Book Title: Zur Theorie Der Kastenordnung In Der Indischen Philosophie
Author(s): Wilhelm Halbfass
Publisher: Wilhelm Halbfass

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Page 22
________________ 298 Wilhelm Halbfa88 Klassenzugehörigkeit eines Brahmanen (d. h. sein Bestimmtsein durch das Universale „Brahmanentum“) sich ebenso durch sinnliche Wahrnehmung feststellen lasse wie die Klassenzugehörigkeit eines Baumes 83) (d. h. sein Bestimmtsein durch das Universale ,,Baumtum")? Im Falle des Brahmanen müssen wir doch zunächst einmal über Tatbestände seiner Vorfahrenschaft unterrichtet werden. Aber müssen wir, um einen Baum als solchen identifizieren zu können, nicht auch zuvor informiert werden, nämlich über die Bedeutung des Wortes ,,Baum“? — Daß diese beiden Fälle in mehr als einer Hinsicht ungleichartig sind, wird von Kumārila selbst ausführlich dargelegt. Im Falle des Baumes haben wir auch ganz unabhängig von der Kenntnis des zugehörigen Wortes den Eindruck einer durch bestimmte Gestaltmerkmale unterscheidbaren und identifizierbaren Entität; im Falle des Brahmanen kann davon keine Rede sein, und andere äußere Merkmale, wie Verhaltensweise und Berufsausübung, können deshalb nicht als zuverlässig gelten, weil ja keineswegs sicher ist, daß sich die Kastenangehörigen jeweils an die ihnen zugewiesenen Pflichten halten 84). Aber nach Kumārilas im Ślokavārttika entwickelter Lehre sind solcherlei äußere Merkmale ja keinesfalls die einzigen Indizien für die Feststellung von Universalien; auch die Kenntnis genealogischer Zusammenhänge kann dazu führen. Hier drängt sich wiederum das Problem der Untreue von Brahmanenfrauen auf; hierzu wird zunächst bemerkt, daß man nicht mit der Ausnahme gegen die Regel argumentieren solle; außerdem sei ja der außereheliche Verkehr mit Männern gleichen Standes in dieser Hinsicht unproblematisch, und auch für die Fälle echter Bastardisierung halte die Smrti zuverlässige Klassifikationsregeln, und sogar Regeln der Wiedereinstufung in eine „reine" Kaste nach mehreren Generationen, bereit. All dies kann die Existenz und Erkennbarkeit der Kasten nicht wirklich gefährden; mit einem, wie schon erwähnt, später auch bei Jayanta vorkommenden Gleichnis: Dasjenige, was wahrgenommen wird, nachdem man den Gipfel eines Berges bestiegen hat, verliert dadurch nicht seinen Wahrnehmungscharakter 85). Der Unterschied zwischen einem männlichen und einem weiblichen Kokila (indische Kuckucksart) rückt erst allmählich in den Bereich des Wahrnehmbaren; ebenso steht es mit den Kastenunterschieden: Ihre Wahrnehmung wird möglich dadurch, daß uns zunächst die auf Erinnerung und ununterbrochener Überlieferung beruhende genealogische Kenntnis hilft 86). — An anderer Stelle, und in anderem Zusammenhang, bemerkt Ku 83) Vgl. zum folgenden TV, S. 5-7. 84) Dies wäre ja, wie das Slokavārttika bemerkt, nur in einem gut bzw. ideal geführten Königreich der Fall (s.o., Anm. 74). 85) S.o., Anm. 57. - Vgl. dazu NS, S. 12: na ca durjñānatvamätrena-apratyakgatvam sankyam. 86) Vgl. TV, S. 7: ... darsanasmaranaparamparyānugrhitapratyakşagamyāni brāhmanatvadini. [26]

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