Book Title: Zur Theorie Der Kastenordnung In Der Indischen Philosophie
Author(s): Wilhelm Halbfass
Publisher: Wilhelm Halbfass

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Page 31
________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 307 Die upanişadischen Einheitsformeln, zumal das tat tvam asi (,,Das bist du") bezeichnen nach Radhakrishnans Meinung das „Grundprinzip aller Demokratie"119); und es wird versichert: „Sankara's philosophy was essentially democratic" 120). Solchen und ähnlichen Ansprüchen gegenüber ist nun die Frage zu stellen, in welchem Sinne Sankara und der traditionelle Advaita-Vedānta, wenn überhaupt, eine Grundlage für soziale „Anwendungen" und speziell für die Formulierung eines sozial und politisch zu verstehenden Gleichheitsprinzips bieten. Dabei steht wiederum das Problem der Kastenordnung im Mittelpunkt. Die konservative Haltung Sankaras ist von seiten der Forschung wiederholt festgestellt worden, wenn auch zuweilen mit dem Ausdruck des Bedauerns oder des Befremdens 121). Die wichtigste Textstelle hierfür ist Sankaras Kommentar zu Brahmasūtra I, 3, 34–38, ein Abschnitt, der von den Vertretern des Neo-Vedānta durchweg mit Stillschweigen übergangen wird. In diesem Abschnitt diskutiert Sankara die Frage der „Berechtigung“ (adhikāra, adhikāritā) zum Vedastudium, und das bedeutet in erster Linie die Frage, ob die Sūdras zum Studium der vedischen Offenbarung und damit zum unerläßlichen Ausgangspunkt des befreienden und erlösenden Brahmanwissens zuzulassen seien. Sankaras Stellungnahme ist eindeutig und geht in ihrer Ausführlichkeit und Rigorosität weit über das durch den Sūtra-Text Geforderte hinaus : Kūdras sind zum Vedastudium nicht zuzulassen; sie bleiben vom Zugang zur erlösenden Einsicht in die absolute Einheit des Wirklichen ebenso ausgeschlossen, wie sie nach der Lehre der Pūrvamīmāmsā von der Durchführung vedischer Opferritualien auszuschließen sind 122). Ein auf Geburt und leibliche Familienzugehörigkeit gegründetes Verständnis der varna-Ordnung bleibt dabei stets vorausgesetzt, und es wird klargestellt, daß die metaphysische Einheit des Wirklichen keineswegs als Prämisse sozialer und religiöser Gleichstellung im Empirischen verstanden werden darf. Zur Begründung werden zahlreiche Stellen aus fruti und smrti angeführt; es fehlt auch nicht die oft zitierte, aus dem Gautamiya-Dharmaśāstra stam 110) Vgl. History of Philosophy, Eastern and Western, London 1952-1953, II, S. 447 (,,basic principle of all democracy''). 120) The Hindu View of Life, London 1968, S. 87. 121) So z. B. P. Deussen, Das System des Vedānta, Leipzig 21906, S. 63-68. - Deussen spricht von „Akkomodation an die nationalen Vorurteile" (a.a.O., S. 64). 122) Vgl. die alte und vielzitierte Formel sudro yajne 'navaklptah (schon Taittiriyasamhita VII, 1, 1, 6), auf die sich Sankara (zu I, 3, 34) ausdrücklich bezieht. Der pūrvapakşin, der eine analoge Ausschließung des Sūdra vom heiligen Wissen (sūdro vidyāyām anavaki ptah) in den vedischen Texten vermißt, wird nachdrücklich zurückgewiesen mit der Behauptung, daß die Ausschließungsregel sowohl für Opferhandlungen wie für das Brahmanwissen gelte; Bedürftigkeit oder Verlangen (arthitva) allein sei kein zureichender Grund für die Zulassung. Zur Rolle der Sūdras vgl. auch Mimāmsāsūtra VI, 1, 1 ff. mit Kommentar von Sabara. [35]

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