Book Title: Zur Theorie Der Kastenordnung In Der Indischen Philosophie Author(s): Wilhelm Halbfass Publisher: Wilhelm Halbfass View full book textPage 6
________________ 282 Wilhelm Halbfass daß es problematische Randerscheinungen und Ausnahmefälle gibt, wird nicht als Anlaß zu grundsätzlichem Zweifel an der naturgegebenen Gültigkeit der Kastenordnung und an der sicheren Identifizierbarkeit der Kastenzugehörigkeit angesehen: Im täglichen Leben und aus alter Tradition weiß man, wie man einen Brahmanen von einem Nicht-Brahmanen zu unterscheiden hat. Körperliche Merkmale wie Haar- und Hautfarbe sowie Eigentümlichkeiten der beruflichen Tätigkeit gelten dabei noch als gültige Kriterien, und weiterreichende Fragen nach der „Eigentlichkeit“ oder Beweisbarkeit des Brahmanentums usw. werden nicht gestellt 19). Ein ganz anderes Niveau des Problem bewußtseins wird in der Mimāmsā, vor allem bei Kumārila, entwickelt. Hier wird, wie in einem späteren Abschnitt dieser Arbeit zu zeigen sein wird, die buddhistische Herausforderung voll aufgenommen, die Trennung des ethischen und faktischen Bedeutungsmoments wird in aller Entschiedenheit durchgeführt, und die Priorität der geburtsmäßigen Legitimation wird zu einer zuvor unbekannten begrifflichen Schärfe entwickelt 20). Die Sicherung der Kastenbegriffe gegenüber den aus der Summierung verschiedener Bedeutungsmomente resultierenden Ambivalenzen und gegenüber den Gefahren der Mobilität und Variabilität ist hier zum maßgeblichen Motiv geworden. Ganz allgemein dürfen wir sagen, daß die Erörterungen des varna-Systems in der traditionellen hinduistischen Philosophie weitgehend apologetisch orientiert sind. Sie bleiben Reaktion auf Kritik und Herausforderung von außen; und dem jeweiligen philosophischen Entwicklungsstand und der grundsätzlichen systematischen Einstellung entsprechend werden metaphysische, kosmologische und erkenntnistheoretische Begriffe und Theorien in den Dienst dieser im wesentlichen apologetischen Aufgabe gestellt. Vor diesem Hintergrund und in diesem Rahmen ist die Geschichte der ,,Anwendungen" philosophischer Begriffe auf das Kastenthema zu sehen, dem unsere folgende, auf exemplarische Beispiele beschränkte Übersicht und Diskussion gilt. III. Kastentheoretische Anwendungen der Lehre von den drei guna Den weitesten außerphilosophischen Anwendungsbereich unter allen in der klassischen indischen Philosophie vertretenen Theorien hat die Lehre von den drei guna, d. h. den drei Grundkräften der dynamischen, die sichtbare 19) Die Anwendung des Wortes brāhmana auf Menschen, denen die geburtsmäßige Legitimation fehlt, bleibt letztlich auf Fälle des ,,Zweifels" (samdeha) und der unzureichenden oder fehlerhaften Unterweisung (durupadesa) beschränkt, die die in normalen Situationen bestehende Sicherheit nicht zu gefährden vermögen: jatihine samdehad durupadesāc ca brähmanasabdo vartate ... ataś ca samdehäd durupadesäd vä, na hy ayam kālam māşarāśivarnam āpaņa āsīnam drstvā-adhyavasayati brāhmaṇo 'yam iti (a.a.O., S. 411-412). 20) S. u., Kap. IV. [10]Page Navigation
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