorbereitet 80: In frühen kosmologischen und naturphilosophischen Tex. ten, vor allem in den philosophischen Partien des Mahabharata, begegnen wir nicht nur dem Terminus guna, sondern auch bereits zahlreichen spezifischen Beispielen dessen, was im klassischen Vaisegika unter diesem Titel präsentiert und diskutiert wird, insbesondere den fünf Sinneg- und Elementqualitäten 21 Farbe, Geschmack, Geruch, Gefühl (d. h. taktile Beschaffenheit) und Ton (rūpa, rasa, gandha, sparsa, tabda). Jedoch erscheinen diese auch als visesa bezeichneten gunas hier nicht als kategorial verstandene, von den Substanzen in ihrem Seinssinn verschiedene Beschaffenheiten. Sie sind vielmehr spezifische Produkte, gleichsam Absonderungen, der fünf Elemente Feuer, Wasser, Erde, Luft und Ather, und sie werden diesen im kosmologischen Evolutionsmodell als ein weiteres Evolutionsprodukt hinzugefügt; in diesem Zusammenhang geht es überhaupt nicht um kategoriale Fragen oder um Prädikationsprobleme, sondern um die kosmologische Aufreihung verschiedener Stufen im Evolutionsprozeß. - Zu erinnern ist bei dieser Gelegenheit auch an den Be. griff der „inneren Differenzierung“ (vikära, pariņāma u. dgl.), in dessen Nähe guna oft zu finden ist, sowie an den bekannten kosmologischen und „nicht-kategorialen" Gebrauch von guna im Samkhya.
Vom Vaibenika dürfen wir sagen, daß es nicht nur in grundsätzlichom und allgemeinem Sinne von kosmologisch-naturphilosophischer Herkunft ist; es steht auch in manchen Einzelheiten seiner Substanzlehre auf demselben Boden wie die epische Naturphilosophie. Ebenso deutlich ist es auf der anderen Seite, daß dieses System in seiner weiteren Ent. wicklung den naturphilosophisch-kosmologischen, von hylozoistischen
* Bei aller grundsätzlichen Wichtigkeit grammatischer Begriffsbildung für die Gestaltung der Kategorienlehre kann doch keine Rede davon sein, daß, wie H. von GLASENAPP (Die Philosophie der Inder, Stuttgart 1949, S. 62) meint, „die ontologische Unterscheidung von Dingen, Eigenschaften und Handlungen" überhaupt erst durch die Klassifikation von Worten, wie wir sie bei Patanjali finden, angebahnt worden sei. Andererseits dürfen wir kaum mit K. A. SUBRAMANIA IYER (The Conception of guns among the Vaiyyåkare. nas, New Indian Antiquary 5, 1942/43, 121-130) annehmen, daß etwa schon Panini selbst auf die fortig entwickelten Vaiseşika-Kategorien dravya und guna habe zurückgreifen können. Eindeutige und einseitige Abhängigkeitsverhältnisse lassen sich hier nicht konstruieren.
u Vgl. z. B. Mahabhårata (krit. Ausgabe) XII, 224, 35ff.; 225, 1 ff.; 177, 26 ff. - Zum Verhältnis dieser und ähnlicher Lehren zum klassischen Sam. khya vgl. 0. STRAUSS, Zur Geschichte des Samkhya, WZKM 27 (1913) 257-275.
* Z. B. Bhagavadgita XIII, 19; zuweilen werden die Evoluto der prakti (mahat, ahamidina usw.) selbst ausdrücklich als guna bezeichnet (z. B. Anugta 50, 33ff.).
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Grundgedanken geprägten Rahmen sprengt ». Statt einer im wesentlichen reduktiven, die empirische Welt zu ihren irreduziblen Gründen zurück. verfolgenden und insofern „übersehenden" Einstellung haben wir nun eine entschiedene Zuwendung zu den empirischen Dingen selbst, wie wir sie im alltäglichen Umgang (ryarahāra) als Korrelate unserer Worte und Gedanken und nicht zuletzt auch unserer praktischen Aktionen kennen. Die Dinge selbst werden hier nicht mehr einfach durch Zurückführung auf etwas anderes, ihnen Zugrundeliegendes ,,erklärt"; sie wer. den vielmehr (im Begriffe des avayavin hypostasiert) selbst zum Thema gestellt, und wie es scheint, wird auch der Dingbegriff selbst Gegenstand kategorialer Analyse 25. Gleichwohl ist der Schritt von der Naturphilosophie zur Kategorienlehre kein wirklich radikaler, jedenfalls kein im Bewußtsein einer radikalen Neuorientierung explizit vollzogener. Entwicklungen finden statt, aber sie bleiben ineinander verschränkt; Neues wird nicht aus dem Kontext des Alten gelöst. Die ,,Kategorienlehre" des Vaiseșika wird von ihrer kosmologischen Vorgeschichte keineswegs in dem Sinne abgehoben, in dem etwa Aristoteles seine Ontologie von der Naturphilosophie der Vorsokratiker abhebt. Auch als Kategorienlehre bleibt das Vaibesika sozusagen hybride Naturphilosophie.
Dieser historisch-systematische Tatbestand ist auch für die Interpretation des Verhältnisses von dravya und guņa zu berücksichtigen. Im hartnäckigen Festhalten an der Abtrennung und Nebenordnung beider, die dem Vaiseșika im logisch-erkenntnistheoretischen Zeitalter so sehr zu schaffen macht, ist eine ursprüngliche und fortdauernde kosmologische Orientierung deutlich. Das Verhältnis bleibt ja stets eines der materialen Kausalität; die Qualitäten hängen von den Substanzen ab, werden geradezu von ihnen hervorgebracht, analog der Weise, in der die empi. rischen Dinge von den elementaren Weltbausteinen hervorgebracht werden. Die quasi-physikalischen Implikationen des Verhältnisses von drarya und guna sind besonders deutlich in der allerdings offenkundig sekundären und scholastischen Lehre, nach der der avayavin seine Qualitäten erst nach seiner eigenen Entstehung hervorbringen kann, folglich im ersten Augenblick seiner Existenz ohne Qualitäten sein muß.
- Der Gedanke bloß potentiellen, in sich unbestimmten, zur Manifestation aktueller Entitäten befähigten Seins wird im Vaiseşiks bekanntlich mit Nachdruck zurückgewiesen.
* Entgegen einer oft zu findenden, geschichtlich naiven Voraussetzung dürfen wir für das frühe Denken keineswegs einen ,,Ding"-Begriff annehmen. - Die erwähnte ,reduktive" Einstellung läßt sich schon in Chandogy.-Upe. nişad VI beobachten.
* Vgl. die oben, Anm. 3, genannten Stellen.
» Eine klare Formulierung dieser Lehre kann ich in PB nicht finden; sie wird jedoch offenbar in V9: VII, 1, 12 (fehlt in Vsi!) vorausgesetst: agung.
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Was im Vaibesika Unterscheidung des dinghaft Seienden von in an. derem Sinne „Seienden“ zu sein scheint und in gewissem Maße auch ist, führt insofern zugleich auch zu neuen Verdinglichungen. Und wir dürfen sagen, daß das Vaibesika in der Weise, in der es die Qualitäten den ,ding. haften" Substanzen hinzufügt und kausal und anderweitig zu- und nebenordnet, einem grundsätzlich kosmologisch-naturphilosophischen Seinsverständnis verbunden bleibt. .
III.
Zur näheren Kennzeichnung dessen, was allen Substanzen, den zu. vor aufgezählten ewigen Weltbausteinen wie auch den vergänglichen em. pirischen Dingen, gemeinsam ist, präsentiert Prasastapāda — in systematisierender Zusammenfassung von Angaben, die sich weitgehend schon im Text der Sūtren finden 7 – eine als Definition dienende Auf. zählung gemeinsamer Attribute (sädharmya):
1. draryatvayoga, „Verbindung mit (dem Universale) Substanztum", d. h. das gemeinsame Vorliegen der generischen Bedingung für die An. wendung des Wortes dravya und für die Identifizierung aller Substanzen als Substanzen. — Es ist, in einem Sinne, der in seinen Konsequenzen noch zu verfolgen sein wird, kein bloßer Zufall, daß dravyatvayoga, nicht einfach draryatva, als Gemeinsames aller Substanzen (dravya) genannt wird: Prasastapāda präsentiert und klassifiziert abstrakte untrennbare Attribute (dharma) der kategorialen Weltfaktoren (padārtha); dravyetvs wäre jedoch, als sāmānya, selbst ein padārtha, ein „trennbarer" Weltfaktor und auf der gegenwärtigen, nicht-hypostasierenden Ebene der Analyse und Abstraktion nicht am Platze; diese Ebene ist von der viel stärker realistisch-hypostasierenden Ebene, auf der die „Kategorien", als trennbare Weltfaktoren, präsentiert werden, wohl zu unterscheiden.
vato draryasya gundrambhal karmagund agunan. Auch erscheint sie relativ früh schon in der Kritik der Gegner (z. B. Yuktidipik&, ed. R. C. PANDEYA, Delhi usw. 1976, 51, mit Bezug auf die zitiorte Stelle). - Später muß die Lehro gegenüber dem Einwand verteidigt werden, sie sei mit der Bestimmung der Substanz als gunavaut bzw. gundóraya nicht zu vereinbaren; vgl. Vallabha, Xyâyalilâvati, ed. HARIHARA SĀSTRI/DHUNDHIRAJA SASTRI (Benares 19271934; Chowkhamba Sanskrit Ser.) 752 ff. - Zu erinnern ist hier auch an das Entstehen" von Qualitäten wie Zahl (samkchyd) unter dem Einfluß der apekpdbuddhi.
1 PB 20; zu vergleichen ist vor allem VS: I, 1, 8ff. (V9 I, 1, 9ff.).
Vgl. W. HALBTASS, Conoeptualizations of 'Being in Classical Vaibegika, WZKS 19 (1975) 183–198.
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2. svātmany arambhakatva, d. h. das Vermögen, „in sich selbst“ zum Ausgangspunkt von Produkten zu werden, und das bedeutet, Wirkungen hervorzubringen, die in der Substanz inhärieren.
3. gunavattva, d. h. die allen Substanzen gemeinsame Bedingung, Befindlichkeit, etwas zu sein, das Eigenschaften, Qualitäten „hat" (in einem Sinne von ,,haben“, der alsbald näher zu erörtern sein wird).
4. kāryakäranăvirodhitva, d. h. die Tatsache, daß Substanzen mit ihren eigenen Wirkungen bzw. Ursachen nicht in Konflikt geraten, daß in ihrem Falle Materialursachen und materiale Wirkungen koexistieren können.
Als fünftes gemeinsames Charakteristikum wird antyavisesavattva, das ,,Haben von letzten Besonderheiten“, genannt; dies kann sich jedoch nur auf die ewigen Substanzen beziehen und ist somit nicht auf eine Stufe zu stellen mit den vorgenannten vier Charakteristika, die allen Substanzen gemeinsam sind. Sachlich gehört es offensichtlich mit der folgenden Feststellung - anäsritatvanityatve ca-anyatra-avayavidravyebhyaḥ - enger zusammen.
Zu erinnern ist ferner daran, daß Prasastapäda eine Reihe von abstrakten Attributen (dharma) aufzählt, die neben den Substanzen auch allen anderen Weltfaktoren (padārtha) gemeinsam sind — beginnend mit den drei umfassendsten Gemeinsamkeiten „Ist-heit“ (d. h. ontologische Bestimmtheit), Erkennbarkeit, Benennbarkeit (astitva, jñeyatva, abhi. dheyatıa).
Für unsere folgenden, vor allem dem Verhältnis von dravya und guna gewidmeten Erörterungen steht die Bestimmung gunavattva im Mittelpunkt. Was wir zum ersten gemeinsamen abstrakten Attribut aller Substanzen, dravyatvayoga, bemerkten, ist in analoger Weise auch hier zu beachten: gunarattva darf nicht einfach mit guna gleichgesetzt wer. den *; denn das würde zu einer Konfusion der beiden erwähnten, von Prasastapada zwar nicht wirklich thematisierten, de facto gleichwohl sorgfältig geschiedenen Ebenen der Analyse führen. Die Qualitäten (guna) selbst sind; als padārtha, ontologisch unterschiedene Faktoren, Konstituentien der wirklichen Welt, die den Substanzen (dravya) hinzugefügt, als Entitäten und Bestimmungsträger (dharmin) eigenen Rechts an die Seite gestellt werden. Was den Substanzen dergestalt als etwas Zusätzliches hinzugefügt wird, kann offenkundig nicht in dem Sinne zu ihrem eigenen Sein und Wesen gehören, daß es in einer definitorischen Aufzählung von gemeinsamen Attributen fungieren könnte, die ja eben dazu
>> Vgl. hierzu NK 21.
PB 16.
aloo hier
* Man darf also hier keineswegs nach dem später formulierten Sats taduattvarp tot verfahren.
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dient, die Substanzen gegenüber den Qualitäten und allen anderen „usätzlichen" Weltfaktoren abzugrenzen. Was den Substanzen in ihrem Substanzsein gemeinsam ist, ist die Tatsache, daß sie Qualitäten „haben“; dies ist eines ihrer gemeinsamen abstrakten Attribute (sādharmya), das ihrem Eigenwesen nicht, wie die Qualitäten selbst, als etwas Zusätzliches hinzugefügt und das somit auch nicht von ihnen abgezogen werden kann. — Entsprechend wird auch in den Abschnitten des Padártha dharmasamgraha, die die neun Substanzen bzw. bestimmte Substanzengruppen im einzelnen definieren und charakterisieren, auf das jeweilige „Haben" von, Bezogensein auf bestimmte Qualitäten verwiesen (in der Regel durch das Affix -vat), ohne daß damit die Qualitäten in das eigene Sein der Substanzen hineingenommen würden.
Die Substanzen sind durch ihre Eigenschaften bestimmt und doch zugleich von ihnen verschieden. Daß eine Substanz Eigenschaften hat“, fällt nicht mit diesen Eigenschaften selbst zusammen; Eigenschaften zu haben, gehört zum eigenen Sein der Substanzen; die Eigenschaften, Qualitäten behalten gleichwohl ihr eigenes Sein - Sein sowohl im Sinne des umfassendsten abstrakten Attributs astitva wie auch im Sinne des höchsten Universale sattā. Das in der Substanz als ihr untrennbarer dharma liegende Bestimmtsein durch Qualitäten erscheint insofern von diesen getrennt, und es kommt zu einer eigentümlichen Doppelbödigkeit des Verhältnisses von Bestimmungsträger und Bestimmung, zu seiner Verteilung auf die beiden genannten Ebenen der Analyse. - Die Schwierigkeiten des Verhältnisses von Substanz und Qualität, von „Sein" und „Haben“ sind dadurch offenbar nicht gelöst; sie sind nicht einmal wirk. lich zum Thema gestellt: Sie sind lediglich durch einen impliziten semantic ascent umgangen.
Es ist deutlich, daß Prasastapādas Verfahrensweise mit der histo rischen Situation seines Philosophierens zusammenhängt und auf einer eigentümlichen Verschränkung zweier verschiedener Reflexionsstufen und Orientierungsweisen beruht. Einerseits vertritt Prasastapāda ein unmittelbar weltorientiertes kosmologisch-naturphilosophisches Erbe, andererseits fersucht er sich einzustellen auf eine funktional-begriff liche, nicht hypostasierende Denkweise, wie sie vor allem in der gram. matisch-sprachphilosophischen Tradition entwickelt worden ist und, in anderer Blickrichtung, die Polemik der Buddhisten beherrscht. Entsprechend erscheint die Substanz (dravya) als Bestimmungsträger in zweierlei Sinn und Kontext:
* Vgl. PB 24ff. u S. o., Anm. 28.
Nach W. V. QUINE, Word and Object (Cambridge, Mass. 1960) 270ff.
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1. Substanz als ,,Träger" in kosmologisch-naturphilosophischem Sinne (āšraya), als „Ursache“ ihrer Qualitäten, als Substrat and ontologisch trennbarer ,,Inhaber" zusätzlicher Entitäten.
2. Substanz als ,,Träger" in bloß funktionalem Sinne (dharmin), als logisches Subjekt ihres eigenen, von ihr selbst nicht trennbaren Bestimmtseins. (In diesem Sinne sind auch die gunas und übrigen „Kategorien“ Bestimmungsträger, dharmin; in der Philosophie der Grammatik, zumal bei Bhartphari 37, wird der Terminus drarya selbst in dieser offenen Bedeutung gebraucht.)
Als asraya liegt die Substanz den übrigen Kategorien (kosmologisch) zugrunde; als dharmin ist sie ihnen (logisch-ontologisch) nebengeordnet: So ergibt sich das Paradox, daß sie ihre Bestimmungen als etwas außer ihr Seiendes hat und gleichzeitig auch ohne" sie bestimmt ist. Dieses durch die Verteilung auf zwei Ebenen des Bestimmtseins scheinbar um. gangene Paradox reflektiert, wie gesagt, eine durch Prasastapādas historische Situation gegebene philosophische Aufgabenstellung: Etablierte, d. h. von einer ursprünglich naturphilosophischen Tradition akzeptierte Qualitäten usw. sollen als Entitäten eigenen Rechts, als kosmologische Faktoren bewahrt und im Kontext logisch-funktionaler Argumentation verteidigt werden. Die naheliegende (wenn auch von Prasastapada viel weniger als von anderen genutzte) Möglichkeit, die Trennbarkeit der Bestimmungen durch Hinweis auf sprachliche Sachverhalte (Subjekt. Prädikat-Struktur, Possessivkonstruktionen usw.) zu stützen", erweist sich dabei zugleich als große Gefahr, indem sie die naturphilosophisch. „kategoriale" Klassifikation verschiedener Entitäten auf die Ebene allgemeiner Prädikationsproblematik (und ins offene Feld der mit dem Terminus riseşanaviseşyabhāva bezeichneten Bezüge) projiziert und einem potentiell uferlosen Reflexionsprozeß aussetzt. Hier gilt es, Grenzen zu ziehen, die Hypostasierung beliebiger Prädikate, die Abtrennung beliebiger Bestimmungen auszuschalten, welche zur Fatalität des regressus in indefinitum (anavasthā) und zur Unbestimmbarkeit des Bestimmungsträgers als solchen führen würde %0.
* Vgl. Anm. 21 und 26.
» Zur funktionalen Bestimmung von dravya bei Bharthari vgl. K. A. SUBRAMANIA IYER, Bhartshari (Poona 1969) 78 ff.; 262 ff.
• Dieses Verfahrens bedient sich u. a. Uddyotakara, NV 79ff. (zu NS I a 14; = NV: 421f.); zur Kritik vgl. z. B. Yuktidipikå, ed. R. C. PANDEYA (Delhi usw. 1967) 62; sowie TS, v. 570: papfivacanabhedadi vioakpamatresambhavi ...
* Es ist hier zu betonen, daß die Unterscheidung von dharma und guna nicht als Versuch zu verstehen ist, das Wesen eines Dingos von seinen akzi. dentiellen Attributen zu unterscheiden und auf diese Weise die Substans
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IV.
Die Spannungen und Probleme, die in Prasastapādas Konstruktion eher verdeckt als gelöst sind, werden von den Kritikern des Systems. ror allem von den Buddhisten, deutlich ins Licht gerückt, und in ihrer Er. widerungen sind die Vaišeşika-Kommentatoren ihrerseits genötigt, offener und entschiedener dazu Stellung zu nehmen. - Es ist vor allem die logisch-erkenntnis huretische Ebene, auf der die Buddhisten den Begriff der Substanz bekiranfen; und in seiner Verteidigung lassen sich auch die Autoren des Nyáv> und des Vaiseșika immer nachdrücklicher auf diese Coene der Argumentation ein.
Dr (edsake, daß die Erkenntnis, speziell die Wahrnehmung des Die
Dinges die Erkenntnis seiner Bestimmungen voraussetze, ben is Vaišeşika eine alte Tradition zu haben und liegt jedenfalls dem ahostagstheoretischen Abschnitt im 8. Adhyāya des Vaišeşikasitz. razrunde 4. Ob und in welchem Sinne Bestimmungen und Bestim. Tosiräger als tatsächlich trennbare Wahrnehmungsdaten aufgefaßt
erdia guht aus diesem Abschnitt jedoch nicht hervor, und die Frage, i wie reit die Substanz als solche und ohne" ihre Qualitäteni usw fabbar werde, wird offenbar nicht gestellt. Eine Substanz wird , im Fairclick auf“ (apekşam) ihre Bestimmungen, als durch sie qualifiziert, spezizir-rt wahrgenommen, und die Bestimraungen erweisen sich dabei als Derim. mungen der Substanz. Insofern wir Weißheit bzw. weiße Farbe geben, sehen wir auch eic weißes Ding Farbe (rūpa) ist Becingung des Sehens der Substanz", die in ofern zwar in ihrer Substantis sät, jud ch stets auch in ihrer Farbik als arch ihre Farbe qualifizierta, ia die Wahr. nehmung eintit:... "232 ch, Lier ein gleichsam pur substanzdatum
selbst“, als dur . **Akonstituiert, von dem zu nen, ku irgendwie sonst hinzom"
kuinen Begriff der „substacuice on im Vaigesika Prasa
Aber auch e. 2. Anata: zur grundsätzlichen Fisge der Trennung und Sebenordnung e n sen und übrigen Kategori vgt. Skara zu Brahmasūtra II, 27.
4 VS 1,2 VIII. 1,4 : comayeviási prekum dravyaguna armast; 7: drarye draryagunakurr dot - NK :99: vibesyajñanam hi vif sonundnasya phalam, vitevar,
1
an phalam.... Vgl. ferna: VS. II, 2, 19 sowie dazu D. 0.2 .2 Ind. and Buddh. 8t 23/2 (1975), 96-104. . 4 Vgl. VS. ..) . Avuitydc chvaityabrdr. #cete bud. dhis te karya! + VSV,
la rattvad rūpdc ca-upokalda. Es ist hier dare
19Folts dorer sinnlicher Qualitäten, Ceruch usw., de
3 5 let" nicht wahrnehmbar, sondern nur er. uchlieb W
tihl (epart) allein führt nicht zur Substanz als
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zu isolieren oder den bloßen Bestimmungsträger als Gegenstand eines separaten Wahrnehmungsaktes zu erweisen, wird nicht unternommen.
Auch bei Prasastapāda finden wir in dieser Hinsicht keine wirklich explizite und eindeutig festlegbare Stellungnahme. Zwar scheint seine Bemerkung, daß es im Falle der Substanz (natürlich als arayarin) eine „bloße Anschauung des Eigenwesens“ (svarūpālocanamätra) gebe", anzudeuten, daß er innerhalb der Dingwahrnehmung bzw. als eine ihrer Phasen ein Erfassen der bloßen Substanz als solcher annimmt. Jedoch über den genaueren Sinn der „Anschauung des Eigenwesens“, über den tatsächlichen Inhalt und die mögliche Trennbarkeit des als ,,bloße Substanz", als Bestimmungsträger Erfaßten wird nichts gesagt. Sicherlich dürfen wir kaum annehmen, daß der sorgfältige Systematiker Prasastapåda, nachdem er im Einklang mit Vaibeşikasūtra IV, 1, 6 die Qualität Farbe (rupa) als Bedingung des Sehens von Substanzen herausgestellt hat, im selben Atemzug ein Gegebensein der Substanz auch ohne diese seine Bedingung behaupten wolle“.
Prasastapādas Lehre von der Substanzwahrnehmung, soweit sie uns im Padārthadharmasamgraha zugänglich ist, bleibt im übrigen auch in. sofern ambivalent, als sie die kausale Erklärung des Wahrnehmungsvorgangs und die immanente Deskription und Analyse der Wahrnehmungsinhalte, also „äußere" Bedingungen und innere" Gegebenheiten, nicht klar auseinanderhält. In einigen Kommentaren und anderen zugehörigen Texten tritt die Problem verschlingung freilich schärfer und folgenreicher hervor als bei Prasastapāda se!bst“. – Hinsichtlich der Rolle von rupa läßt sich die Doppeldeutigkeit folgendermaßen formulieren: Einerseits scheint es darum zu gehen, das dann, wenn man überhaupt ein Ding sieht, stets auch Farbe als Wahrnehmungsinhalt gegenwärtig sein müsse, an.
solcher; vgl. VS. IV, 1, 8: rūpamamskarabhavad vayāv anupalabdhih; zum Pro. blem der Erschließung des Windes II, 1, 8 ff. Nur im Falle solcher Dinge, die auch sichtbar sind, kann von einem Fühlen der „Substanz selbst" die Rede. sein. Vgl. aber Vy. 270 ff., bes. 273.
44 Vgl. PB 186—188. - Ich kann mich in diesem Zusammenhang kurz fassen, da Prasastap&das Wahrnehmungslehre in jüngster Zeit mehrfach diskutiert worden ist; vgl. M. HATTORI, Two Types of Non-Qualificative Perception. Beiträge zur Geistesgeschichte Indiens, Festschr. E. Frauwellner (=WZKS 12/13, 1968/69) 161-169; dazu L. SCHMITHAUSEN, Zur Lehre von der vorstellungsfreien Wahrnehmung bei Prasastapăda, WZKS 14 (1970) 125-129.
u Es dürfte ein Gebot der Vorsicht sein, Prasastapadas Darstellung nicht ohne weiteres durch die im folgenden noch zu diskutierenden (8. u., Abschnitt VI) Argumente Aviddhakarnas und anderer zu erläutern.
Wir dürfen natürlich nicht vergessen, daß es im realistischen Kontext des Systems keinen Begriff der Bewußtseinsimmanenz und kein wirkliches Problem des Übergangs zu „extramentalen" Bewußtseinskorrelaten gibt.
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dererseits darum, daß der Wahrnehmungsvorgang nicht stattfinden könne, wenn Farbe nicht als Faktor in dem ihn verursachenden Kausalkomplex vorkomme7Diese Doppeldeutigkeit wird keinesfalls dadurch ausgeräumt, daß Prasastapāda durchaus sorgfältig zwischen Erkenntnis. mittel (pramāna) und resultierender Erkenntnis (pramiti) unterschei. det " -- Allgemein ist bei dieser Gelegenheit daran zu erinnern, daß es im älteren Nyāya und Vaiseșika überhaupt nicht zu einer deutlichen Unterscheidung zwischen auslösenden Faktoren und tatsächlich aufweisbaren Daten des Erkennens kommt; erst die erkenntniskritische, am „Gegebenen" orientierte Argumentationsweise der Buddhisten zwingt dazu, diesen Unterschied ernster zu nehmen.
Was nun die ,,bloße Anschauung des Eigenwesens“ (svarūpālocanamätra) der Substanz selbst angeht, so scheint es zwar, daß Prasasta påda sie als ein bewußtseinsinhaltlich fabbares Resultat derjenigen kausalen Faktoren versteht, die den Wahrnehmungsvorgang herbeiführen. Jedoch was da vorgeblich angeschaut wird, wird weder in seinem Inhalt noch in seiner Funktion näher bestimmt. - Schon der Ausdruck svari. pālocana legt die Assoziation mit bestimmten und ihrerseits bestimmenden Inhalten nahe, und in der Tat hat der Terminus bei Prasastapāda seine genuine Funktion in der Anwendung auf sämänyavisesa, als Bestimmungen (riseşana) von Bestimmungsträgern. Diese Anschauung von Be. stimmungen ist es, die in der Wahrnehumng des bestimmten Gegenstan. des, des durch seine Bestimmungen bestimmten dravya usw. resultiert . Diese „resultierende Erkenntnis“ (pramiti) des bestimmten, d. h. als Träger seiner Bestimmungen erfaßten dravya kann und soll offenbar nicht dieselbe sein wie das zuvor erwähnte svarūpalocanamátra; im Gegenstandsbezug beider kann gleichwohl kein Unterschied bestehen 61.
Die ,,bloße Anschauung“ der Substanz selbst ist nur unzureichend in den Kontext integriert; sie bleibt inhaltlich unbestimmt und ist de facto
• Vgl. PB 186: ... udbhūtarūpaprakasacatupayasannikarpád dharmd. disamagrye ca...
4 PB 187; vgl. auch Vyomasivas Unterscheidung von alocana und alo. citi, Vy. 560—561.
** Vgl. den oben, Anm. 44, genannten Aufsatz von L. SCHMITHAUSEN.
* Vgl. PB 187: tatra sämänyavisesepu svarūpälocanamatram pratyakşam pramānam, prameya dravyddayah padarthaḥ, pramäld-atmd, pramitir dravyddiri ayam jñanam sämányavićepajňanot pattdv aribhaktam alocanamätram pratyakşam pramånam, asmin na-anyat pramaņāntaram asti, aphalarūpalvdt.
1 Zur Entwicklung der hier relevanten wahrnehmungstheoretischen Problematik von „vorstellungsfreier“ bzw. „nicht-prädikativer" (nirvikal. paka) und „vorstellender“, „prädikativer" (aavikalpaka) Wahrnehmung vgl. B. GUPTA, Die Wahrnehmungslehre in der Nyāyamaðjari (Bonn 1963), 69ff.; 97ff.
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kaum zu trennen von dem, was als einer ihrer auslösenden Faktoren gilt - dem Kontakt (samnikarsa) mit dem Gegenstand, der selbst noch nicht als inhaltliches Gewahrwerden zu verstehen ist 62. Auf der anderen Seite ist es schwer, diesen samnikarsa von dem avibhaktam ālocanamätram zu trennen 5s, das gegen Ende des wahrnehmungstheoretischen Abschnitts als Mittel für die Erkenntnis des als Bestimmung (višeşana) fungierenden sāmányaviseșa präsentiert wird. Dies jedenfalls ist Sridharas Ausweg: Das avibhaktam alocanamätram wird mit dem ,,Kontakt“ zwischen Gegenstand und Organ der Erkenntnis ohne weiteres identifiziert. Mag dies auch nicht als authentische Interpretation Prasastapādas gelten dürfen, so ist es doch eine aufschlußreiche Weiterführung und steht jedenfalls nicht im Widerspruch zu Prasastapādas Außerungen 54.
Der von Prasastapāda und Sridhara verwendete Begriff des samnikarşa geht in seinen Ursprüngen offenbar auf eine Zeit zurück, die der Zerlegung der Welt und der Dinge in „Kategorien" und einer entsprechenden thematischen Behandlung des Problems der Bestimmtheit vorausliegt: Der samnikarsa ist deshalb zunächst im Sinne eines Kontaktes mit ohne weiteres vorausgesetzten konkret-bestimmten „ganzen“ Dingen zu verstehen. Nach Einführung der Kategorienlehre jedoch wird diesem einfachen Denkmodell der Begriff des dravya als Substrat und Bestim. mungsträger unterlegt, und als unmittelbares Korrelat des Kontaktes gilt nunmehr die „bloße Substanz", der āśraya 55. Hier schließt sich die scholastische und in ihrem starren Schematismus leicht durchschaubare Lehre an, derzufolge die Wahrnehmung der Substanz durch einfache „Verbindung" (samyoga) geschieht, die der Qualität durch „Inhärenz im Verbundenen“ (samyuktasamavāya), usw. 56. Der samnikarza wird also den Kategorien gemäß aufgefächert; dabei erweist sich jedoch, daß das vordem selbstverständliche Korrelat der „einfachen“ Verbindung, drapya, in erkenntnistheoretischer Hinsicht höchst problematisch ist und sich inhaltlich nicht fixieren läßt. - Zunächst hatte man wohl gemeint, die
:51 Den Ausdruck alocañamdıra verwendet auch SamkhyakÄrika, v. 28; die Yuktidipikå paraphrasiert grahaņa. - Daß das ,,vorstellungsfreie“ (nirvikalpaka) Wahrnehmen nicht einfach in unserem Wahrnehmungsbewußtsein feststellbar, sondern statt dessen nur erschließbar sei, wird von mehreren Autoren eingeräumt; vgl. z. B. Vy. 557: sadbhave (sc. nirvikalpakajňdnasya) kir pramanam ! savikalpakajñanot pattir eva; vgl. auch B. GUPTA, &. a. 0. 736.
S. o., Anm. 60.
* Vgl. NK 198: alocyate 'nena-ity alocanam indriyarthasannikarpos lanmdiram, avibhaktam kevalam jñananapekpam iti yavat ...; 199: ato vibepanajñane indriyarthasannikarpamátram eva pramanam ity arthah.
* Vgl. PB 186: rūparasagandhasparsepu anekadravyasamardydd wagata vibeple sodérayasannikarpan niyatendriyanimittam utpadyate.
* Vgl. NK 195.
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„Substanz selbst“ lasse sich aus dem Bestimmtheitskomplex, der das konkrete Ding ist, ebenso herausschälen, wie sich — einem beliebten Bei. spiel zufolge – der Mann, der den Stock trägt, aus dem Bestimmtheitskomplex ,,Stockträger" (dandin) herauslösen läßt. Diese und andere Beispiele präsentieren den Bestimmungsträger als ein seinerseits durchaus bestimmtes Ding, dem weitere Bestimmungen hinzugefügt werden kön. nen und das von solchen Bestimmungen sozusagen eine zusätzliche ,,Fär. bung" empfangen kann 57. Daß der Begriff und die Wahrnehmbarkeit der „bloßen Substanz" als solcher auf diese Weise nicht zu erläutern und nicht zu verteidigen sind, wird in der Auseinandersetzung mit den Buddhisten jedoch alsbald deutlich.
Das svarūpālocanamätra der Substanz als solcher, das Prasastapada offenbar als erstes und unmittelbarstes Resultat des Kontaktes mit dem Gegenstand sowie der übrigen erforderlichen Kausalfaktoren postuliert, wird auch von seinen Kommentatoren nicht wirklich präzisiert oder er. läutert, mag es auch durch die mittlerweile voll entwickelte termino logische Unterscheidung von „prädikativer" (savikalpaka, oft mit ,,vor. stellend“ übersetzt) und „nicht-prädikativer“ (nirvikalpaka, „vorstel. lungsfrei“) Wahrnehmung paraphrasiert werden. Stattdessen nimmt man u. a. wiederum einen zumindest impliziten Bezug auf die Vorstellung des konkret-bestimmten „ganzen" Dinges, die inzwischen, vor allem durch Kumärila, begrifflich und thematisch etabliert worden ist und die als dasjenige verstanden werden kann, das im ,,bloßen Anschauen" zwar als Ganzes, jedoch vage und undifferenziert gegeben sei 54. Dabei kommt eino Ambivalenz in der Verwendung von visesana zustatten, das einerseits als zum Bestimmungsträger hinzutretende Bestimmung, andererseits als
57 Zu diesem Begriff der Färbung“ (anurdga u. dgl.) vgl. B. GUPTA a. a. 0. 69 ff.; bes. 98 ff., 115f.; den von GUPTA S. 69, Anm. 165 parallelisierten Stellen aus Jayanta und Dignåga wäre auch unsere Prasastapåda-Stelle (bes. 1861..) an die Seite zu stellen. Vgl. Vàoaspati zu NS I, 1, 4 (ND: 232): wabhavo hi dravyasya upddhibhir vibigyate, na tu-upädhayo ud tair vidippatvam od tasya rabhavah.
" Dies kommt, wenn auch wohl eher unabsichtlich, ins Spiel, wenn Sridhara bemerkt, der Gegenstand (artha), mit dem ja der Kontakt (samni. karpa) stattfindet, sei zwar stets ein bestimmter (visista), werde zunächst (prathamam) jedoch nicht als solcher erfaßt (NK 193—194). Im übrigen läuft auch die NK 189 gebotene Interpretation des svarūpalocanamdtra der Substanz darauf hinaus, daß es nicht um ein isolierbares Erfassen des Bestimmungsträgers, sondern um ein zunächst nicht differenzierendes Erfassen des konkreten Ding-Ganzen geht.
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innerhalb eines Ganzen stattfindende Differenzierung ausgelegt werden kann. Dies mag ein naheliegender Ausweg aus der von Prasastapāda hinterlassenen begrifflichen Situation sein; das von ihm postulierte Anschauen der Substanz rein als solcher wird dadurch jedoch nicht erklärt. Und für eine wirklich eindeutige und bewußtseinsinhaltlich faßbare Erklärung gibt Prasastapada, wie wir gesehen haben, ja auch keine Handhabe. Das svarupālocanamātra der Substanz als solcher ist und bleibt ein hypothetisch angenommenes Moment im Wahrnehmen, für das er in Passagen mit eher deskriptiv-psychologischem Charakter keinerlei Verwendung hat.
So kommt z. B. in Prasastapādas Beschreibung des vom „,unbestimmten Erfassen" (anadhyavasaya) zum ,,Feststellen" (adhyavasaya) führenden Prozesses der Erkenntnisbestimmung die,,Substanz selbst" überhaupt nicht vor. Auch in diesem Zusammenhang verwendet Prasastapāda den Ausdruck alocanamatra: In Hinsicht auf vertraute wie auch auf unbekannte Gegenstände gibt es ein,,unbestimmtes Erfassen", d. h. ein,,bloßes Anschauen", das sich in der Frage,,Was (ist das)?" äußert (kimityälocanamätra). Daran anschließend wird eine Reihe immer engerer Bestimmungsfaktoren aufgezählt, die vom höchsten Universale (sāmānya), Sein im allgemeinen (sattā), zum speziellen sāmānyaviśeṣa einer Baumspezies, nämlich panasatva, führt. Wir dürfen hier auch wiederum daran erinnern, daß Śridhara das „,ungesonderte bloße Anschauen" (avibhaktam alocanamātram), welches nach Prasastapāda als Mittel für das Erkennen des als Bestimmungsfaktor wirksamen sāmānyavišesa dient, als Kontakt (samnikarsa) zwischen Objekt und Organ interpretiert. Entsprechend legt er in demselben wahrnehmungstheoretischen Abschnitt dar, wie durch mehr oder weniger engen „Kontakt" mit dem Objekt (etwa beim Sehen aus der Ferne) jeweils engere oder weitere Universalien (sāmānya, sāmānyaviseṣa) als Erkenntnisinhalte ausgelöst" werden, wobei dem bloßen unspezifizierten Kontakt als solchem offenbar das höchste Universale Sein (satta) entspricht. Die,,Substanz selbst" als vorgeblicher Träger dieser Bestimmungen (visesana) kommt dabei als Erkenntnisinhalt überhaupt nicht ins Spiel.
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"Eine Ambivalenz, die sich offenbar in die genannte Stelle NK 193-194 eingeschlichen hat (... viseṣaṇādigrahaṇasya sahakāriņo 'bhāvāt ...).
"PB 182; zu adhyavasaya vgl. NS II a 1 ff.
Vgl. NK 189 (samanyam hi bahuvişayatvät sväérayasya cakşuḥsannikarşamåtreṇa-upalabhyate...) sowie die oben, Anm. 54, zitierte Stelle. - Wir dürfen hier-zur allgemeinen thematischen Orientierung und ohne Anspruch auf aktuelle Zusammenhänge - daran erinnern, wie etwa Mandana das Seiende rein als solches (sanmätra) als Objekt der vorstellungsfreien Wahrnehmung präsentiert und in dieser Funktion mit dem bloßen Ding als solchem (vastumátra) zusammenfallen läßt; vgl. Brahmasiddhi, ed. S. KUPPUSWAMI SASTRI (Madras 1937) 58; 71.
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In der Tat wäre es in Prasastapādas System ganz unzulässig, eine Erkenntnis dadurch als unbestimmt zu kennzeichnen, daß man ihr die „Substanz allein", d. h. den bloßen Bestimmungsträger, als Inhalt zu. weist. Die Substanz ist zwar, insofern sie Substrat (äsraya) von guna, sāmānya usw. ist, Bestimmungsträger; aber sie ist, entsprechend der oben (vgl. Abschnitt III) diskutierten „Doppelbödigkeit“ des Substanzbegriffs, deshalb doch keineswegs unbestimmt, und sie ist auch kein „bloßes Etwas" oder bare particular. Auch als ,,Substanz allein" ist sie ein dharmin, hat ein Bestimmtsein sui generis, welches freilich, als ihr Eigenwesen (svarūpa), von ihr selbst gänzlich untrennbar ist. In diesem Sinne müßte auch das svarūpålocanamätra der Substanz selbst, wie es sich vor dem Erfassen der übrigen, als prädikative Bestimmungen hinzu. tretenden Kategorien darstellt, bereits sein eigenes Bestimmtsein auf. weisen.
So sind wir wiederum angelangt bei dem, wie wir feststellten, durch die Verteilung auf zwei Ebenen des Bestimmtseins und durch einen semantic ascent scheinbar umgangenen Paradox, daß die Substanz „ihre Bestim. mungen als etwas außer ihr Seiendes hat und gleichzeitig auch ,ohne' sie bestimmt ist“es. -Auch für das Verständnis seiner wahrnehmungstheoretischen Rolle ist diese implizite ,,Doppelbödigkeit“ des Substangbegriffs zu berücksichtigen.
VI.
Was wir bei Prasastapāda nicht fanden, nämlich den Versuch, die ,,Substanz selbst" als besonderen, von den Qualitäten trennbaren und sogar ganz ohne sie fabbaren Wahrnehmungsinhalt deskriptiv und phänomenologisch aufzuweisen, finden wir bei einigen etwa derselben Periode angehörenden Naiyāyikas, namentlich bei Aviddhakarna, Bhåvivikta und Uddyotakara. Zum Abschluß unserer Erörterungen sei noch auf einige thematisch aufschlußreiche Gesichtspunkte ihrer z. T. nur aus der buddhistischen Polemik, bekannten Argumentation hingewiesen.
Zunächst Uddyotakara. Unter den Argumenten, mit denen er im Nyåyavärttika den Substanzbegriff gegen die Kritik der Buddhisten, zumal gegen die erkenntnistheoretische Reduktion der Substanz auf ihre wahrnehmbaren Qualitäten, verteidigt, findet sich auch das folgende Beispiel: Wenn ein Kristall sich in der Nähe eines dunkelfarbigen Gegen. standes befindet, dann sehen wir zwar den Kristall selbst, jedoch, inso
a Zu diesem Begriff vgl. Universals and Particulars, od. M. J. Loux (New York 1970) 235ff.
S. o., Abuchnitt III.
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fern er die dunkle Tönung des Gegenstandes übernimmt, ohne seine ihm eigene, nämlich helle Farbe". Später wird das Argument wiederholt und ein weiteres hinzugefügt: daß man in der Dämmerung Vögel im Fluge sehen könne, ohne daß man ihre Farbe sieht. Diese Argumente werden in Santarakṣitas Tattvasamgraha und im zugehörigen Kommentar von Kamalasila angeführt und widerlegt. Als weiteres im Nyaya verwendetes Argument wird u. a. das Beispiel eines in einem Harnisch stekkenden Mannes genannt, der, auch ohne daß man seine Farbe sehen könnte, als Mensch aufgefaßt wird. Die in diesem Zusammenhang namentlich genannten Nyaya-Autoren sind Uddyotakara und Bhāvi. vikta. In seinem Kommentar Vipañcitärtha zu Dharmakirtis Vāda. nyaya verweist Santarakṣita ferner auf Aviddhakarna und schreibt ihm die These zu, daß es insofern ein Erfassen der Substanz ohne ihre Farbe und sonstigen Qualitäten gebe, als ja bei schwacher Beleuchtung eine Substanz auch ohne Wahrnehmung ihrer Farbe usw. vage als Kuh oder Pferd wahrgenommen werde",
Über die Unzulänglichkeit dieser Argumente im Disput mit den buddhistischen Erkenntniskritikern ist kaum ein Wort zu verlieren. Vom Ding-Phänomen, vom in der Wahrnehmung Gegebenen ist (besonders deutlich im Kristall-Beispiel und im Beispiel des Mannes im Harnisch) überhaupt nicht die Rede; es geht lediglich darum, daß ein Ding auch ohne seine ihm normalerweise zukommende Farbe erscheinen kann. Nur, wenn man schon akzeptiert hat, daß es ein solches substantielles, physisch-objektiv vorhandenes Ding mit einer bestimmten ihm objektiv zugehörigen Farbe gibt, hat der Hinweis auf ein Sehen ohne diese seine Farbe Gewicht 68.
Was den Argumenten, in einem erkenntnisdeskriptiv nachvollziehbaren Sinne, offenbar zugrunde liegt, ist die Trennung zwischen der Gestalt und der Farbe usw. eines Dinges, also sozusagen die Trennung von primären“ und „,sekundären" Qualitäten. Die in der Wahrnehmung auch ohne,,ihre" Farbe usw. faßliche Gestalt wird als das Erscheinen der Sub
NV 421).
4 NV1 78f. (zu NS I a 14; 45 NV1 351 (zu NS III a 1).
"Vgl. TS, v. 556 ff.; v. 557: kañcukantargate pumei tadrupadyagatão api puruşapratyayo drsto...
7 Dharmakirti's Vadanyaya with the comm. of Santarakṣita, ed. R. SANKṚTYAYANA (Appendix to Journal of the Bihar and Orissa Res. Soc., vols. 21-22, 1935-1936) 35: aviddhakarnas tv äha rupadyagrahe 'pi dravyagrahanam asty eva, yato mandaprakase 'nupalabhyamānarüpädikam dravyam upa. labhyate 'niscitarupam gaur aśvo va-iti. S. u., Anm. 71.
"Im übrigen ist es ein naheliegender Einwand, wenn TS, v. 566 erklärt, daß die Erkenntnis des Mannes im Harnisch (s. o., Anm. 66) lediglich eine auf Schlußfolgerung beruhende (anumänika) sei.
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stanz selbst in Anspruch genommen. Eben dies ist einer der Punkte, an denen die buddhistische Kritik einsetzt: In unmittelbarem Anschluß an das Argument Aviddhakarnas bemerkt sāntarakṣita, daß auch in diesem Falle nichts als eine Gestalt (samsthānamätra) — also keinesfalls eine Substanz als solche — wahrgenommen werde. Ein entsprechender Einwand wird schon von Uddyotakara aufgenommen und diskutiert; er selbst und andere Autoren des Nyaya und Vaiseșika versuchen nachzu. weisen, daß eben dieser Begriff des samsthāna, sofern er überhaupt von dem der Farbe usw. unterschieden werde, über bloße Qualitäten hinaus und zur Substanz selbst führe. Und Vyomasiva, in offenkundigem Bezug auf Aviddhakarņas These oder ein ähnlich formuliertes Argument, bemerkt, daß bei sehr schwacher Beleuchtung der avayavin (und das ist ja derjenige Substanztypus, der empirisch zugänglich ist) als ,,bloße Gestalt“ (sansthanamätra) wahrgenommen werden. -- Auf die Gestalt bezieht sich u. a. auch Sridhara in seiner Verteidigung des Substanz begriffs: Eine Substanz ist deshalb anzunehmen, weil wir im Wahrnehmen von Fall zu Fall besondere, individuelle Gestalten erfassen; dies könnte durch Qualitäten wie Farbe usw., die ihrem Wesen nach ganz und gar ohne solche individuelle Besonderheit sind, nicht erklärt werden. Worum es hier geht, ist samsthāna als partikularisierender, individualisierender Faktor: Qualitäten rein als solche sind als Prinzipien der Besonderung und Individuierung unzureichend; sie sind nicht als Individuen nomerisch identifizierbar. Eben dies freilich, daß samsthana als Basis numerischer Identität dienen könne, wird von den Buddhisten spätestens seit Dignāga bestritten: Die Gestalt wird selbst gänzlich in den Bereich der bloßen Qualitäten verwiesen. - Wir dürfen in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß rūpa in den älteren Texten sowohl die Bedeutung Farbe“ wie auch die Bedeutung „Gestalt“ („Form“) umfaßt; der er
- A. . Q. (8. Anm. 67): nanu ca tatra-api samathanamdtram upalabh. yote; vgl. auch TS, v. 566; der dort gebrauchte Ausdruck samniveta wird von Kamalasila durch samsılanavisepa paraphrasiert.
* Vgl. xV: 76f. (zu NS I a 14; = NV 419); vgl. auch Santarakṣita a. a. 0. (8. Anm. 67): satyam upalabhyate (sc. samsthanam), na tu tad rūpadyatmakom (als purvapakpa).
n Vgl. Vy. 46: mandamandaprakase sati samsthanamdtrasya-avayavino grahaņād ii. Der unmittelbar vorhergehende Text ist offenkundig verderbt; es dürfte zu lesen sein: tatha ca visesaņågrahaņāt visesyabuddher na ca-asat. tvami na ca-apy-abhedah | tatha-avayavagrahe avayavyagraho 'siddhah.
" NK 41: ... pratyekavilakpanasamsthanasarvedandt, rupadisvabhavarya sarvatra-avisepdt ...; vgl. Kumărila, Slokavårttika, Vanavåda 17: anyad anyac ca samsthanam pratipindam pratiyate.
* Etwa in den Upanişaden und in den philosophischen Partien des Mabil bharata
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Substanz (dravya) im Vaibesika
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wähnte substanztheoretische Gebrauch von samsthāna bzw. akāra kann also sozusagen an den frei gewordenen Teil der alten Bedeutung von rupa anknüpfen, indem er ihn der Bedeutung „Farbe“ gegenüberstellt und für die Sicherung der „Substanz selbst“ in Anspruch nimmt.
Der Begriff des samsthāna wird auch in die Lehre von der Erfabbarkeit der Substanz durch zwei Sinnesorgane (dvindriyagrāhyatva) eingefügt, die in der erkenntnistheoretischen Diskussion um das Substanzthema eine wichtige Rolle spielt. Diese Lehre, auf die sich, in entsprechend modifizierter Perspektive, schon das Nyāyasūtra für den Nachweis der Substantialität des åtman beruft, geht davon aus, daß die verschiedenen Elementqualitäten jeweils einem bestimmten Sinnesorgan zugeordnet sind und daß ein Gegenstand, der durch mehr als ein Sinnesorgan erfaßt werden kann, seiner Natur nach von diesen spezifischen Qualitäten und von den Qualitäten überhaupt verschieden sein muß. Spä. testens seit dem Nyāyabhāşya dient das Argument in expliziter Form dem Nachweis substantialer Gegenstände des Wahrnehmens. Die Substanz, insofern sie sowohl sichtbar wie tastbar ist, gilt als Bedingung der Möglichkeit des pratisamdhāna, des identifizierenden Bezuges visueller und taktiler Eindrücke auf ein und dasselbe Objekt: „Den Topf, den ich gesehen habe, berühre ich; eben den Topf, den ich berührt habe, sehe ich"75. - Bei näherer erkenntnistheoretischer Analyse konnte kaum verborgen bleiben, daß das, was hier tatsächlich als sichtbar und tastbar identifiziert werden kann, wiederum nur die Gestalt ist. Dementsprechend nimmt z. B. Sridhara das dvindriyagrāhyatva-Argument mit der Bemer. kung auf, es sei eine bestimmte Gestalt (samsthānavidesa) vorauszusetzen, welche das Erfassen eines Gegenstandes durch den Gesichts- und Tastsinn verständlich mache--- Wir dürfen hier an eine mit dem Substanzproblem eng verknüpfte symptomatische Episode der neueren westlichen Erkenntnistheorie erinnern - an die Diskussion um „Molyneux' Problem", d. h. um die Frage, ob ein Blindgeborener nach Erlangung der Sehfähigkeit eine ihm durch den Tastsinn vertraute Figur visuell zu identifizieren ver. möge; hier freilich geht es nur darum, ob eine Figur als solche visuell-taktil identifizierbar sej, nicht aber um die numerische Identität einer Substanz
** Vgl. NS LII & 1: dardanasparianabhyam ekarthagrahandt.
" NBh zu NS IV a 36 (= IV a 33 RÚBEN), ND 702: yam kumbham adräkşam tam sprádmi, yam eva-aspråkşam tam paśyāmi-iti; ähnlich zu III a 1, ND1 434; und in z. T. wörtlichem Anschluß daran zahlreiche spätere Texte, z. B. Vy. 44 (... na ca dvöbhyam indriyabhydm eldrthagrahanarp vind pratieandhanam nydyyam).
* NK 41: samsthanavisepas kalpaniya), yona darsanaspartandbhydim olarthagrahanam api sidhyati.
Das Problem wurde bekanntlich J. LOCOE vorgelogt und von ihm die kutiert.
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WILHELM HALBTABS
In den zuletzt erwähnten und mehr oder weniger deutlich auf den Begriff der Gestalt bezogenen Überlegungen zum Substanzproblem geht es kaum noch um kosmologische Substrate oder Materialursachen: Es geht um Dinge als Individuen, als Bezugspunkte und Bedingungen numerischer Identifikation im Kontext unserer empirischen Welt 78. Und dies ist ja offenbar eine Perspektive des Substanzproblems, die dem logisch. erkenntnistheoretischen Zeitalter und dem Stil der Auseinandersetzung mit den Buddhisten entspricht. Daß diese Auseinandersetzung Kriterien und Gesichtspunkten folgt, die außerhalb des kosmologisch-naturphilosophischen Horizonts liegen, hat unvermeidliche Auswirkungen auf den Sinn des Substanzbegriffes selbst, der nun nicht mehr ein primär kosmologisch-naturphilosophischer sein kann?'. Gleichwohl bleibt eine natur. philosophisch-enumerative Grundorientierung auch noch auf der Ebene fortgeschrittener Reflexion wirksam: Die Substanzen bleiben Entitäten neben anderen Entitäten, eine Klasse von Weltfaktoren, die andere Weltbestandteile tragen, als reale Attribute ,,haben“, indem sie durch sie bestimmt und doch zugleich auch von ihnen verschieden sind. – Die kosmologische Problematik des Substrats und die logisch-erkenntnistheoretische Problematik des Bestimmungsträgers werden zwar de facto in mancher Hinsicht auseinandergehalten, aber nie wirklich radikal und thematisch getrennt. Und es gibt nichts, das der aristotelischen Zerlegung des Substanzproblems in das Problem der an, als der „Unterlage" (ÚTOxeiuevov) schlechthin, und des durch ein Wesen, ein Selbstsein bestimm. ten konkreten Dinges (T6d€ Tl) entspräche. — Zum Begriff des konkreten Dinges, als eines seine Bestimmungen umfassenden Ganzen, gelangt das klassische Vaidesika überhaupt nicht. Dies bleibt Denkern anderer Schu. len, zumal Kumárila und der von ihm vertretenen Richtung der Mimamså, vorbehalten.
Die Konzeption des dravya im Vai esika ist, wie wir sagten, auch für die Kritik und Polemik noch ein wichtiger begrifflicher Katalysator: Die Schwierigkeiten und Paradoxien, zu denen sie führt, tragen in nicht zu unterschätzender Weise zur gedanklichen Radikalität und zum geschichtlichen Erfolg der Kritik der empirischen Welt bei, wie wir sie vor allem im Mahāyāna-Buddhismus und im Advaita Vedānta finden.
" „Individuation“ wird von A. QUINTON (8. O., Anm. 4) als erster unter vier Grundaspekten des Substanzthemas genannt.
** Der Erkenntnisbezug in der Definition des Unterschieds zwischen der Substanz und den Qualitäten usw. wird in der Tat immer ausdrücklicher; z. B. NK 15: vilakpanåkårabuddhivedyatvasya-eva bhedalakpanatud ...; NM I 285: pratitibhedad bhedo 'sti ...
Für den Nyåya freilich kann an den bei Uddyotakars und Jayanta (z. B. NM 295f.) gebräuchlichen Begriff des tadvat als konkretbestimmten Dinges orinnert werden.
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Substanz (dravya) im Veisepika
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Abkürzungen:
NBh NDI
ND:
NK
NM
NS
NV1
Nyåyabhâsya, s. NDI, ND The Nyåya-Darshana. The Sūtras of Gautama and Bhåşya of Våtsyåyana, with two comm.... ed. GANGANATHA JHA and DHUNDHIRAJA SHASTRI (Benares 1925; Chowkhamba Sanskrit Ser.). Nyāyadarsana of Gautama, with the Bhåşya of Våtsyāyana, the Vårttika of Uddyotakara, the Tătparyaţikå of Vacaspati, and the Parisuddhi of Udayana (Vol. I - Ch. I). Ed. ANANTALAL THAKUR (Darbhanga 1967; Mithila Inst. Ser. Ancient Text 20). Nyåyakandali by Sridhara, in: Bhashya of Prasastapáda, together with the NyĀyakandali ..., ed. V. P. DVIVEDIN (Benares 1895; Vizianagram Sanskrit Ser. 6). Nyåyamañjari of Jayanta Bhatta, ed. 8. N. SUKLA, 2 vols. (Benares 1934/36; Kashi Sanskrit Ser. 106). Die Nyåyasūtras. Text, Ubersetzung ... von W. RUBEN (Leipaig 1928; repr. Nendeln 1966; Abhandlungen für die Kunde des Mor. genlandes 18/2). The Nyāyavårttikam by Udyotakara Mitre, ed. V. P. DUBE (Cal. cutta 1887–1914; Bibliotheca Indica). Nyāyavårttika, 8. ND. Prasastapädabhâsya, 8. NK. Prasastapadabhasyam ... with comm. Sūkti by Jagadisa Tarkalank&ra, Setu by Padmanabha Misra, and Vyomavati by Vyomasivācārya, ed. GOPINATH KAVIRAJ (Benares 1924-1930; Chowkhamba Sanskrit Ser.). Tattvasangraha of Acărya Shāntarakṣita, with the comm. Paxjika of Shri Kamalashila ... ed. DWARIKADAS SHASTRI, 2 vols. (Varanasi 1968; Bauddha Bharati Ser. 1-2). The Vaibesika Sūtras of Kanada ... transl. by N. SINHA (Allahabad 1911; Sacred Books of the Hindus 6; enthält auch den Sanskrittext der Sūtren). Vaiseşikasūtra of Kanāda, with the comm. of Candrinanda, crit. ed. JAMBUVIJAYAJI (Baroda 1961; Gaikwad,s Oriental Ser. 136). Vyomavati (von Vyomasiva), s. PB.
NV: PB РВ?
TS
Vg:
V8
7.
Summary
The paper analyses the functions, ambiguities and paradoxes of the Vaiseșika concept of drarya in a context, which is both systematic and historical and, to a certain extent, includes problems and conceptual distinctions developed in Western thought about 'substance'. Special atten. tion is paid to the role of dravya as substratum and qualificand and to the implications of the sense in which it can be said to 'have' qualities (guna). The cosmological roots and the changing connotations of this relationship are scrutinized; and the twofold perspective of dravya as ásraya and as dharmin is related to two different levels of thought and discourse in
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________________ 166 WILHELM HALBFASS classical Vaisesika-- levels which at the same time correspond to histori. cally different strata: a cosmological-'enumerative one, and a logical. functional one. The role of drarya is further illustrated by examining its epistemological function as alleged datum of pre-predicative immediate perception and by showing its conceptual evaporation or at least transformation in an increasingly logical and epistemological climate of discussion. - Some of the consequences of Prasastapada's epistemological treatment of dravya are traced, and it is contrasted with the theories of some Naiyayi. kus concerning an actually separate perceptibility of 'substanco as such'.