Book Title: Zur Theorie Der Kastenordnung In Der Indischen Philosophie
Author(s): Wilhelm Halbfass
Publisher: Wilhelm Halbfass

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Page 2
________________ Wilhelm Halbfass stellen — in einer Weise, die weder auf ein bloßes Konstatieren der erwähnten ,,Arbeitsteilung" noch auf ein ideologiekritisches Entlarven gesellschaftlicher Interessen hinausläuft, sondern zunächst einmal den in den indischen philoso phischen Texten tatsächlich zu findenden, wenn auch recht verstreuten und vereinzelten gesellschaftsbezogenen Äußerungen nachgeht. Daß es eine Tradition politisch-gesellschaftlichen Philosophierens, die der von Platons Staat" zum Marxschen Programm einer Verweltlichung" der Philosophie reichenden Entwicklung an die Seite gestellt werden könnte, in Indien nicht gibt, bleibt ganz unbestreitbar). Dennoch werden gesellschaftliche Themen gelegentlich auch in philosophische Zusammenhänge einbezogen, und philosophische Begriffe und Fragestellungen werden dabei auf gesellschaftliche Sachverhalte angewendet. Die Bedeutung solcher Anwendungen ist nicht an einem bloß quantitativen Maßstab zu messen: Auch in ihrer Vereinzelung, auch als Randphänomene der indischen Philosophie sind sie bemerkenswerte Symptome für ihre grundsätzliche Einstellung und ihre geschichtliche Rolle. Der in der indischen Tradition nächstliegende und beherrschende gesellschaftstheoretische Bezugspunkt ist die Konzeption der vier hauptsächlichen Kasten (varna), und darauf wird sich die folgende Abhandlung konzentrieren: Es werden, vor allem aus der Literatur der hinduistischen Systeme des 1. Jahrtausends n. Chr., philosophische Zeugnisse zu diesem Thema zusammengestellt, und es wird untersucht, wie die varna-Ordnung der Gesellschaft im Rahmen kosmologischer, metaphysischer und erkenntnistheoretischer Erörterungen dargestellt, analysiert und rationalisiert wird. Eine volle Bestandsaufnahme der in diesem Zusammenhang relevanten Textstellen ist bisher weder von den Historikern der indischen Philosophie noch von den Historikern des Dharmasastra vorgelegt worden, und sie kann und soll auch im folgenden nicht geboten werden. Die im folgenden präsentierten und diskutierten Textstellen dürften jedoch repräsentativ und maßgeblich sein, und für die Kennzeichnung grundsätzlicher Entwicklungslinien und Problemlagen dürften sie eine ausreichende Textgrundlage bilden). Es ist zu betonen, daß die folgenden Erörterungen als ein Beitrag zur indischen Philosophiegeschichte, nicht aber zur Geschichte tatsächlicher sozialer Verhältnisse gemeint sind; und die philosophischen und theoretischen Stellungnahmen, die wir dabei untersuchen, sind nicht so sehr Stellungnahmen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst und per se, sondern zu Strukturen und Zusammenhängen, die ihrerseits bereits in erheblichem Maße theoretischer Natur sind. - Dies ist auch zu berücksichtigen für das Verständnis des Wortes ,,Kaste", das im folgenden stets im Sinne der theoretischen warna-Struktur gebraucht ist. - 278 4) Die Arthaśāstra-Literatur darf, als Methodologie der Regierungs- und Verwaltungspraxis, ja nicht mit einer umfassenden politischen Philosophie verwechselt werden. 5) Dabei halten wir uns ganz an die Texte selbst und lassen die weitgehend legendarischen Berichte über ihre Autoren beiseite. [6]

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