Book Title: Zur Theorie Der Kastenordnung In Der Indischen Philosophie
Author(s): Wilhelm Halbfass
Publisher: Wilhelm Halbfass

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Page 23
________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 299 mārila mit ausdrücklichem Bezug auf die vier varna, daß dasjenige, was zunächst nur durch die Smrti erwiesen sei, sodann auch durch Wahrnehmung zugänglich wurde 87). Einige sehr wichtige und grundsätzliche Bemerkungen schließen sich an. Der angebliche oder wirkliche Widerspruch des Zitates aus dem GopathaBrāhmaṇa mit Wahrnehmungsbefunden, der den Ausgangspunkt der gesamten Diskussion bildet, gelte, so sagt Kumārila, für eben diejenigen, die Brahmanentum usw. aus dem Verhalten ableiten wollen. Für eine Ableitung der Kasteneinteilung aus dem Verhalten gibt es jedoch nach seiner Auffassung keinerlei Begründung. Vielmehr ist vorauszusetzen, daß die Brahmanen usw. in ihrem Sein schon festgelegt sind, damit die für sie gegebenen Verhaltensvorschriften überhaupt auf sie anwendbar sind 88). Wäre ihr Brahmanentum selbst eine Konsequenz ihres Verhaltens, so ergäbe sich ein circulus vitiosus; und es wäre möglich, daß ein und derselbe Mensch, je nach seinem Verhalten, einmal ein Brahmane und ein andermal ein Sūdra ist - wenn er nicht sogar, aufgrund der Tatsache, daß manche Handlungsweisen zweierlei Aspekte haben, beides gleichzeitig ist. — Eine solche Reduktion der Kasten auf zeitweilige 89) und ambivalente Funktionen und Verhaltensweisen wäre nach Kumārilas Meinung destruktiv und absurd. Die kastenspezifischen vedischen Vorschriften wären nicht mehr anwendbar, stabile gesellschaftlich-religiöse Regelungen wären unmöglich. -- Nur wenn jemand ein Brahmane, Kşatriya usw. ist, kann ihm vorgeschrieben werden, was er als solcher zu tun hat. Jemand ist Brahmane usw., insofern ihm das Universale brāhmaṇatva inhäriert, und dieses kann nicht nachträglich hinzugefügt, sondern nur mit dem Eintritt in die Existenz, d. h. mit der Geburt erworben werden. Brahmanentum ist weder auf einen Komplex von Verhaltensweisen wie Askese usw. noch auf eine dadurch herbeigeführte Disposition reduzierbar, noch manifestiert es sich darin o). Das Sein des Brahmanen usw. ist in seiner Herkunft verankert, und die Erkenntnis dieses Seins hat bei genealogischen Zusammenhängen anzusetzen, ist jedoch (idealiter) auch der Wahrnehmung erreichbar. — Aller ethisierenden Umdeutung und Reduktion der vier varņa und aller Kastenmobilität ist damit ein Riegel vorgeschoben. An der Kastenzugehörigkeit läßt sich hier auf Erden nichts ändern: sie þat einen Status metaphysischer Stabilität 91). Sie bleibt 87) Vgl. TV, S. 229 (zu I, 3, 25): ... aditas ca smrteh siddhaḥ pratyakşeņa-api gamyate; 8.o., Anm. 73. Vgl. auch den Hinweis auf das Expertentum von Edelsteinkennern; dazu auch oben, Anm. 61 und 68. 88) Vgl. TV, S. 7: siddhānăm hi brāhmaṇādinām ācārā vidhiyante. 89) Zum Mißtrauen gegen das bloß Zeitweilige, das erworben werden kann, vgl. schon die Diskussion der Frage des Reichtums, Mimāmsāsūtra VI, 1, 39-40, mit Kommentar von Sabara. 90) Vgl. TV, S. 7: na tapaādinām samudāyo brāhmanyam /na tajjanitah samskärah /na tadabhivyangyā jātih. 91) In striktem Sinne ist es auch unmöglich, daß jemand sein Brahmanentum verliert. Schriftstellen, in denen davon die Rede zu sein scheint - wenn etwa gesagt wird, daß [27]

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