Book Title: Zur Theorie Der Kastenordnung In Der Indischen Philosophie
Author(s): Wilhelm Halbfass
Publisher: Wilhelm Halbfass

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Page 1
________________ I. Einleitung 35 Die Feststellung, daß der klassischen indischen Philosophie gesellschaftliche Fragestellungen fremd sind, ist alt. Sie ist oft wiederholt und von verschiedenen Standpunkten aus beurteilt und gedeutet worden'), und sie scheint auch der innerhalb der indischen Tradition vertretenen grundsätzlichen Arbeitsteilung" zwischen erlösungsbezogenem philosophischen Denken und den weltbezogenen Wissenschaften von artha und dharma ohne weiteres zu er entsprechen. Die als Kulmination hinduistischen Denkens präsentierte Tradition des Advaita-Vedanta scheint die Wahrheit dieser Feststellung besonders deutlich und eindeutig zu exemplifizieren"). . Demgegenüber behaupten die Vertreter des sog. Neo-Vedanta, daß hinter dem vermeintlichen Mangel ein reiches Potential unausgeschöpfter positiver Möglichkeiten liege und daß speziell der Advaita-Vedänta von unmittelbarer Bedeutung für die sozialen und politischen Probleme der Gegenwart sei: Er allein vermöge eine dem modernen Denken akzeptable und der gegenwärtigen Weltsituation angemessene metaphysisch fundierte ethische Orientierung zu bieten 3). Wie immer man den Inhalt und das reale politische Gewicht dieses Anspruchs beurteilen mag - der,,praktische", politisierende Vedanta spielt in der philosophischen Selbstdarstellung des modernen Indien eine maßgebliche Rolle, und er dürfte ein ernsthafteres forscherliches Interesse verdienen, als ihm bisher von einigen richtungweisenden Ansätzen abgesehen zuteil geworden ist. In unmittelbarem Zusammenhang damit ist auch die Frage nach dem Gesellschaftsbezug" der klassischen indischen Philosophie neu zu 100 - 1) In großer Schärfe äußert sich schon Hegel über die,,Abstraktheit" der indischen philosophischen Spekulation und ihre mangelnde,,Vermittlung" mit der Sphäre geschichtlicher und politisch-gesellschaftlicher Konkretion; vgl. W. Halbfass, Hegel on the Philosophy of the Hindus. German Scholars on India. Contributions to Indian Studies, I, Varanasi 1973, S. 107-122, bes. S. 114-117. Um nur an zwei weitere Beispiele zu erinnern: Max Weber setzt sich eingehend mit dem nach seiner Meinung vollständigen Fehlen sozialer Kritik und Programmatik in der indischen religiös-philosophischen Tradition auseinander; vgl. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie II: Hinduismus und Buddhismus, Tübingen 1923. - Albert Schweitzer beklagt das Fehlen innerweltlich-ethischer, mitmenschlicher Dimensionen; vgl. Die Weltanschauung der indischen Denker, München 1935; sowie M. D. Hunnex, Mysticism and Ethics: Radhakrishnan and Schweitzer, Philosophy East and West 8 (1958/59), S. 121 136. 2) Zur Trennung von dharma und moksa im Vedanta vgl. Sankara zu Brahmasūtra I, 1, 1-4. 3). S. u., Kap. V. [6]

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