Book Title: Zur Theorie Der Kastenordnung In Der Indischen Philosophie
Author(s): Wilhelm Halbfass
Publisher: Wilhelm Halbfass

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Page 24
________________ 300 Wilhelm Halbfass äußerlichen Kriterien entrückt und ist doch dem Bereich des Wahrnehmbaren und Argumentierbaren keineswegs grundsätzlich entzogen. - Diese Deutung und Verteidigung der vier varna fügt sich exemplarisch dem Programm Kumārilas ein, die Tradition des Veda (und d. h. vor allem der Brāhmaṇa-Texte) in einem Zeitalter kritischer Reflexion und Diskussion vertretbar zu machen und zugleich vor dem Zugriff autonomer Rationalität zu bewahren. Auch in dieser Hinsicht präsentiert sich eine bis in die erkenntnistheoretischen Grundlagen hinein sorgfältig und subtil ausgebaute und dennoch in ihrer Zielsetzung leicht durchschaubare restaurative Philosophie des vedischen dharma 92). Kumārilas Diskussion im Tantravārttika macht es wahrscheinlich, daß er bereits auf eine Tradition philosophischer Erörterungen zu diesem Thema und unter ähnlichen Gesichtspunkten zurückblicken kann. Die erkenntnistheoretische Diskussion um verschiedene Weisen des Erfassens von ,,Universalien" bzw. „Formen" (äkrti) ist bereits in Patañjalis Mahābhāşya, mit Hinweisen auf noch ältere Quellen, zu finden 93), und spätere Kommentatoren zumindest haben hier eine ausdrückliche Bezugnahme auf unser Problem des Verhältnisses von unmittelbarer Anschauung und sprachlicher Unterweisung (upadesa) gefundeno). — Im übrigen ist die terminologische Koinzidenz von jāti als ,,Kaste“ und als ,,Genus" bzw. „Universale" längst geläufig und macht ein (stillschweigendes oder explizites) Anwenden des Universalienbegriffs auf die Kastentheorie offenbar recht naheliegend, und in der Tat begegnet es uns auch vor Kumārila, etwa bei Bhartshari, schon gelegentlich im Sinne einer nicht näher erörterten selbstverständlichen Voraussetzung 95). Aber es scheint doch Kumārila gewesen zu sein, der dieser ,,Anwendung“ zuerst ihren radikalen und expliziten Charakter gegeben und sie in den Dienst ein Brahmane aufgrund bestimmter Verhaltensweisen zum Sūdra herabsinke -- sind, genau genommen, so zu verstehen, daß dem Brahmanen damit die Qualifikation zur Ausübung der ihm sonst zustehenden Rechte und Pflichten entzogen wird; vgl. TV,, S. 7-8. — Von den Kritikern (z. B. in der Vajrasūci) ist die im Dharmaśāstra vorgesehene Möglichkeit des Absinkens in der Kastenhierarchie als Einwand gegen die geburtsmäßige Kastendefinition formuliert worden. 02) Zum Verhältnis zwischen Kumārila und der Dharmaśāstra-Tradition vgl. P. V. Kane, The Tantravārtika and the Dharmaśāstra Literature. Journal of the Bombay Branch of the Royal Asiatic Society, N.S. 1 (1926), S. 95-102. 93) Vgl. z. B. Mahābhāşya zu IV, 1, 63; sowie oben, Anm. 18. 94) Die Stelle sakydakhyātanirgrähyā in dem Zitat aus dem für uns anonymen grammatischen Slokavārttika, das Patañjali zu Panini IV, 1, 63 anführt, ist von Jinendrabuddhi und Kaiyaţa in diesen Zusammenhang gestellt worden; Nāgesa bezieht sich ausdrücklich auf den Terminus upadesa; vgl. Patañjali's Vyakarana-Mahābhāşya, Tatpuruşāhnika, ed. with transl. by S. D. Joshi and J. A. F. Roodbergen, Poona 1973, S. 118f. - Vgl. auch CV, S. 200. 95) Vgl. Bhartphari, Vākyapadia III, Kap. jati, v. 44: brāhmaṇatvādayo bhāvāḥ sarvaprānişv avasthitaḥ/ abhivyaktāḥ svakāryāņām sādhakā ity api smrtih// Helārāja paraphrasiert: brähmanatvaksatriyatvādayaḥ sāmänyaviseşāḥ... [28]

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