Book Title: Zum Begriff Der Substanz Im Vaisesika
Author(s): Wilhelm Halbfass
Publisher: Wilhelm Halbfass

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Page 6
________________ 146 WILHELM HALBTASS Substanzen. Die vergänglichen Substanzen sind die aus den Atomen auf. gebauten oder vielmehr durch sie verursachten konkreten und teilbaren Dinge, welche mit einem im Vaiseşikasūtra noch nicht gebrauchten, wohl eher im Nyāya beheimateten Ausdruck avayavin genannt werden", - Bei flüchtigem Hinsehen mag diese Unterteilung des Substanzbegriffs als ein im System wohlintegriertes und keineswegs mit besonderen Problemen beladenes Lehrstück des Vaiseşika erscheinen. Die Lehre von den ewigen und den vergänglichen Substanzen hat jedoch viel weiterreichende Konsequenzen als diejenigen, welche in ihrer expliziten Darlegung ohne weiteres sichtbar sind. Was als bloßes Nebeneinander zweier Arten der Gattung Substanz erscheint, ist in Wahrheit eine Gegenüberstellung zweier verschiedener Zugangsweisen zum Substanzthema, mit grund. sätzlich verschiedenartigen Problem bezügen, auch wohl historisch ver. schiedenen Reflexionsstufen zuzuordnen. Mit der Konzeption des anityadrarya bzw. avayavin halten Probleme und Gesichtspunkte Einzug, die dem ursprünglich naturphilosophischen Rahmen des Vaiseșika fremd und in ihm nicht zu bewältigen sind: Die vergänglichen Substanzen sind nicht kosmische Grundbausteine, theoretisch-reduktiv postulierte Elemente und Materialursachen, sondern konkrete, numerisch identifizier. bare Dinge unserer empirischen und praktischen Welt, Zuhandenes, mit dem wir tatsächlich zu tun haben 15, dem die Worte unserer alltäglichen Sprache entsprechen, und das insofern in ganz anderer Weise in den Kon. text sprach- und erkenntnistheoretischer Uberlegungen einzutreten vermag. Und diese konkreten Dinge fügen sich ja offenbar keineswegs dem Anspruch umfassenden Aufzählens, wie wir ihn im ursprünglich kosmologisch-naturphilosophischen Zugang zum Substanzthema fanden; sie sind vielmehr nur von Fall zu Fall exemplifizierbar und können den ewigen Substanzen nur aufgrund einer im folgenden näher zu kennzeichnenden funktionalen Analogie an die Seite gestellt werden. – Das gleich. wohl auch in der Auslegung der unter dem Titel „vergängliche Substan 11 Vgl. NS II a 30ff; IV b 3; 7ff.; PB 21. - Hier ist daran zu erinnern, daß nach der umstrittenen Lehre des Vaiseşika der avayavin nicht einfach ein Aggregat seiner Teile ist, sondern seinen Materialursachen als etwas Zusätz. liches, als in ihnen nicht enthaltene Wirkung hinzugefügt wird. Obwohl durch Teile verursacht, ist der avayavin als solcher teillos; er hat seine eigene, in sich geschlossene Identität und Bestimmtheit, in welcher er entweder „ganza oder überhaupt nicht existiert; und genau genommen ist das Wort „ganz" (krtona) auf den avayavin als solchen überhaupt nicht anwendbar; vgl. NBh zu NS II a 33 (ND272-273). 1 Natürlich kann es in dem kosmologisch.naturphilosophischen Hori. sont des Vaisepika keinen Begriff des „Zuhandonen“ oder der Lebenswelt" geben; gleichwohl werden in diesem Rahmen Entitäten konzipiert, die in ihrer Funktion „lebensweltlich“ sind.

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