Book Title: Zur Theorie Der Kastenordnung In Der Indischen Philosophie
Author(s): Wilhelm Halbfass
Publisher: Wilhelm Halbfass

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Page 33
________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 309 sein hat, von diesem Prozeß auszuschließen? - Die Behauptung, daß das erlösende Selbstbewußtsein nur aufgrund eines „Hörens“ (sravaņa), d. h. aufgrund der „Erweckung" durch vedische Texte, möglich sei, hält Rāmānuja an sich schon für unbegründet - und für gänzlich unbegründbar im Rahmen des Advaita. Jedoch selbst dann, wenn man diese Voraussetzung gelten läßt — kann es nicht geschehen, daß ein Sūdra zufällig einen der das heilige Wissen zusammenfassenden „großen Sätze" (mahāvākya), wie das tat tvam asi, hört und dadurch auf den Weg der Erlösung gebracht wird? Und ferner: Warum sollte jemand, der das erlösende Einheitswissen erlangt hat, der damit über ritualistische Vorschriften und über gesellschaftliche Konventionen hinausgegangen ist, einen Sūdra davon ausschließen, solches Wissen mit ihm zu teilen? Zusammengefaßt: Sankara hat, Rāmānujas Kritik zufolge, keinerlei Grundlage für den Ausschluß der Sūdras vom Vedastudium und vom erlösenden Wissen. Solche und ähnliche Probleme gelten dem Advaita-Vedānta nicht als relevant; sie sind umgangen durch eine Konzeption, die Rāmānuja nicht akzeptiert, nämlich die Lehre von der ,,doppelten Wahrheit", die die Wahrheit im absoluten Sinne (paramārtha) von der konventionellen relativen Wahrheit des empirischen Lebens (vyavahāra) abhebt und beide ohne Vermittlung und wechselseitige Begründung nebeneinanderstellt. Eine „Angleichung" und Versöhnung des Absoluten, d. h. der Einheit des brahman, und der relativen und letztlich unwirklichen Welt raumzeitlicher Einzelheiten und zwischenmenschlicher Bezüge wird insofern nicht als notwendig angesehen. — Gleichwohl finden wir doch auch im Advaita gelegentlich die Tendenz zu Formulierungen, die konzilianter sind als diejenigen in Sankaras Brahmasūtrabhāşya, die Tendenz, die Rigorosität gesellschaftlicher Abgrenzungen durch Hinweis auf die Einheit des Absoluten abzumildern, so etwa bei Sankaras Schüler Sureśvara, der die Identität des ,, Sehers" (drastr), d. h. des absoluten Subjekts, im Brahmanen und im Candāla betont 127). Auch in mehreren dem Sankara selbst zugeschriebenen Texten wird die absolute Einheit mit Hinweisen auf die Irrelevanz gesellschaftlicher Unterscheidungen erläutert und bekräftigt; zumal die in ihrer Authentizität allerdings recht zweifelhaften kurzen Traktate Svātmanirūpaņa und Daśasloki lassen Sankara erklären, daß es für ihn in Wahrheit keine Kasten (varna), Lebensstadien (āšrama) u. dgl. mehr gebe 128). — Recht häufig und in prägnanten Formulierungen sind solcherlei Feststellungen auch in den sog. Minor Upanişads' zu finden, vor allem in den als ,Samnyāsa-Upanişads und ,Sāmānya-Vedānta-Upanişads' zusammengefaßten Gruppen. So spricht die Nāra 127) Vgl. Naişkarmyasiddhi II, 88. 128) Vgl. Svātmanirūpaņa, v. 139; varņāśramarahito 'ham varnamayo 'ham; Daśasloki, v. 2: na varņā na varnāśramācāradharmā ...; beide Werke abgedruckt in: Minor Works of Sankarācārya, ed. Bhagavat, Poona 21952 (Poona Oriental Ser. 8). [37]

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