Book Title: Zur Theorie Der Kastenordnung In Der Indischen Philosophie
Author(s): Wilhelm Halbfass
Publisher: Wilhelm Halbfass

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Page 30
________________ 306 Wilhelm Halbfass aler Reform praktischen und der bestenfalls ei! Chatterji, 1836-1886) zu vertreten. Ramakrishna ist von ihm und im Anschluß an ihn geradezu zum konkreten Sinnbild des modernen Hinduismus und des lebendigen Vedānta erklärt worden. Er gilt als Symbol einer universalen, gleichwohl nie abstrakten Synthese und Toleranz und als Bestätigung des wahren, in der Begegnung mit dem Westen überhaupt erst sichtbar gewordenen Potentials des Hinduismus. Indem er als Vertreter dieses ,,wahren" und zugleich ins Universale gewendeten Hinduismus präsentiert wird, erscheint er zugleich als Vertreter des Religiösen schlechthin und als Verkörperung eines ins Hinduistische gewendeten Erfüllungsgedankens, der die von einigen Missionaren vorgetragene Auslegung des Christentums als der wahren Erfüllung aller Religionen aufzunehmen und zu neutralisieren vermag. In dieser Rolle ist er für Vivekananda zugleich Leitbild politischen Handelns und sozialer Reform -- wobei freilich zu betonen ist, daß das bei Vivekananda so starke Motiv des Praktischen und der sozialen Verantwortung bei Ramakrishna selbst keine Rolle spielt und sich bestenfalls einer milden Ironie erfreuen kann: Gewiß, man soll nach Ramakrishnas Meinung die Welt nicht übersehen; aber man soll sich doch immer darüber im klaren sein, daß man letztlich nichts „für sie" tun kann oder muß 117). Für Vivekananda und seine Nachfolger gilt es demgegenüber als ausgemacht, daß der Vedānta nicht nur „praktisch“ werden kann, sondern, um seine eigenen Möglichkeiten zu erfüllen, praktisch werden muß: Er allein, so wird vorausgesetzt, kann, als Philosophie der absoluten Einheit und als Konvergenzpunkt aller Religionen, Philosophien und Weltanschauungen, ethische Forderungen und praktische Zielsetzungen metaphysisch verbindlich begründen und zugleich wirksam motivieren. Der nach Vivekananda repräsentativste Verkünder dieser Botschaft ist der in zahlreichen offiziellen Positionen national und international tätig gewesene S. Radhakrishnan. Er vertritt den „Erfüllungsgedanken" in beispielhafter und besonders konzilianter und eindrucksvoller Weise: Der Vedānta ist ,not a religion, but religion itself in its most universal and deepest significance" 118). Er bietet Rahmen und Zielsetzung für eine zukünftige Synthese aller Religionen und Philosophien und insofern auch für die Beilegung ideologischer und politischer Differenzen und für die Lösung sozialer Probleme. — Dabei ist stets vorausgesetzt, daß die von Sankara definitiv formulierte Lehre von der absoluten Identität des Wirklichen in brahman ihre Entsprechung in einer auf Einheit, Gleichheit und Versöhnung bedachten sozialen Haltung finden und somit auch grundsätzliche Auswirkungen auf das Verständnis der Kastenunterschiede haben müsse. 117) Von den Anhängern der Bewegung wird der durch Ramakrishnas überlieferte Worte keineswegs zu rechtfertigende soziale Aktivismus auf ein Vermächtnis Ramakrishnas an Vivekananda zurückgeführt, demzufolge der Einsatz für die Welt selbst nur ein Durchgangastadium zu höherer Einsicht ist. 118) Vgl. The Hindu View of Life, London 1968, S. 18. Zum christlichen Erfüllungsgedanken vgl. J.N. Farquhar, The Crown of Hinduism, London 1913 (repr. New Delhi 1971). [34]

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