Book Title: Meditation Und Mystik Im Yoga Des Patanjali
Author(s): Gerhard Oberhammer
Publisher: Gerhard Oberhammer

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Page 2
________________ Wohl aber ist in Indien die Vorstellung von der Philosophie als Erlösungslehre (mokşaśāstram) jenes Idealbild der Philosophie geworden, das alle anderen Denktraditionen beeinflußt und geformt hat. Die Vorstellung von der Philosophie als Erlösungslehre setzt jedoch als Bedingung ihrer Möglichkeit die Antwort auf die Frage voraus, wieso denn die Philosophie eine Erlösung von der leidhaften Existenz des Menschen wirken könne. Erlösung durch Philosophie kann nur dann möglich sein, wenn die Existenz des Menschen so beschaffen ist, daß sie durch wahre Erkenntnis aufgehoben werden kann, mit anderen Worten, wenn die eigentliche Wirklichkeit des Menschen ein existenz-transzendentes Sein ist, und die empirische Existenz in der Welt nur ein irrtumbedingtes Scheinphänomen an jenem Transzendenten darstellt. Ob nun die Vorstellung von der Philosophie als Erlösungslehre oder der eine solche Vorstellung ermöglichende Grundgedanke früher ist, läßt sich nicht entscheiden. Vielleicht sind es nur zwei Seiten desselben historischen Apriori, aus dem sich jene Vielfalt des philosophischen Gedanken entwickelt hat, die der Historiker indischer Philosophie zu beschreiben und in seiner Eigenart zu bestimmen sucht. • Jedenfalls ist es dieser historische Ansatz indischer Philosophie, dem der Yoga des Patañjali entspringt, um den es heute in dieser Vorlesung geht. Um einen Begriff zu geben, was dieser Yoga der Sache nach eigentlich sei, mag eine kurze Begriffsbestimmung vorausgeschickt werden: Beim Yoga des Patañjali handelt es sich um ein auf der Basis des Sāmkhya ausgearbeitetes System geistiger und körperlicher Übungen, durch die der Übende seine geistige Existenz als empirisch-phänomenale Wirklichkeit zu überwinden sucht und vorzustoßen glaubt in eine trans-phänomenale Tiefe seiner Existenz, deren Erlebnis ihm den Zustand der Erlösung (kaivalyam = Emanzipation) vorwegzunehmen beziehungsweise zu enthalten scheint. Die Beurteilung des Yoga hat im Laufe der Zeit eine sehr unterschiedliche Wertung erfahren. Während manche Autoren vor allem des vergangenen Jahrhunderts ihn als ernstzunehmendes Phänomen menschlichen Geistes ablehnten, glaubten andere ihn als höchste Form menschlicher Spiritualität feiern zu müssen; und wenn die Fachwissenschaft heute die Tatsächlichkeit: yogischer Phänomene auch kaum mehr 99

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