Book Title: Zur Theorie Der Kastenordnung In Der Indischen Philosophie
Author(s): Wilhelm Halbfass
Publisher: Wilhelm Halbfass
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Page #1 -------------------------------------------------------------------------- ________________ I. Einleitung 35 Die Feststellung, dass der klassischen indischen Philosophie gesellschaftliche Fragestellungen fremd sind, ist alt. Sie ist oft wiederholt und von verschiedenen Standpunkten aus beurteilt und gedeutet worden'), und sie scheint auch der innerhalb der indischen Tradition vertretenen grundsatzlichen Arbeitsteilung" zwischen erlosungsbezogenem philosophischen Denken und den weltbezogenen Wissenschaften von artha und dharma ohne weiteres zu er entsprechen. Die als Kulmination hinduistischen Denkens prasentierte Tradition des Advaita-Vedanta scheint die Wahrheit dieser Feststellung besonders deutlich und eindeutig zu exemplifizieren"). . Demgegenuber behaupten die Vertreter des sog. Neo-Vedanta, dass hinter dem vermeintlichen Mangel ein reiches Potential unausgeschopfter positiver Moglichkeiten liege und dass speziell der Advaita-Vedanta von unmittelbarer Bedeutung fur die sozialen und politischen Probleme der Gegenwart sei: Er allein vermoge eine dem modernen Denken akzeptable und der gegenwartigen Weltsituation angemessene metaphysisch fundierte ethische Orientierung zu bieten 3). Wie immer man den Inhalt und das reale politische Gewicht dieses Anspruchs beurteilen mag - der,,praktische", politisierende Vedanta spielt in der philosophischen Selbstdarstellung des modernen Indien eine massgebliche Rolle, und er durfte ein ernsthafteres forscherliches Interesse verdienen, als ihm bisher von einigen richtungweisenden Ansatzen abgesehen zuteil geworden ist. In unmittelbarem Zusammenhang damit ist auch die Frage nach dem Gesellschaftsbezug" der klassischen indischen Philosophie neu zu 100 - 1) In grosser Scharfe aussert sich schon Hegel uber die,,Abstraktheit" der indischen philosophischen Spekulation und ihre mangelnde,,Vermittlung" mit der Sphare geschichtlicher und politisch-gesellschaftlicher Konkretion; vgl. W. Halbfass, Hegel on the Philosophy of the Hindus. German Scholars on India. Contributions to Indian Studies, I, Varanasi 1973, S. 107-122, bes. S. 114-117. Um nur an zwei weitere Beispiele zu erinnern: Max Weber setzt sich eingehend mit dem nach seiner Meinung vollstandigen Fehlen sozialer Kritik und Programmatik in der indischen religios-philosophischen Tradition auseinander; vgl. Gesammelte Aufsatze zur Religionssoziologie II: Hinduismus und Buddhismus, Tubingen 1923. - Albert Schweitzer beklagt das Fehlen innerweltlich-ethischer, mitmenschlicher Dimensionen; vgl. Die Weltanschauung der indischen Denker, Munchen 1935; sowie M. D. Hunnex, Mysticism and Ethics: Radhakrishnan and Schweitzer, Philosophy East and West 8 (1958/59), S. 121 136. 2) Zur Trennung von dharma und moksa im Vedanta vgl. Sankara zu Brahmasutra I, 1, 1-4. 3). S. u., Kap. V. [6] Page #2 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Wilhelm Halbfass stellen -- in einer Weise, die weder auf ein blosses Konstatieren der erwahnten ,,Arbeitsteilung" noch auf ein ideologiekritisches Entlarven gesellschaftlicher Interessen hinauslauft, sondern zunachst einmal den in den indischen philoso phischen Texten tatsachlich zu findenden, wenn auch recht verstreuten und vereinzelten gesellschaftsbezogenen Ausserungen nachgeht. Dass es eine Tradition politisch-gesellschaftlichen Philosophierens, die der von Platons Staat" zum Marxschen Programm einer Verweltlichung" der Philosophie reichenden Entwicklung an die Seite gestellt werden konnte, in Indien nicht gibt, bleibt ganz unbestreitbar). Dennoch werden gesellschaftliche Themen gelegentlich auch in philosophische Zusammenhange einbezogen, und philosophische Begriffe und Fragestellungen werden dabei auf gesellschaftliche Sachverhalte angewendet. Die Bedeutung solcher Anwendungen ist nicht an einem bloss quantitativen Massstab zu messen: Auch in ihrer Vereinzelung, auch als Randphanomene der indischen Philosophie sind sie bemerkenswerte Symptome fur ihre grundsatzliche Einstellung und ihre geschichtliche Rolle. Der in der indischen Tradition nachstliegende und beherrschende gesellschaftstheoretische Bezugspunkt ist die Konzeption der vier hauptsachlichen Kasten (varna), und darauf wird sich die folgende Abhandlung konzentrieren: Es werden, vor allem aus der Literatur der hinduistischen Systeme des 1. Jahrtausends n. Chr., philosophische Zeugnisse zu diesem Thema zusammengestellt, und es wird untersucht, wie die varna-Ordnung der Gesellschaft im Rahmen kosmologischer, metaphysischer und erkenntnistheoretischer Erorterungen dargestellt, analysiert und rationalisiert wird. Eine volle Bestandsaufnahme der in diesem Zusammenhang relevanten Textstellen ist bisher weder von den Historikern der indischen Philosophie noch von den Historikern des Dharmasastra vorgelegt worden, und sie kann und soll auch im folgenden nicht geboten werden. Die im folgenden prasentierten und diskutierten Textstellen durften jedoch reprasentativ und massgeblich sein, und fur die Kennzeichnung grundsatzlicher Entwicklungslinien und Problemlagen durften sie eine ausreichende Textgrundlage bilden). Es ist zu betonen, dass die folgenden Erorterungen als ein Beitrag zur indischen Philosophiegeschichte, nicht aber zur Geschichte tatsachlicher sozialer Verhaltnisse gemeint sind; und die philosophischen und theoretischen Stellungnahmen, die wir dabei untersuchen, sind nicht so sehr Stellungnahmen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst und per se, sondern zu Strukturen und Zusammenhangen, die ihrerseits bereits in erheblichem Masse theoretischer Natur sind. - Dies ist auch zu berucksichtigen fur das Verstandnis des Wortes ,,Kaste", das im folgenden stets im Sinne der theoretischen warna-Struktur gebraucht ist. - 278 4) Die Arthasastra-Literatur darf, als Methodologie der Regierungs- und Verwaltungspraxis, ja nicht mit einer umfassenden politischen Philosophie verwechselt werden. 5) Dabei halten wir uns ganz an die Texte selbst und lassen die weitgehend legendarischen Berichte uber ihre Autoren beiseite. [6] Page #3 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 279 II. Zur Vorgeschichte der philosophischen varna-Theorien Die Frage nach den Ursprungen des Kastensystems liegt ebenso ausserhalb unserer Themenstellung wie das Problem seiner weiteren geschichtlichen Entwicklung und seiner tatsachlichen Rolle in der indischen Gesellschaft. Hinsichtlich seiner Darstellung in den mythologischen, kosmologischen und ritualistischen Texten der Fruhzeit und seiner theoretischen Ausgestaltung im Dharmasastra mussen wir uns darauf beschranken, auf die vorliegenden Standardwerke, vor allem auf die Darstellung P. V. Kanes), sowie auf die alteren, aber immer noch nutzlichen Zusammenstellungen von J. Muir?) und A.Webers) zu verweisen. Es durfte jedoch angebracht sein, wenigstens einige grundsatzliche Hinweise zu solchen Aspekten der varna-Konzeption zu geben, die fur spatere philosophische Fragestellungen und insbesondere fur die Auseinandersetzungen zwischen Buddhisten und Hindus wichtig geworden sind. Von Anfang an ist im Begriff der vier varna, beispielhaft vor allem im Begriff des Brahmanen, Kosmisches und Gesellschaftliches, ethische Norm und ,,biologischer" Tatbestand miteinander verbunden. Das entspricht ganz einem Weltbild, dessen Leitbegriffe Normatives und Faktisches, Ethisches und Physisches ineinander verweben, und es bleibt innerhalb dieses Weltbildes grundsatzlich unproblematisch und fugt sich insbesondere auch der alsbald ausgebauten Lehre von der Tatvergeltung und vom Kreislauf des Daseins (karman und samsara) harmonisch eino). Gleichwohl gibt es schon in der Literatur der Brahmana-Periode mehrere Termini, die eine entschiedene begriffliche Trennung der Aspekte bzw. Bedeutungsmomente anzeigen: Dem lediglich durch seine Abstammung oder auch durch das Erfullen rein ausserlicher Funktionen bestimmten Brahmanen (jatibrahmana; brahmabandhu) wird der durch adaquates Wissen und Handeln ausgezeichnete und erst dadurch zum vollen Sinn seines Brahmanentums gelangte Brahmane kontrastiert 10). Das ethische und das hereditare Moment treten insofern auseinander, und sie werden, in einer fur die Entwicklung philosophischer Fragestellungen bemerkenswerten Weise, einander begrifflich nebengeordnet. Dabei scheint die Bedeutung der geburts 6) P. V. Kane, History of Dharmasastra, vols. 1-5, Poona 1930-1962; bes. vol. 2, S. 19-164. 7) J. Muir, Original Sanskrit Texts on the Origin and History of the People of India, vol. 1, London 1874 (repr. Amsterdam 1967). 8) Weber, Collectanea (s. Abkurzungsverzeichnis). Der Zusammenhang mit diesen Lehren ist fur die folgenden Erorterungen stets im Auge zu behalten. Zu erinnern ist auch an den Ursprungsmythus, demzufolge die Entstehung der verschiedenen Kasten durch ein karmanbedingtes Absinken aus dem Brahmanenstande zu erklaren ist; vgl. z. B. Mahabharata XII, 181, 10-20; wohlbekannt ist dieser Mythus auch bei den Buddhisten, wie vor allem das Aggannasutta des Dighanikaya zeigt. - Ein kosmogonisches Vorbild dafur gibt es bereits im Satapathabrahmana XIV, 4, 2, 23-27; vgl. dazu Weber, a. a. O., S. 9-10. 10) Weber, Collectanea, bes. S. 97 ff. Page #4 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 280 Wilhelm Halbfass massigen Legitimation gelegentlich in den Hintergrund zu treten 11); es ist jedoch nicht gerechtfertigt, solche verstreuten und oft ambivalenten Stelleneinem im Neo-Vedanta nicht seltenen Anspruch gemass --- als Beleg fur eine weitgehende Mobilitat oder ein vorherrschend ethisch-charakterologisches Verstandnis der Kastenordnung anzusehen. In diesem Rahmen setzt die Kritik der Buddhisten ein. Ihre ,,ethisierende" Auslegung der Kastenbegriffe ist keineswegs eine radikale und revolutionare Umdeutung. Sie greift vielmehr auf Aspekte zuruck, die im Bedeutungsspektrum dieser Begriffe langst gegeben sind, in der Weise freilich, dass das ethische Bedeutungselement als das Wesentliche, Eigentliche hervorgehoben und gegen andere Momente ausgespielt wird 12). Nun erst wird das Nebeneinander und die gelegentliche Konkurrenz des Ethisch-Normativen und des Faktisch-Hereditaren zum Problem; die Nebenordnung wird zum scharfen Kontrast des Relevanten und des Irrelevanten. Schliesslich wird der Sinn der Kastenunterscheidungen selbst in Frage gestellt, und die herkommlichen Kriterien werden einer grundsatzlichen Kritik unterzogen 13). Eine Antwort auf diese Problematik ist im Begriff des svadharma enthalten, wie wir ihn in einigen spateren Upanisads und vor allem in der Bhagavadgita finden 14). Dieser Begriff, der dem ethischen Motiv grosses Gewicht einraumt, bewahrt und verteidigt zugleich die geburtsmassige Legitimation der Kastenzugehorigkeit. Das hereditare und das ethische Moment bleiben getrennt und stehen sogar in einem Kontrast zueinander; sie werden einander jedoch in der Weise zugeordnet, dass sie nicht in Konkurrenz zueinander treten konnen und dass die Gefahr der Schwachung des hereditaren Moments umgangen wird. Die ethische Bewertung des Verhaltens wird auf die vier Stufen geburts 11) A. a.O., S. 70f.; 97 ff. --- Recht weit geht in dieser Hinsicht gelegentlich auch das Mahabharata; vgl. z. B. III, 206, 12: yas tu dudro dame satye dharme ca satatotthitah tam brahmanam aham manye, vrttena hi bhaved dvijah|| Wenn es auch ganzlich verfehlt ware, in solchen und ahnlichen Ausserungen eine grund. satzliche Kritik am Kastensystem zu sehen, so bleibt doch angesichts spaterer Entwicklungen ihre ethisierende Tendenz bemerkenswert. 12) Im Pali-Kanon nehmen u. a. die folgenden Texte das Kastenthema auf: Agganna-, Ambattha-, Samannaphala- und Sonadandasutta im Dighanikaya; Assalayana. und Madhurasutta im Majjhimanikaya; Vasetthasutta im Suttanipata. - Scharfer wird die Kritik im Sardulakarnavadana des Divyavadana (ed. E. B. Cowell/R. A. Neil, Cambridge 1886; separate Ausg. S. K. Mukhopadhyaya, Santiniketan 1954; vgl. auch W. Zinkgraf, Vom Divyavadana zur Avadana-Kalpalata, Heidelberg 1940, Mat. z. Kunde d. Buddh. 21) und in der dem Asvaghosa wohl zu Unrecht zugeschriebenen Vajrasuci (ed. Weber 1859; ed. Mukherjee 1949). 18) Zu erinnern ist besonders an die Vajrasuci. 14) Vgl. die unten, Anm. 36, angefuhrten Stellen. - Zwar ist aller dharma in gewissem Sinne ,,je eigener dharma" (svadharman als Adjektiv schon Rgveda III, 21, 2), aber dies erhalt in der Gita doch einen neuen Akzent. [8] Page #5 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 281 massiger Zugehorigkeit verteilt; ein jeder hat sich gemass seiner geburtsmassigen Position zu bewahren. Ein ,,guter" Sudra mag ethisch ,,besser" sein als ein ,,schlechter" Brahmane; aber solche ethische Rangordnung andert doch nichts daran, dass ein Brahmane stets Brahmane und ein Sudra stets Sudra zu bleiben hat 15). Das Respektieren dieser hereditaren Zugehorigkeit und das Vermeiden von Vermischung (samkara) ist selbst wiederum, gemass dem Begriff des svadharma, ein Massstab und sogar eine fundamentale Bedingung ethischer Bewahrung: Besser ist es, sein eigenes standesgemasses Werk schlecht, als das Werk eines anderen Standes gut zu tun 16). In den Umkreis sprach- und erkenntnistheoretischer Erorterungen wird das Problem der Kastenbezeichnungen und Kastenunterschiede ,entsprechend der ,,Nebenordnung" ethischer und biologischer Momente, im Mahabhasya des Patanjali einbezogen. In einem Abschnitt des Tatpurusahnika 17) (zu Panini II, 2,6: nan), in dem es um die Funktion der Partikel a -- in Bildungen wie abrahmana geht, wird die Moglichkeit erwogen, dass die Nominalbedeutung, auf die sich die Negationspartikel in einem solchen Falle bezieht, im Sinne einer Summierung von Eigenschaften (gunasamudaya) zu verstehen ist, dass also das a- in diesem Zusammenhang einen Mangel oder eine Unvollstandigkeit anzeigt. Gleichzeitig ist dadurch die Anwendbarkeit des Wortteiles -brahmana erklart, insofern ein Teil derjenigen Eigenschaften, deren Gesamtheit die volle Bedeutung des Wortes brahmana ausmacht, auch in der Zusammensetzung mit der Negationspartikel erhalten bleibt. Den traditionellen ,,Bedeutungsteilen" Askese (tapas), Gelehrsamkeit (sruta) und legitime Geburt (yoni) werden mehrere ausserliche Identifikationsmerkmale hinzugefugt 18) (gaura, sucyacara, pingala, ka pilakesa, d. h. hellfarbig, von einwandfreiem Lebenswandel, braunaugig, mit rotbraunem Haar). Im Sinne dieser Interpretation ware ein mit bestimmten ethischen und physiologischen Merkmalen ausgestatteter vaisya ebenso als ,,Teilbrahmane" anzusehen wie ein Mensch, dessen ,,Brahmanentum" lediglich in seiner Herkunft von brahmanischen Eltern besteht. - Im ganzen bleibt diese Diskussion jedoch recht unverfanglich, und sie durfte kaum als Bezugnahme auf schwerwiegende philosophische oder gesellschaftstheoretische Konflikte zu verstehen sein. Der begriffliche Status des Brahmanen usw. erscheint keineswegs als gefahrdet, und die Tatsache, 15) Vgl. z.B. Bhagavadgita I, 41ff. (dazu unten, Anm. 30) und den Gebrauch von svadharma, der den traditionell-hereditaren Status stets gelten lasst. 16) A.a. O. III, 35: sreyan svadharmo vigunah paradharmat svanurthitat; auch XVIII, 47 und Manu X, 97: varam svadharmo viguno, na parakhyah svanusthitah. 17) Vgl. The Vyakarana-Mahabhasya, ed. F. Kielhorn, 3rd ed.by K. V. Abhyankar, vol. 1, Poona 1962, S. 411f. 18) Vgl. a.a.O., S. 411: tapah srutam ca yonio ca-ity etad brahmanakarakam/ tapaherutabhyam yo hino jatibrahmana eva sah// tatha gaurah sucyacarah pingalah kapilakesa ity etan apy abhyantaran brahmanye gunan kurvanti. [9] Page #6 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 282 Wilhelm Halbfass dass es problematische Randerscheinungen und Ausnahmefalle gibt, wird nicht als Anlass zu grundsatzlichem Zweifel an der naturgegebenen Gultigkeit der Kastenordnung und an der sicheren Identifizierbarkeit der Kastenzugehorigkeit angesehen: Im taglichen Leben und aus alter Tradition weiss man, wie man einen Brahmanen von einem Nicht-Brahmanen zu unterscheiden hat. Korperliche Merkmale wie Haar- und Hautfarbe sowie Eigentumlichkeiten der beruflichen Tatigkeit gelten dabei noch als gultige Kriterien, und weiterreichende Fragen nach der ,,Eigentlichkeit" oder Beweisbarkeit des Brahmanentums usw. werden nicht gestellt 19). Ein ganz anderes Niveau des Problem bewusstseins wird in der Mimamsa, vor allem bei Kumarila, entwickelt. Hier wird, wie in einem spateren Abschnitt dieser Arbeit zu zeigen sein wird, die buddhistische Herausforderung voll aufgenommen, die Trennung des ethischen und faktischen Bedeutungsmoments wird in aller Entschiedenheit durchgefuhrt, und die Prioritat der geburtsmassigen Legitimation wird zu einer zuvor unbekannten begrifflichen Scharfe entwickelt 20). Die Sicherung der Kastenbegriffe gegenuber den aus der Summierung verschiedener Bedeutungsmomente resultierenden Ambivalenzen und gegenuber den Gefahren der Mobilitat und Variabilitat ist hier zum massgeblichen Motiv geworden. Ganz allgemein durfen wir sagen, dass die Erorterungen des varna-Systems in der traditionellen hinduistischen Philosophie weitgehend apologetisch orientiert sind. Sie bleiben Reaktion auf Kritik und Herausforderung von aussen; und dem jeweiligen philosophischen Entwicklungsstand und der grundsatzlichen systematischen Einstellung entsprechend werden metaphysische, kosmologische und erkenntnistheoretische Begriffe und Theorien in den Dienst dieser im wesentlichen apologetischen Aufgabe gestellt. Vor diesem Hintergrund und in diesem Rahmen ist die Geschichte der ,,Anwendungen" philosophischer Begriffe auf das Kastenthema zu sehen, dem unsere folgende, auf exemplarische Beispiele beschrankte Ubersicht und Diskussion gilt. III. Kastentheoretische Anwendungen der Lehre von den drei guna Den weitesten ausserphilosophischen Anwendungsbereich unter allen in der klassischen indischen Philosophie vertretenen Theorien hat die Lehre von den drei guna, d. h. den drei Grundkraften der dynamischen, die sichtbare 19) Die Anwendung des Wortes brahmana auf Menschen, denen die geburtsmassige Legitimation fehlt, bleibt letztlich auf Falle des ,,Zweifels" (samdeha) und der unzureichenden oder fehlerhaften Unterweisung (durupadesa) beschrankt, die die in normalen Situationen bestehende Sicherheit nicht zu gefahrden vermogen: jatihine samdehad durupadesac ca brahmanasabdo vartate ... atas ca samdehad durupadesad va, na hy ayam kalam masarasivarnam apana asinam drstva-adhyavasayati brahmano 'yam iti (a.a.O., S. 411-412). 20) S. u., Kap. IV. [10] Page #7 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 283 Welt periodisch aus sich entfaltenden Urmaterie (pradhana) oder Natur (prakrti). Diese aus vorphilosophischen, mythologischen Quellen gespeiste Theorie des Samkhya 21) bietet ein potentiell universales und tatsachlich vielfach angewendetes Prinzip der Klassifikation und Erklarung empirischer Gegebenheiten; oft durchaus unabhangig von den ubrigen Lehren des Sankhya findet es mancherlei Verwendung in der Kosmologie, Psychologie, Medizin, Diatetik, Kunsttheorie usw. Besonders beliebt ist die guna-Theorie fur die Klassifikation und Typisierung lebender, zumal menschlicher Wesen und ihrer Verhaltensweisen. Zugleich besteht die Moglichkeit, sie als Mittel der Erlauterung, Begrundung oder auch Neudeutung schon bestehender Klassifikationen und Typisierungen zu verwenden, und es kann kaum uberraschen, dass sie auch mit der bedeutsamsten dieser Klassifikationen, namlich der varna-Struktur der Gesellschaft, in mancherlei Verbindung gebracht worden ist. Nun sind in den Texten des klassischen Samkhya aus dem I. Jahrtausend n. Chr., d. h. vor allem in Isvarakrsnas Samkhyakarika und in den zugehorigen Kommentaren, kaum explizite Stellungnahmen zu finden und -- da es hier ja um kosmologisch-metaphysische und soteriologische Grundfragen geht - wohl auch nicht zu erwarten. Beachtung verdient immerhin Samkhyakarika, v. 53: astavikalpo daivas, tairyagyonyas ca pancadha bhavati/ manusyas ca-ekavidhah, samasato bhautikah sargah// (Der gottliche Evolutionsbereich hat acht Arten, der tierische funf, der menschliche eine; dies ist, zusammengefasst, die Evolution der Lebewesen). Diese Aufzahlung wird unmittelbar darauf (v. 54) durch eine der Verteilung der drei guna entsprechende hierarchische Anordnung erganzt. - Nun ware es gewiss verfehlt, aus der Kennzeichnung des Menschengeschlechts als ,,einheitlich" (ekavidha) weiterreichende Schlusse zu ziehen. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass, was immer auch an Unterteilungen des Menschengeschlechts vorausgesetzt bleiben mag, dies jedenfalls nicht in den Rang primarer kosmologisch-biologischer Relevanz erhoben wird ( wie es in der vielzitierten Hymne Rgveda X, 90 und in den zahlreichen an sie anschliessenden Texten geschieht). Dies im indischen Denken nicht selten zerrinnende Verstandnis des Menschen in seiner Einheit und Abgrenzbarkeit scheint im naturphilosophischen Kontext der Samkhyakarika noch eine gewisse selbstverstandliche Geltung zu haben. Zu erwahnen ist in diesem Zusammenhang die unterschiedliche Reaktion der Kommentatoren auf die zitierte Samkhyakarika-Stelle: Wahrend der 21) Zur Geschichte und Systematik des Samkhya vgl. E. Frau wallner, Geschichte der indischen Philosophie, Bd. I, Salzburg 1953. [11] Page #8 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 284 Wilhelm Halbfa88 wahrscheinlich alteste 22) uns erhaltene Kommentar, die anonyme Yuktidipika, das Wort ekavidha durch die Bemerkung erklart und begrundet, dass es ja keine Subspecies gebe (jatyantaranu pa patteh 23)), beschranken sich die sog. Matharavitti und die kurzlich veroffentlichte, auch in anderer Hinsicht eng verwandte sog. Samkhyasaptativitti darauf, es eher zu entscharfen durch die Erklarung, dass das (dadurch als einheitlich charakterisierte) Menschengeschlecht aufgrund der Gleichheit des Merkmals, d. h. wohl des Aussehens, vom Brahmanen bis zum Candala reiche 24). Eindeutig abschwachend ist der Hinweis Vacaspatis, dass bei der Kennzeichnung des Menschengeschlechts als einheitlich die Unterteilung in die Subspecies, Brahmanentum usw., lediglich ausser Betracht bleibe25). In jedem Fall kann von expliziter gesellschaftlicher Bezugnahme im klassichen Samkhya kaum die Rede sein; und kastentheoretische Anwendungen der drei guna finden wir nicht hier, sondern in vor- und nachklassischen Samkhya-Texten, bzw. in Texten aus alterer wie auch neuerer und neuester Zeit, die zum naheren oder weiteren Umkreis des Samkhya zu rechnen sind. Uber den beruhmtesten der fruheren mit Samkhya-Begriffen operierenden Texte, die Bhagavadgita, ist auch in diesem Zusammenhang viel, und oftmals Kontroverses, gesagt worden. Wir beschranken uns hier auf einige grundsatzliche, fur unser Thema unmittelbar einschlagige Hinweise. Unter Berufung auf Stellen wie IV, 1326), die besagen, dass die Einrichtung der vier varna der Einteilung der guna und der Werke folge, sowie allgemein auf die Rolle der guna-Theorie in der Bhagavadgita, ist im modernen Hinduismus oft die These vertreten worden, dass hier die geburtsmassig-hereditare Auffassung des Kastensystems einer ethischen oder charakterologischen gewichen sei. Mit besonderer Entschiedenheit ist diese Ansicht von S. Radhakrishnan vorgetragen worden, der auch in anderer Hinsicht dazu neigt, die Bhagavadgita dem buddhistischen Dhammapada an die Seite zu stellen 27). Als weitere Stutze dieser ethisierenden Interpretation erscheint dabei der Begriff des svadharma. Es ist sehr symptomatisch fur den literarischen Charakter und fur die geschichtliche Rolle der Bhagavadgita, dass sie auch in genau entgegengesetzter 22) An dieser Auffassung ist einstweilen trotz der Erwagungen E. A. Solomons (Samkhyavstti (V 2], Ahmedabad 1973, S. 6-7) festzuhalten. 23) Yuktidipika, ed. R. C. Pandeya, Delhi 1967, S. 137. 24) Vgl. Samkhyakarika with Matharavrtti, ed. V.P. Sarma (Benares 1922), zum angeg. Vers: tulyalingatvad brahmanadicandalantah; Samkhyasaptativstti (V), ed. E. A. Solomon (Ahmedabad 1973), S. 68: tulyalingatvad brahmanadis candalantah. 25) Vgl. Samkhyatattvakaumudi zu v. 53: brahmanatvad yavantarajatibhedavivaksaya. 26) caturvarnyam maya srstam gunakarmavibhagasah. 27) Was sich freilich noch deutlicher auf die Interpretation des Dhammapada auswirkt; vgl. Radhakrishnans kommentierte Ausgaben und Ubersetzungen beider Werke; auch sein The Hindu View of Life, (zit.) London 1968, S. 86: ,,Caste is a question of character, [12] Page #9 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 285 Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie Weise interpretiert und als autoritatives Dokument der traditionell-geburtsmassigen Auslegung der vier varna herangezogen worden ist. So zitieren traditionalistische neuzeitliche Pandits wie Vasudeva Sastrin Abhyankara und Durgaprasada Dviveda die Bhagavadgita-Stellen uber svadharma usw. als Belege fur die hereditare Auffassung und gegen die ethisierende Zersetzung der Kastenbegriffe 2); dabei setzen sie voraus, dass die hereditare Kastenzugehorigkeit und die den Kasten traditionell zugewiesene gesellschaftliche Rolle auch dem wahren und metaphysischen Wesen der jeweiligen Individuen entspricht. Nun gehort es zu den Eigentumlichkeiten der Bhagavadgita, entschiedene Festlegungen zu vermeiden und allgemein zur Versohnung, Synthese und Ambivalenz zu tendieren). Wir konnen also nicht erwarten, dass sie eine Bedeutung oder einen Aspekt des varna-Begriffs ausdrucklich und mit dem Anspruch der Ausschliesslichkeit gegen andere Bedeutungen und andere Aspekte ausspielt. Gleichwohl kann kein Zweifel daran bestehen, dass die grundsatzlich hereditare Bedeutung der Kastenordnung hier durchaus nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr auf eine subtile und konziliante Art verteidigt wird, und zwar gegen eben diejenige vom Buddhismus vertretene ethisierende Deutung, der sie andererseits weit entgegenzukommen scheint; die Vermischung der Kasten (varnasamkara) wird in den Anfangskapiteln ja mehrfach als ein bedrohliches Phanomen genannt 30). Ethisch-charakterologische Klassifikationen erscheinen neben und innerhalb der biologisch-hereditaren Kastenordnung, ohne sie zu ersetzen oder auch nur zu gefahrden"1). Wir konnen hier gewiss nicht mehr von einem naiven und unreflektierten Nebeneinander der Bedeutungen und Aspekte reden wie in den alten, d. h. vor allem vorbuddhistischen Texten. Ethisches und Biologisch-Hereditares uberlagern und uberschneiden sich, jedoch in einer Weise, dass die von den Buddhisten herbeigefuhrte Konfrontation der Bedeutungen offenbar vorauszusetzen ist 3). Der Begriff des svadharma, d. h. der jeweils eigenen, standesgemassen Pflicht, der dem Ethischen viel Raum zu gewahren scheint, sichert und stabilisiert zugleich die hereditare und uberkommene Ordnung als Rahmen und Voraussetzung ethischer Wertung; und entsprechend der Lehre von der Wiedergeburt und der Nachwirkung aller Taten (samsara; karman u. a.) ist die Kastenordnung ja zugleich ein Gefuge, in der der ethische Rang fruherer Existenzen seinen Ausdruck finden kann, ohne dass sie die ethische Qualitat des jeweils gegenwartigen Lebens anzuzeigen brauchte. Die in der 28) S. u., Anm. 105-106; sowie CV, S. 198; zu den drei guna: S. 2. 29) Dies hat bekanntlich zu unnotigen Spekulationen uber verschiedene Textschichten und Interpolationen innerhalb der Bhagavadgita gefuhrt. 30) S. o., Anm. 15. Zwar spricht in diesem Falle Arjuna; er wird hierzu jedoch von Krsna keineswegs eines besseren belehrt. In III, 24 (Krsna) steht samkara offenkundig fur varnasamkara. 31) Vgl. z. B. Bhagavadgita VII, 16. 32) Dies genugt naturlich nicht, um eine definitive Antwort auf die Frage nach dem buddhistischen ,,Einfluss" auf die Bhagavadgita zu geben. [13] Page #10 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 286 Wilhelm Halbfass schon zitierten Stelle IV, 13 zu findende Rede von der ,,Einteilung der guna und der Werke" (gunakarmavibhaga) ist ohne Zweifel im Rahmen der Lehre vom samsara zu verstehen. Die Anwendung des Ausdrucks karman auf die vier Kasten bleibt in aufschlussreicher Weise zwiespaltig: Wahrend fur die beiden hoheren varna (brahmana, ksatriya) ,,Werke" im Sinne ethisch relevanten Handelns (acara) als eigentumlich betont werden, werden fur die beiden niederen varna (vaisya, sudra) ,,Werke" im Sinne von Beschaftigungsweisen, Erwerbsfunktionen hervorgehoben 33). Der Hintergrund dieser Verfahrensweise ist leicht zu durchschauen: Der Brahmanenstand, in geringerem Masse auch der Stand der Ksatriya, ist seit alters her mit inhaltlich gefullten ethischen Wertvorstellungen wie Weisheit, Wahrhaftigkeit und Selbstzucht verknupft, die den hoheren Kasten vorbehalten bleiben und keineswegs auch den niederen Kasten als ,,standesgemasse Pflicht" (svadharma) zugewiesen werden konnen. Diese sind ja (hauptsachlich im Falle des Sudra) mit ethischen Unwertvorstellungen wie unreine Lebensweise, Zugellosigkeit und Stumpfsinn assoziiert, von denen man jedoch gleichfalls nicht erwarten kann, dass sie als ,,standesgemasse Pflicht" zugewiesen und anempfohlen werden. Was demnach bleibt, ist die Zuweisung von Beschaftigungsweisen, die auch fur die niederen Kasten den svadharma-Begriff mit Inhalt fullen konnen und deren getreuliche Erfullung sodann auch die Dimension des ethisch Wertvollen eroffnet 34). Insofern kann zwar ein Sudra ein ,,guter" Sudra sein; jedoch kann ihm solche ethische Standesqualitat in keiner Weise dazu verhelfen, das dem Brahmanen genuin zugehorige, ,,eingeborene" Verhaltenspotential (brahmakarma svabhavajam; XVIII, 42) zu erreichen. Es ist eine uberdeutliche Paraphrase dieses Standpunktes, wenn ein Pandit des 19. Jahrhunderts, ,, Soobajee Bapoo", die rhetorische Frage stellt, ob denn ein noch so tuchtiger (d. h. seine Eselsfunktion noch so perfekt erfullender) Esel jemals zu einem Rosse werden konne 36). Es ist recht bezeichnend, dass die zentralen Feststellungen der Bhagavadgita uber den svadharma auch in Manus Gesetzbuch Verwendung finden 36). -- Manu bedient sich im ubrigen auch der guna-Theorie, um einer von ihm prasentierten hierarchischen Klassifikation aller Lebewesen gleichsam metaphysisch-kosmologischen Nachdruck zu verleihen. Es handelt sich hier um eine der typischen 88) Vgl. a.a. O. XVIII, 41-44; auch IV,13; sowie D. P. Vora, Evolution of Morals in the Epics, Bombay 1959, S. 129. -- Andere Stellen des Mahabharata gehen in der ethi. sierenden Tendenz weiter als die Bhagavadgita; s.o., Anm. 11. 34) Naturlich haben auch die hoheren Kasten ihre traditionellen Erwerbstatigkeiten; es ist jedoch charakteristisch, dass diese an den zitierten Stellen nicht genannt werden. 35) Soobajee Bapoo in Vajrasuci, ed. Weber, S. 236. 36) Vgl. Bhagavadgita III, 35; XVIII, 47 und Manu X, 97; der Begriff avadharma findet sich ferner Bhagavadgita II, 31; 33; VIII, 35; auch in der Maitri-Upanisad (IV, 3) spielt er eine entsprechende Rolle; ahnlich svakarman, z. B. Gita XVIII, 45f. [14] Page #11 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 287 ,,vermischten Hierarchien", die in ,,vorsystematischen" Texten so gelaufig sind 37). - Wir begegnen, in einer durch die Verteilung der drei guna sattva, rajas und tamas bestimmten aufsteigenden Ordnung, u. a. den folgenden Wesen: Pflanzen (sthavara), Wurmer (krmi), Schildkroten, Sudras, Barbaren (mleccha), Lowen, Vogel, Heuchler (dambhikah purusah), pisaca-Damonen als wesentlich von tamas beherrscht; Ringkampfer (malla), Schauspieler (nata), Ksatriyas, grosse Disputanten (vadayuddha pradhana), Gandharven als hauptsachlich durch rajas bestimmt; Asketen (yati), gewisse Brahmanen (vipra), Sterne (naksatra), rsi, deva, Brahma, dharma, der mahan (d. h. die kosmische buddhi, ,,Erkenntnis"), und sogar das avyakta, d. h. die nichtmanifestierte ,,Natur" selbst, als wesentlich von sattva beherrscht. Innerhalb dieser Aufzahlung gehen offenkundig mancherlei Gesichtspunkte und Kriterien durcheinander; die Bezeichnungen sind u. a. ethisch, charakterologisch, mythologisch, biologisch-kosmologisch oder auch auf die Erwerbstatigkeit bezogen. Innerhalb der menschlichen Sphare gelten die vier varna nicht als umfassendes und ausschliessliches Prinzip der Klassifikation und Subordination (die Vaiaya werden uberhaupt nicht genannt). Dass es dabei zu mancherlei Uberschneidungen und Vermengungen (dem von spateren systematischen Philosophen so sorgfaltig vermiedenen ,,Uberlappen der genera", jatisamkara im logischen Sinne) kommt, bleibt ganz ausser Betracht. Fur solches Einfugen der vier varna in andersartige und umfassendere Hierarchien und Evolutionsreihen gibt es eine Reihe von Beispielen u. a. im Mahabharata 38) und zuvor in der Literatur der Brahmana-Zeit, wie die von A. Weber aus dem agnicayana-Ritual zitierte ,,Schopfungstabelle" zeigt 38). Die Frage, inwieweit in diesen Fallen eine ursprungliche Verflechtung der varna-Ordnung mit anderen Hierarchien oder eine nachtragliche Zusammenfugung anzunehmen ist, konnen wir hier nicht naher diskutieren. - Bereits auf einem anderen begrifflichen Niveau steht der Abschnitt aus dem Sukanuprasna-Kapitel des Mahabharata, der in fortschreitenden Dichotomien, in einer an Platons Sophistes und Politikos erinnernden diharetischen Verfahrensweise, von biologischen Grundkategorien zum Begriff des wahren, das brahman kennenden Brahmanen fuhrt 40). Solche aus biologischen und allgemein kosmologischen Kategorien heraus zu ethischen Begriffen fuhrenden und schliesslich im Begriff des wahren Brahmanen, als des wahrhaft Weisen oder des wahren Vedakenners, kulminierenden Aufzahlungen haben im ubrigen eine Tradition, 37) Manu XII, 42-52. 38) Vgl. z. B. XII, 200; zu den vier varna: v. 31-33. 38) Weber, Collectanea, S. 7; naturlich ist auch an Rgveda X, 90 zu erinnern. 40) Mahabharata XII, 229, 12-25. [15] Page #12 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 288 Wilhelm Halbfass die sich vom Satapathabrahmana zu manchen jungeren Texten verfolgen lasst 41). Kehren wir nun zu unserem Thema der Auslegung der varna-Ordnung durch die guna-Theorie zuruck, so bleibt zu bemerken, dass die drei guna nicht nur im Rahmen allgemeiner und umfassender Hierarchien, sondern auch speziell und individuell auf die vier varna angewendet werden - nicht selten im Zusammenhang mit der Lehre von den Kastenfarben 42). Dabei stellt sich freilich die Schwierigkeit oder zumindest Unbequemlichkeit ein, dass ein Dreierschema zur Erklarung und Rationalisierung einer Vierergruppe dienen soll und dass, ganz allgemein, zwei Schemata miteinander verbunden werden, die aus ganzlich unabhangigen, wenn nicht divergenten Quellen stammen 43). Eine scheinbar naheliegende, im indischen Kontext freilich doch uberraschende Losung dieses Konflikts bietet die Anugita im Mahabharata; sie lasst es bei drei varna bewenden: ,,Das tamas ist dem Sudra, das rajas dem Ksatriya eigen; das sattvam als Hochstes dem Brahmanen; so treten in den drei Kasten die drei gunas auseinander" 44). -- Nun ware es gewiss verfehlt, von einem durchaus subalternen Text wie der Anugita eine kritische, autonome Anwendung philosophischer bzw. kosmologischer Begriffe auf gesellschaftliche Konventionen, und d. h. eine kritische Rekonstruktion und Reform der varnaOrdnung am Massstab der guna-Metaphysik zu erwarten; und mehrere andere Stellen lassen keinen Zweifel daran, dass die Anugita keinesfalls ernstlich die Vierzahl der varna in Frage stellt 45). Andere Autoren versuchen, die Diskrepanz, die in der Anugita offenbar durch blosse Nachlassigkeit umgangen ist, durch Hilfskonstruktionen zu uberbrucken, meist in der Weise, dass den Vaisya eine Kombination aus rajas 41) Vgl. Weber, Collectanea, S. 97; an spateren Texten ist z. B. an Vivekacudamani (Einl.), auch an popularere Texte wie Adhyatmaramayana und Ramcaritmanas zu erinnern. 42) Zur Zuordnung von guna und Kastenfarben vgl. Mahabharata XII, 181,5; Weber, Collectanea, S. 10-11; vgl. auch Yogasutra IV, 7; H. von Glasenapp, Die Lehre vom karman in der Philosophie der Jainas, Leipzig 1915 (Diss. Bonn), S. 59 ff. 43) Zu einer ahnlichen Unbequemlichkeit kommt es auch bei der Zuordnung der guna zu den ,,Lebenszielen" (purusartha), die nur dann unproblematisch ist, wenn man sich an die alte Dreiergruppe (trivarga) ohne ,,Erlosung" (moksa) halt; dies tut z. B. Manu XII, 38 mit der Zuordnung kama -- tamas, artha - rajas, dharma -- sattva. Bhagavan Das, der auch moksa mit unterbringen will, muss zu einer umstandlichen Hilfskonstruktion Zuflucht nehmen (vgl. The Science of Social Organisation I, Adyar 21932, S. 78). 44) Anugita 39, 11; nach der Ubersetzung von P. Deussen/O. Strauss, Vier philosophische Texte des Mahabharatam, Leipzig 1906, S. 956. - Vgl. auch 43, 1, mit rajanya als dem ,,mittleren" guna entsprechend. - Die Anugita findet sich im Mahabharata XIV, 16-51. 45) Vgl. Anugita 35, 43, wo von drei Kasten der Zweigeborenen die Rede ist, also insgesamt vier Kasten vorauszusetzen sind. - Die Vaisya werden ja ubrigens auch in Manus oben erwahnter ,,vermischter Hierarchie" nicht genannt. [16] Page #13 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 289 und tamas und den ubrigen varna ,,reine" guna zugeordnet werden 46). Etwas anders, und im Sinne einer weiteren Uberhohung des Brahmanenstandes, verfahrt der schon erwahnte Durgaprasada Dviveda, wenn er die Brahmanen durch sattva allein, die Ksatriya durch rajas und sattva, die Vaiaya durch rajas und tamas, die Sudra durch tamas allein oder auch durch tamas und rajas bestimmt sein lasst 47). Wenn allerdings P. T. Raju im Zusammenhang mit solcher Anwendung der drei guna Platons gleichermassen psychologisches wie gesellschaftliches Dreierschema von logistikon, thumos und epithumia als Parallele meint heranziehen zu konnen 48), so wird dadurch doch viel eher ein fundamentaler Unterschied illustriert. Bei Platon haben wir eine umfassende rationale Konstruktion, die das Gesellschaftliche und Politische in ursprunglicher Weise und in kritischer Selbstandigkeit gegenuber bestehenden Konventionen mit umfasst; bei den guna-Theoretikern haben wir dagegen eine nachtragliche, ganz ohne Bereitschaft zur radikalen Kritik durchgefuhrte Anwendung ,,philosophischer" Begriffe auf eine als vorgegeben akzeptierte gesellschaftliche Ordnung. Eine eigenstandige Anthropologie, die mit der varna-Theorie in Konkurrenz zu treten vermochte, wird aus der Lehre von den drei guna nicht abgeleitet; Moglichkeiten der Kritik, die sich anzudeuten scheinen, werden nicht ausgeschopft. Es gibt hier uberhaupt nichts, das der im klassischen griechischen Denken entwickelten und zu bestandiger Kritik an Konventionen und Traditionen herausfordernden Gegenuberstellung von quois und flous auch nur annahernd entsprache. -- Gewiss vermag die Verwendung der Begriffe sattva, rajas und tamas dazu zu dienen, die ethischen und charakterologischen Aspekte der varna-Ordnung gegenuber ihrer blossen Geburtsbedingtheit in Erinnerung zu bringen; und in der Tat dient sie bei modernen Autoren oft dazu, die vier hauptsachlichen Kasten geradezu im Sinne psychologischphysiologischer Konstitutionstypen auszulegen 49). Kriterien fur die empirische Feststellbarkeit und eindeutige Abgrenzbarkeit dieser Typen und damit fur eine wirklich durchfuhrbare, von der geburtsmassigen Zuordnung unabhangige gesellschaftliche Gliederung werden jedoch nicht gegeben, und die Reformbereitschaft bleibt sehr oft verbal. Selbst einer der entschiedensten Fursprecher einer auf Charakter und Berufung bezogenen und nicht hereditar gebundenen Interpretation der vier varna, S. Radhakrishnan, raumt ein: 46) Vgl. K. Damodaran, Indian Thought, New York 1967, S. 482 (unter Hinweis auf K. M. Munshi, Foundations of Indian Culture, S. 68: ,,energy/inertia"); P. T. Raju, The Philosophical Traditions of India, London 1971, S. 209: ,,activity/lethargy". 47) Vgl. CV, S. 2. -- Eine Verbindung der Kastenbegriffe mit den gleichfalls im Samkhya beheimateten Begriffen buddhi, ahamkara usw. stellt N. V.Thadani, Mimansa: The Secret of the Sacred Books of the Hindus, Delhi 1952, S. 417-418, her. 48) The Philosophical Traditions of India, London 1971, S. 209. 49) Vgl. z. B. Vinoba Bhave, Talks on the Gita, New York 1960, S. 191 ff. [17] Page #14 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 290 Wilhelm Halbfass "Since we cannot determine in each individual case what the aptitudes of the individuals are, heredity and training are used to fix the calling"50). - Insofern kann die Haltung eines traditionellen Gelehrten wie Durgaprasada Dviveda 61) konsequenter erscheinen: Fur ihn ist die Anwendung der drei guna in jedem Falle nur eine andere Bezeichnung dessen, was in der geburtsmassigen Zugehorigkeit zu einer Kaste seinen Ausdruck findet, und solche geburtsmassige Zugehorigkeit allein vermag die wahre, metaphysische und keiner unabhangigen empirisch orientierten Kritik wirklich zugangliche guna-Verfassung eines Menschen zuverlassig zu bezeugen. Die guna-Theorie dient hier in aller Offensichtlichkeit nur als ein Mittel, die varna-Ordnung metaphysisch zu fundieren und zugleich einer rationalen und nach empirischen Gesichtspunkten verfahrenden Diskussion zu entziehen. - Ein wirkliches Korrektiv gegenuber der hereditaren Bestimmung der Kasten bietet die gunaTheorie jedenfalls nicht, und sie ist - so bleibt gegenuber oft wiederholten Stellungnahmen in der neuhinduistischen Literatur festzuhalten -- in der traditionellen Literatur auch nicht als ein solches verstanden worden. IV. Kastentheoretische Anwendungen des Universalienbegriffs Ein anderes fur die Auslegung und Diskussion des Kastensystems herangezogenes philosophisches Hilfsmittel ist der realistische Universalienbegriff (samanya, jati). Dieser mag zwar weniger popular sein als die Lehre von den drei guna, hat jedoch, mit seinen mannigfachen metaphysischen sowie sprachund erkenntnistheoretischen Implikationen, fur die philosophischen Diskussionen der klassischen Zeit eine grossere Bedeutung. Besonders charakteristisch ausgepragt ist er bekanntlich im Nyaya und Vaisesika, und in dieser Auspragung ist er zugleich ein klassisches Angriffsziel der buddhistischen Kritik. Jedoch auch in der Mimamsa spielt er eine zumal fur unseren gegenwartigen Kontext sehr bemerkenswerte Rolle. Bevor wir auf die kastentheoretischen Verwendungsweisen des samanya-Begriffs eingehen, mogen einige grundsatzliche Hinweise zu seiner systematischen Auspragung besonders im Vaisesika sowie zu seiner geschichtlichen Rolle in der klassischen Zeit angebracht sein. Der realistische Begriff des samanya bzw. jati nimmt, ursprunglich wohl in Anknupfung an sprachtheoretische Uberlegungen und zunachst in nicht weiter differenzierender Weise, das Problem des Einen-im-Vielen, des wirklichen Gemeinsamen und der identischen und bestandigen Wortbedeutung auf: Dieses ,,Gemeinsame" ist dasjenige, was, seinerseits einheitlich, unteilbar und keinem Wechsel und Vergehen unterworfen, dem wechselnden Vielen 50) The Hindu View of Life, London 1968, S. 79. - Bhagavan Das, a.a.O. (s.o., Anm. 43), S. 281, gibt hier den Lehrern besondere Verantwortung. 51) S.o., Anm. 47. [18] Page #15 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 291 inharieren kann 52). - Die Entwicklung fuhrt jedoch bald dahin, innerhalb des Bereichs der einheitlich-allgemeinen Wortbedeutungen reale Universalien von bloss akzidentellen ,,zusatzlichen Bestimmungen" (upadhi) zu unterscheiden. Dabei wird der Begriff des samanya bzw. jati zwar keineswegs zum Aquivalent des Essenzbegriffs; jedoch wird es eine seiner Funktionen, das Wesentliche und Konstitutive gegenuber dem Akzidentellen, den bloss zeitweiligen Funktionen und ausserlichen Rollen abzugrenzen. Das wirkliche samanya in diesem Sinne ist etwas, wodurch ein konkretes individuelles Ding ist, was es ist: Ein Pferd (asva) ist, was es ist, insofern ihm der zugleich allen Pferden gemeinsame Wesensfaktor ,,Pferdheit" (asvatva) inhariert, und eine Kuh ist, was sie ist, insofern ihr ,,Kuhheit" (gotva) inhariert. ,,Kochtum" (pacakatva) hat, als ,,zusatzliche Bestimmung", jedoch keine in solchem Sinne seinskonstitutive Bedeutung. Die samanya bezeichnen insofern Strukturen des Universums, biologische Spezies und andere Grundformen der wirklichen empirischen Welt, die auch durch die periodischen Weltzerstorungen nicht betroffen werden und am Beginn einer neuen Weltperiode stets wieder hervortreten. Man konnte insofern und angesichts der seit dem Rgveda 53) gelaufigen kosmologischen Verwurzelung der varna-Lehre vermuten, dass es naheliegend sei, auch die vier Kasten im Sinne solcher unwandelbarer Prototypen zu verstehen. Jedoch prasentieren die alten Vaisesika- und Nyaya-Texte, die ja auch gewiss kein primar gesellschaftstheoretisches Interesse haben, die vier varna noch nicht im Sinne von Universalien. Dass die Kastenhierarchie als solche und als integraler Bestandteil des dharma ganz fraglos hingenommen wird, ist freilich klar 54). Daruber hinaus lasst Prasastapada, in seiner mythischphilosophischen Beschreibung der Neuformation der in die Atome zerfallenen Welt am Beginn einer neuen Weltperiode, keinen Zweifel daran, dass er, und zwar in viel entschiedenerem Masse als das klassische Samkhya, der varna-Ordnung kosmologischen Rang zuerkennt 55). Er fugt sogar eine deutliche PurusasuktaReminiszenz ein, wobei freilich, anders als im Rgveda, nicht von einem originalen kosmogonischen Akt die Rede ist, sondern von einer ihren Tatfolgen entsprechenden Zuweisung der Seelen (atman) an diese vier zeitlosen Formen der Existenz, die durchaus den biologischen Species gleichgeordnet sind. Im Nyaya und Vaisesika des 9. und 10. Jahrhunderts begegnet uns die Auslegung und Diskussion der varna-Theorie im Rahmen der Universalienlehre mehrfach als ein bereits vertrautes und gelaufiges Thema. Dabei steht auch hier die in den Diskussionen dieser Zeit vorherrschende erkenntnistheo 52) Vgl. W. Halbfass, Remarks on the Vaisesika Concept of samanya. Anjali (Wijesekora Felic. Vol.), ed. by J. Tilakasiri, Peradeniya 1970, S. 137-151. 53) X, 90 (Purusasukta). 54) Vgl. PB, S. 272-273. 55) PB, S. 48-49. [19] Page #16 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Wilhelm Halbfass retische Fragestellung im Vordergrund; d. h. es wird vor allem gefragt, wie die varna im Rahmen der Lehre von den Erkenntnismitteln (pramana) * jeweils sicher als solche zu erkennen und voneinander zu unterscheiden seien und wie die Ansicht, dass die Kasten durch wirkliche Universalien bestimmt seien, erkenntnistheoretisch zu rechtfertigen sei. Da es der Anspruch des klassischen Vaisesika und Nyaya ist, dass wirkliche samanya in der Wahrnehmung, als Daten ,,blosser Anschauung" (alocanamatra, spater nirvikalpaka pratyaksa) aufweisbar seien, gilt es, die Wahrnehmungsfrage auch hinsichtlich der Kastenuniversalien zu stellen; insbesondere wird, in Erwiderung auf buddhistische und andere Einwande, gefragt, wie hier das Verhaltnis des direkten Wahrnehmens zu dem durch ,,Unterweisung"(upadeda) und genealogische Tradition erworbenen indirekten Wissen verhalte. Jayantabhatta konstatiert in seiner Nyayamanjari (9. Jahrh.), dass man zwar zunachst einmal der,,Unterweisung" und des genealogischen Wissens bedurfe, um festzustellen, was ein Brahmane usw. sei zumindest muss man ja uber die entsprechenden Wortbedeutungen unterrichtet werden, dass man sich sodann jedoch lediglich seines Sehvermogens zu bedienen habe, um einen Brahmanen usw. als solchen zu identifizieren ). Dass hier ein vorhergehendes Lernen notwendig ist, kann so wird betont die Geltung des Wahrnehmungsbefundes als solchen nicht gefahrden. Muss man nicht auch zunachst uber die Bedeutung des Wortes ,,Kuh" unterrichtet werden, ehe man eine Kuh als solche identifizieren kann? Sprachliche Unterweisung ist nach dieser Auffassung lediglich als aussere Vorbereitung auf einen Wahrnehmungsakt zu verstehen, die die Gultigkeit des daraus zu entnehmenden Befundes uberhaupt nicht beeintrachtigen kann: Dasjenige, was wahrgenommen wird, nachdem man auf den Gipfel eines Berges gestiegen ist, verliert (dadurch, dass es einer solchen Art der Vorbereitung bedarf) doch nicht seinen Status als Wahrnehmungsinhalt 57). Eine von anderer Seite vorgebrachte Ansicht, dass ein Brahmane auch ohne genealogische Unterrichtung lediglich aufgrund seiner vornehmen Erscheinungsform identifizierbar sei, wird von Jayanta erwahnt, jedoch offenkundig nicht gebilligt). Dass im Falle des Brahmanen, anders als beim Sehen der Kuh, nicht nur ein einmaliges Lernen, sondern eine von Fall zu Fall anzustellende genealogische Erkundigung notwendig ist, gilt hierbei nicht als ernstzunehmende Schwierigkeit, und der Vaisesika-Kommentator Sridhara (10. Jahrh.) ist in 292 - - 56) Vgl. Nyayamanjari, ed. by Dhundiraj Sastri, Benares 1934-1936 (Kashi Sanskrit Ser. 106) I, S. 204. 57) Vgl. a. a. O.: na hi yad girisrngam aruhya grhyate, tad apratyaksam. -- In derselben Formulierung findet sich dieser Satz schon in Kumarilas Tantravarttika (s. u., Anm. 85), und es ist deutlich, dass Jayantas Diskussion derjenigen bei Kumarila verpflichtet ist; vgl. TV, S. 6. 5) Vgl. a.a. O.: upadefanirapeksam api cakuh katriyadivilaksanam saumyakrtim brahmanajatim avagacchati-ity eke. [20] Page #17 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 293 dieser Hinsicht noch expliziter. Er gibt zwar zu, dass das Wahrnehmen des ,,Brahmanentums" (brahmanatva) in einem Brahmanen nicht so leicht und unmittelbar vonstatten geht wie das Sehen der ,,Kuhheit" (gotva) in einer Kuh, sieht dies jedoch als einen lediglich graduellen Unterschied an 59). Auch dass wir uber die Vorfahrenschaft eines Menschen unterrichtet werden, kann uns lehren, ihn in der richtigen Weise zu sehen, ohne dass dadurch die Authentizitat solchen Sehens beeintrachtigt wurde 60); desgleichen musse man ja auch, um die Klassen bzw. ,,Kasten" von Edelsteinen unterscheiden zu konnen, zuvor eine gewisse Expertise auf diesem Gebiet erworben haben 61). -- Sridhara lasst sich in seiner erkenntnistheoretischen Zuversicht auch nicht von dem Hinweis auf die mogliche eheliche Unzuverlassigkeit von Brahmanenfrauen, welche ja die legitime Abkunft der Nachkommen und die ,,Echtheit" ihres Kastenuniversale ,,Brahmanentum" gefahrden konnte, beirren 62). Die Gegenposition zu diesen Argumenten der Naiyayikas und Vaisesikas ist, wie nicht anders zu erwarten, bei den buddhistischen Philosophen zu finden. Wir konnen z. B. auf santaraksitas Tattvasamgraha und den zugehorigen Kommentar Tattvasamgrahapanjika von Kamalasila 63) sowie auf die ausfuhrlichen sprach- und erkenntnistheoretischen Erorterungen in Prajnakaraguptas Pramanavarttikabhasya 64) (auch Varttikalankara genannt) hinweisen. Prajnakaragupta geht insbesondere auf die auch von Jayanta und Sridhara diskutierte Frage nach dem Verhaltnis von Unterweisung" (upadesa) und Wahrnehmung (pratyaksa) ein und argumentiert, dass in keinem Falle, und wie auch immer dieses Verhaltnis interpretiert wird, die Realitat und Echtheit der Kastenuniversalien, vor allem des Brahmanentums, festzustellen sei. - Neben diesen erkenntnistheoretischen und kriteriologischen Fragen werden wiederholt auch die grundsatzlichen mit der Lehre von den vier varna verbundenen Definitionsprobleme beruhrt 65). Grossere Beachtung hat die Aufgabe der Verteidigung und Analyse des Kastensystems im Nyaya und Vaisesika nicht gefunden 66). In ihrer Mehr 59) Vgl. NK, S. 13. 60) Vgl. a.a.O.: tada brahmano 'yam iti pratyaksena-eva pratiyate --; auch Sridhara ist offensichtlich dem Kumarila verpflichtet; vgl. TV zu I, 2,2 (S. 7): ... darsanasmaranaparamparyanugrhitapratyaksagamyani brahmanatvadini; s. u., Anm. 86. 61) Vgl. a.a.O.; der Hinweis auf Edelsteine ist fur einen indischen Autor in diesem Zusammenhang besonders naheliegend, da diese gleichfalls nach vier ,,Kasten" (brahmana usw.) eingeteilt werden; vgl. R. Garbe, Die indischen Mineralien (Naraharis Rajanighantu 13), Leipzig 1882. Auf Expertentum auf dem Gebiet der Edelsteine verweist auch bereits Kumarila, TV zu I, 3, 25. 62) A. a. O. 6) Ed. E. Krishnamacharya, Baroda 1926 (Gaekwad's Oriental Ser.), v. 1554ff. (mit Kommentar). 64) Ed. Rahula Sankrtyayana, Patna 1953 (Tibetan Sanskrit Works Ser.), bes. S. 10-12; auch S. 209-210; S. 530. 65) Prajnakaragupta, a.a. O. 66) Auch im Zusammenhang mit Fragen der Schlusslehre wird das Thema zuweilen [21] Page #18 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Wilhelm Halbfass zahl gehen die Texte und dies gilt vor allem auch fur die spatere Zeit darauf uberhaupt nicht oder nur in kurzen Hinweisen und Anspielungen ein). Es ist deutlich, dass dieses Thema im Nyaya und Vaisesika nicht wirklich beheimatet ist. Dies lasst sich vielmehr von der Mimamsa sagen, einem System, das in ursprunglicher Weise apologetisch motiviert ist und das seiner ganzen Anlage nach als umfassende Erklarung und Verteidigung des vedischen dharma zu verstehen ist. Es ist vor allem Kumarila (7. Jahrh.), der fuhrende philosophische Schulgrunder in der Mimamsa, der den Universalienbegriff als ein apologetisches Mittel in der Diskussion des Kastenthemas eingesetzt hat. Demgegenuber hat die zweite bedeutende Schule der Mimamsa, die sich an Kumarilas Rivalen Prabhakara anschliesst, beispielhafte Argumente zur Kritik an solcher Verwendung des Universalienbegriffs vorgetragen. Es durften Texte der Mimamsa und nicht des Buddhismus sein, an die Sridharas Diskussion anknupft: Die erwahnte Stelle aus seiner Nyayakandali halt sich ganz im Rahmen dessen, was wir einerseits bei Kumarila, andererseits in einem massgeblichen Text der Prabhakara-Schule, namlich in Salikanathamisras Prakaranapancika, finden"). An mehreren Stellen in Kumarilas Hauptwerken Slokavarttika und Tantravarttika") wird teils dargelegt, teils vorausgesetzt, dass die vier varna durch reale Universalien artspezifisch bestimmt und ,,ontologisch" voneinander verschieden sind und dass die Kastenzugehorigkeit ein allen ethischen und charakterologischen Massstaben vorausliegendes metaphysisches Faktum ist. Bevor wir darauf im einzelnen eingehen, mogen einige grundsatzliche und einfuhrende Hinweise zur Universalienlehre der Bhatta-Mimamsa angebracht sein. In der Verselbstandigung und Hypostasierung der Universalien (admanya, jati) geht diese Schule durchaus nicht so weit wie das klassische Vaisesika; Universalien sind grundsatzlich in rebus. Aber mogen sie auch von ihren Tragern ganzlich untrennbar sein, so bleiben sie doch reale seinsbestimmende Faktoren. Eine traditionelle Nahe besteht in der Mimamsa zwischen, den Ausdrucken jati bzw. samanya und akrti,,,Form" eine Nahe, die sehr oft bis zur Synonymitat fuhrt 7). Dadurch scheint eine Schwierigkeit fur die Anwendung des Universalienbegriffs auf die vier varna gegeben zu sein. Denn 294 beilaufig beruhrt; vgl. Bhasarvajna, Nyayabhusana, ed. Yogindrananda, Benares 1968, S. 311 (im Zusammenhang mit der Problematik der Scheingrunde, hetvabhasa). 67) Vgl. z. B. Laugaksi Bhaskara, Tarkakaumudi, Bombay 1886 (Bombay Sanskrit Ser.), S. 21. S. a. Kesavamisra, Tarkabhasa, Poona 1937 (Bombay Sanskrit and Prakrit Ser.), S. 33 (brahmana in der Wahrnehmung). 68) S. u., Anm. 73 ff.; 97 ff. Auf die Prakaranapancika bezieht sich Sridhara auch in seiner Diskussion der Problematik des Seins bzw. der,,Seiendheit"; vgl. W. Halbfass, Conceptualizations of Being' in Classical Vaisesika, Wiener Zeitschrift fur die Kunde Sudasiens 19 (1975), bes. S. 194-196. 69) S. u., Anm. 73 ff. 70) S. u., Anm. 72; schon in Patanjalis Mahabhasya ist diese terminologische Nahe zu konstatieren. [22] Page #19 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie dass es zwischen den Kasten keine augenfalligen Unterschiede der ,,Form" oder,,Gestalt" (akrti, akara, samsthana) gebe, ist ein den Gegnern des Kastensystems seit jeher gelaufiges") und in der Tat recht naheliegendes Argument; ein Brahmane ist ja von einem Ksatriya offenkundig nicht in derselben augenfalligen Weise verschieden wie ein Pferd von einem Elefanten. Wenn aber der Begriff des realen Universale an den Begriff der identifizierbaren und unterscheidbaren Gestalt gebunden wird in welcher Weise ist dann ein Universale (samanya bzw. jati) zu rechtfertigen, dem kein solch wahrnehmbares Formkorrelat entspricht? Kumarila sagt in der Tat, dass das (im Nyaya jati genannte) Universale in der Mimamsa akyti heisse"). Freilich, worauf dies hinauslauft, ist eben nicht, dass der Begriff und die Erkennbarkeit des realen Universale an die klare Unterscheidbarkeit ausserer Formen gebunden wurden. Vielmehr wird der Begriff akyti, indem er mit dem Nyaya-Begriff jati gleichgesetzt wird, uber die Bedeutung,,aussere Form" hinaus erweitert und auch auf Falle anwendbar, die nicht ohne weiteres in der Wahrnehmung und jedenfalls nicht durch blosses Hinschauen entscheidbar sind. 295 Im Tantravarttika bemerkt Kumarila beilaufig, dass, obwohl die Brahmanen und die anderen Kasten der Gestalt ihrer Kopfe, Hande usw. nach gleich und deshalb gewohnlich Gegenstand undifferenzierter Wahrnehmung seien, doch aufgrund der Erinnerung an die Abkunft von den Vorfahren eine sichere Feststellung der Kastenunterschiede moglich sei). Im Slokavarttika wird das Problem des Erfassens der Kastenuniversalien in den folgenden erkenntnistheoretischen Zusammenhang gestellt: Die Identifizierung von Universalien kann von mancherlei verschiedenen Anhaltspunkten abhangen, die beachtet werden mussen, um Verwechslungen zu vermeiden. Im Falle von Gold und Kupfer ist dies die Farbe, im Falle von Sesamol und Schmelzbutter Geruch und Geschmack, und im Falle der Kasten eben die Abkunft"). Generische Unterschiede sollen hier in Fallen, die offenbar leicht zur Verwechslung AnlaSs bieten konnten, als wahrnehmbar gesichert werden; als Faktoren, die dies nach Kumarilas Meinung ermoglichen, werden die Merkmale des Geschmacks und Geruchs usw. und die Uberlieferung genealogischer Zusammenhange grundsatzlich gleichgestellt; die Voraussetzung ist offenbar, dass die Asso 71) Z. B. in der Polemik der Vajrasuci; vgl. auch Krsnamiera, Prabodhacandrodaya II, v. 18 (ed. S. K. Nambiar, Delhi 1971, S. 38, im,,Materialisten"-Abschnitt): tulyatve vapusa mukhadyavayavair varnakramah kidrio. 72) Vgl. SV, Vanavada, v. 16, (S. 618); es wird bemerkt, dass akrti nicht gleich samsthana sei; vgl. auch Akrtivada, v. 3-4 (S. 546). Grundsatzlich gilt fur Kumarila, dass das Universale wahrnehmbar ist: jatir indriyagocara (SV, Vanavada, v. 24; S. 619; ich folge der in der Fussnote angegebenen Lesart). 73) TV zu I, 3, 25: yatha-eva tulyasirahpanyadyakaresvapi samkirnalokadrstigrahyesu brahmanadisu matapitrsambandhasmaranad eva varnavivekavadharanam bhavati. 74) Vgl. SV, Vanavada, v. 22 ff. (S. 619 ff.), bes. 26-29; Kumarila gibt noch mehrere andere Beispiele. - In gut regierten Konigreichen, so fugt Kumarila hinzu, lasse sich die Kastenzugehorigkeit auch an der Verhaltensweise ablesen. [23] Page #20 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 296 Wilhelm Halbfass ziation mit diesen Faktoren uns schliesslich auch zu einem visuellen Erfassen der jeweils relevanten Unterschiede verhelfen konne. Die Problematik der Kastenuniversalien erscheint somit erkenntnistheoretisch in die allgemeine Universalienproblematik integriert"). Der fur unser Thema aufschlussreichste Abschnitt findet sich am Anfang des Tantravarttika (zu Sutra 1,2,2). Kumarila knupft hier, in seiner ublichen freien und selbstandigen Weise, an die Prasentation einer gegnerischen Meinung (purvapaksa) in den Mimamsasutra und im zugehorigen Kommentar von Sabara an. Es geht dabei um die Auffassung, dass die arthavada-Stellen im Veda 76) irrelevant und ohne Autoritat seien. Eine der hierfur vom purvapaksin angegebenen Begrundungen ist, dass es Widerspruche zwischen arthavada-Stellen und anderen Schriftstellen einerseits und evidenten Wahrnehmungsbefunden andererseits gebe. Als Beispiel nennt Sabara u. a. eine Stelle aus dem Gopatha-Brahmana "):,,Wir wissen nicht, ob wir Brahmanen oder Nicht-Brahmanen sind". Die Voraussetzung fur die Verwendung dieses Beispiels ist, dass eine solche Aussage, abgesehen von ihrer Unvereinbarkeit mit anderen Schriftstellen, der im taglichen Leben ohne weiteres gelaufigen Kenntnis des Unterschiedes zwischen Brahmanen und Nicht-Brahmanen widerspreche. Fur Kumarila bietet das Zitat Anlass zu einem Exkurs uber den ,,ontologischen" Status und uber die Erkennbarkeit der vier varna. Dabei werden der Sinngehalt und die Autoritat der bei Sabara angefuhrten Brahmana-Stelle nicht so sehr gegenuber den Leugnern oder Bezweiflern der Kastentheorie verteidigt, als vielmehr gegenuber denjenigen unter ihren Anhangern, die eine naive und ungeklarte Auffassung vom Wesen der Kasten haben und sich bei ihrer Identifikation zu sehr auf aussere Merkmale des Verhaltens usw. verlassen. Kumarila zeigt bei dieser Gelegenheit nicht nur, dass er mit den definitions- und erkenntnistheoretischen Problemen des Themas sowie auch mit den Schwierigkeiten der genealogischen Ableitung wohlvertraut ist; vielmehr betont er geradezu diese Probleme und Schwierigkeiten und be kraftigt so seinen Anspruch, dass sich der dharma und das darin integrierte Kastensystem sehr wohl auch in einem Zeitalter verscharfter Kritik und rationaler Argumentation verteidigen lasse. Er bietet im ubrigen in diesem Abschnitt keinen klaren und direkten Angriff auf eine klar und deutlich als solche gekennzeichnete gegnerische Ansicht, sondern eher ein abwagendes Zwiegesprach, in dessen Verlauf seine eigene Auffassung sozusagen erst allmahlich 75) Vgl. die Kritik von Salikanathamisra, PP, S. 101; vgl. Anm. 97 ff. 76) D.h. diejenigen Stellen, die keine Vorschriften enthalten, sondern nur Erlauterungen, faktische Feststellungen bieten; nach der in Mimamsasutra I, 1, 2 gegebenen und von Sabara kommentierten Definition ist der dharma, der den Inhalt der vedischen Offenbarung bildet, von der Art, dass er nur durch Befehle (codana) ausgedruckt werden kann, bzw. allein in den im Veda gegebenen Vorschriften zuganglich ist. 77) V, 21. [24] Page #21 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 297 deutliche Konturen gewinnt 78). Wir mussen ja stets berucksichtigen, dass Kumarila hier einen purvapaksa-Abschnitt kommentiert, -- wobei er jedoch zugleich weit uber das bei Sabara Gebotene hinausgeht und keineswegs nur den purva paksa paraphrasiert, sondern seine eigene kritische Stellungnahme daran anknupft. -- Fur das Verstandnis der Diskussion ist ferner folgendes zu beachten: Der philosophischen Mimansa geht es darum, den Erkenntniswert der vedischen Offenbarung und der ihr folgenden heiligen Uberlieferung (sruti, agama, sastra) im Rahmen der Lehre von den Erkenntnismitteln (pramana) zu sichern; der Veda soll den Erkenntnismitteln Wahrnehmung, Schlussfolgerung usw. als Erkenntnis quelle eigener Ordnung, die sonst nicht zugangliche Erkenntnisinhalte zu vermitteln vermag, an die Seite gestellt werden 79). Diese Problemstellung ist auch auf die vier varna anzuwenden 80): Inwieweit sind sie uberhaupt Gegenstand vedischer Offenbarung, und inwieweit sind sie durch weltliche Erkenntnismittel und durch normale menschliche Erfahrung erwiesen und ohne weiteres gelaufig (loka prasiddha)? --- Kumarilas Stellungnahme hierzu ist vorsichtig und abwagend: Zwar sollen die varna grundsatzlich fur den Bereich weltlichen Erkennens gesichert werden, jedoch bleibt der sruti eine hilfreiche und wichtige Rolle fur die Entdeckung ihres wahren Wesens 81). - Dass die vier varna durch reale Universalien bestimmt sind, gilt fur Kumarila - auch nach Auffassung seiner Kommentatoren und Opponenten 82) - als vorausgesetzt, ohne dass es besonders hervorgehoben wurde. Aufgenommen wird zunachst der Anspruch, dass die Kasten durch normales menschliches Wissen erwiesen seien. Welcher Art soll dieses Wissen sein? Sinnliche Wahrnehmung? Lasst sich wirklich die Ansicht vertreten, dass die 78) Der Kommentator Somesvara sieht es als seine Aufgabe, gelegentlich ausdruck. lich auf Indizien zu verweisen, die andeuten, dass Kumarila hier in eigener Sache spreche; vgl. NS, S. 10: asarkita svabhiprayam aviskaroti. 79) Vgl. hierzu E. Frau wallner, Materialien zur altesten Erkenntnislehre der Karmamimamsa, Wien 1968 (Sb. Osterr. Ak. Wiss.; Veroff. d. Komm. f. Sprachen u. Kulturen Sud- u. Ostasiens 6). 80) Sie ist ja insofern Ausgangspunkt der gesamten Diskussion, als, wie oben bemerkt, die Stelle aus dem Gopatha-Brahmana (s.o., Anm. 77) eben deshalb zitiert wird, weil sie nach Ansicht des purva paksin in Konflikt mit Inhalten sicherer weltlicher Erkenntnis steht und deshalb nicht als autoritative und eigenstandige Erkenntnisinhalte vermittelnde Offenbarung gelten kann. 81) Vgl. dazu Somesvara, NS, S. 14:... pratyaksavagatisambhavad anyatra sastravyaparo na-angikstah, iha tu tadasambhavac chastravisayatvam na-ayuktam ity aha, ,,na hi". iti nanv akarasamyena kva cid api brahmanyadivivekasya pratyaksena-avagatyasambhavat sarvatra-agamagamyatvam eva-angikaryam ity asankam nirakurvann upasamharati ... 82) Somesvara, NS, S. 11, erklart: tasmat samanakaresv api pindesu vilaksanabrahmanapratyayavedyabrahmanyadijatir na-apahnotum sakyate, schon zuvor sagt er (a.a. O., S. 10), dass ein in allen Brahmanen anzutreffendes, ihnen von Fall zu Fall inharierendes Etwas postuliert werden musse, das den Gegenstand der Vorstellung ,,Brahmane" bilde (tasmat sarvesu brahmanesu anusyutam pratyekasamavetam brahmanapratyayavisayabhutam kincid avasyam estavyam). - Vgl auch salikanatha, PP, S. 101. [25] Page #22 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 298 Wilhelm Halbfa88 Klassenzugehorigkeit eines Brahmanen (d. h. sein Bestimmtsein durch das Universale ,,Brahmanentum") sich ebenso durch sinnliche Wahrnehmung feststellen lasse wie die Klassenzugehorigkeit eines Baumes 83) (d. h. sein Bestimmtsein durch das Universale ,,Baumtum")? Im Falle des Brahmanen mussen wir doch zunachst einmal uber Tatbestande seiner Vorfahrenschaft unterrichtet werden. Aber mussen wir, um einen Baum als solchen identifizieren zu konnen, nicht auch zuvor informiert werden, namlich uber die Bedeutung des Wortes ,,Baum"? -- Dass diese beiden Falle in mehr als einer Hinsicht ungleichartig sind, wird von Kumarila selbst ausfuhrlich dargelegt. Im Falle des Baumes haben wir auch ganz unabhangig von der Kenntnis des zugehorigen Wortes den Eindruck einer durch bestimmte Gestaltmerkmale unterscheidbaren und identifizierbaren Entitat; im Falle des Brahmanen kann davon keine Rede sein, und andere aussere Merkmale, wie Verhaltensweise und Berufsausubung, konnen deshalb nicht als zuverlassig gelten, weil ja keineswegs sicher ist, dass sich die Kastenangehorigen jeweils an die ihnen zugewiesenen Pflichten halten 84). Aber nach Kumarilas im Slokavarttika entwickelter Lehre sind solcherlei aussere Merkmale ja keinesfalls die einzigen Indizien fur die Feststellung von Universalien; auch die Kenntnis genealogischer Zusammenhange kann dazu fuhren. Hier drangt sich wiederum das Problem der Untreue von Brahmanenfrauen auf; hierzu wird zunachst bemerkt, dass man nicht mit der Ausnahme gegen die Regel argumentieren solle; ausserdem sei ja der aussereheliche Verkehr mit Mannern gleichen Standes in dieser Hinsicht unproblematisch, und auch fur die Falle echter Bastardisierung halte die Smrti zuverlassige Klassifikationsregeln, und sogar Regeln der Wiedereinstufung in eine ,,reine" Kaste nach mehreren Generationen, bereit. All dies kann die Existenz und Erkennbarkeit der Kasten nicht wirklich gefahrden; mit einem, wie schon erwahnt, spater auch bei Jayanta vorkommenden Gleichnis: Dasjenige, was wahrgenommen wird, nachdem man den Gipfel eines Berges bestiegen hat, verliert dadurch nicht seinen Wahrnehmungscharakter 85). Der Unterschied zwischen einem mannlichen und einem weiblichen Kokila (indische Kuckucksart) ruckt erst allmahlich in den Bereich des Wahrnehmbaren; ebenso steht es mit den Kastenunterschieden: Ihre Wahrnehmung wird moglich dadurch, dass uns zunachst die auf Erinnerung und ununterbrochener Uberlieferung beruhende genealogische Kenntnis hilft 86). -- An anderer Stelle, und in anderem Zusammenhang, bemerkt Ku 83) Vgl. zum folgenden TV, S. 5-7. 84) Dies ware ja, wie das Slokavarttika bemerkt, nur in einem gut bzw. ideal gefuhrten Konigreich der Fall (s.o., Anm. 74). 85) S.o., Anm. 57. - Vgl. dazu NS, S. 12: na ca durjnanatvamatrena-apratyakgatvam sankyam. 86) Vgl. TV, S. 7: ... darsanasmaranaparamparyanugrhitapratyaksagamyani brahmanatvadini. [26] Page #23 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 299 marila mit ausdrucklichem Bezug auf die vier varna, dass dasjenige, was zunachst nur durch die Smrti erwiesen sei, sodann auch durch Wahrnehmung zuganglich wurde 87). Einige sehr wichtige und grundsatzliche Bemerkungen schliessen sich an. Der angebliche oder wirkliche Widerspruch des Zitates aus dem GopathaBrahmana mit Wahrnehmungsbefunden, der den Ausgangspunkt der gesamten Diskussion bildet, gelte, so sagt Kumarila, fur eben diejenigen, die Brahmanentum usw. aus dem Verhalten ableiten wollen. Fur eine Ableitung der Kasteneinteilung aus dem Verhalten gibt es jedoch nach seiner Auffassung keinerlei Begrundung. Vielmehr ist vorauszusetzen, dass die Brahmanen usw. in ihrem Sein schon festgelegt sind, damit die fur sie gegebenen Verhaltensvorschriften uberhaupt auf sie anwendbar sind 88). Ware ihr Brahmanentum selbst eine Konsequenz ihres Verhaltens, so ergabe sich ein circulus vitiosus; und es ware moglich, dass ein und derselbe Mensch, je nach seinem Verhalten, einmal ein Brahmane und ein andermal ein Sudra ist - wenn er nicht sogar, aufgrund der Tatsache, dass manche Handlungsweisen zweierlei Aspekte haben, beides gleichzeitig ist. -- Eine solche Reduktion der Kasten auf zeitweilige 89) und ambivalente Funktionen und Verhaltensweisen ware nach Kumarilas Meinung destruktiv und absurd. Die kastenspezifischen vedischen Vorschriften waren nicht mehr anwendbar, stabile gesellschaftlich-religiose Regelungen waren unmoglich. -- Nur wenn jemand ein Brahmane, Ksatriya usw. ist, kann ihm vorgeschrieben werden, was er als solcher zu tun hat. Jemand ist Brahmane usw., insofern ihm das Universale brahmanatva inhariert, und dieses kann nicht nachtraglich hinzugefugt, sondern nur mit dem Eintritt in die Existenz, d. h. mit der Geburt erworben werden. Brahmanentum ist weder auf einen Komplex von Verhaltensweisen wie Askese usw. noch auf eine dadurch herbeigefuhrte Disposition reduzierbar, noch manifestiert es sich darin o). Das Sein des Brahmanen usw. ist in seiner Herkunft verankert, und die Erkenntnis dieses Seins hat bei genealogischen Zusammenhangen anzusetzen, ist jedoch (idealiter) auch der Wahrnehmung erreichbar. -- Aller ethisierenden Umdeutung und Reduktion der vier varna und aller Kastenmobilitat ist damit ein Riegel vorgeschoben. An der Kastenzugehorigkeit lasst sich hier auf Erden nichts andern: sie that einen Status metaphysischer Stabilitat 91). Sie bleibt 87) Vgl. TV, S. 229 (zu I, 3, 25): ... aditas ca smrteh siddhah pratyaksena-api gamyate; 8.o., Anm. 73. Vgl. auch den Hinweis auf das Expertentum von Edelsteinkennern; dazu auch oben, Anm. 61 und 68. 88) Vgl. TV, S. 7: siddhanam hi brahmanadinam acara vidhiyante. 89) Zum Misstrauen gegen das bloss Zeitweilige, das erworben werden kann, vgl. schon die Diskussion der Frage des Reichtums, Mimamsasutra VI, 1, 39-40, mit Kommentar von Sabara. 90) Vgl. TV, S. 7: na tapaadinam samudayo brahmanyam /na tajjanitah samskarah /na tadabhivyangya jatih. 91) In striktem Sinne ist es auch unmoglich, dass jemand sein Brahmanentum verliert. Schriftstellen, in denen davon die Rede zu sein scheint - wenn etwa gesagt wird, dass [27] Page #24 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 300 Wilhelm Halbfass ausserlichen Kriterien entruckt und ist doch dem Bereich des Wahrnehmbaren und Argumentierbaren keineswegs grundsatzlich entzogen. - Diese Deutung und Verteidigung der vier varna fugt sich exemplarisch dem Programm Kumarilas ein, die Tradition des Veda (und d. h. vor allem der Brahmana-Texte) in einem Zeitalter kritischer Reflexion und Diskussion vertretbar zu machen und zugleich vor dem Zugriff autonomer Rationalitat zu bewahren. Auch in dieser Hinsicht prasentiert sich eine bis in die erkenntnistheoretischen Grundlagen hinein sorgfaltig und subtil ausgebaute und dennoch in ihrer Zielsetzung leicht durchschaubare restaurative Philosophie des vedischen dharma 92). Kumarilas Diskussion im Tantravarttika macht es wahrscheinlich, dass er bereits auf eine Tradition philosophischer Erorterungen zu diesem Thema und unter ahnlichen Gesichtspunkten zuruckblicken kann. Die erkenntnistheoretische Diskussion um verschiedene Weisen des Erfassens von ,,Universalien" bzw. ,,Formen" (akrti) ist bereits in Patanjalis Mahabhasya, mit Hinweisen auf noch altere Quellen, zu finden 93), und spatere Kommentatoren zumindest haben hier eine ausdruckliche Bezugnahme auf unser Problem des Verhaltnisses von unmittelbarer Anschauung und sprachlicher Unterweisung (upadesa) gefundeno). -- Im ubrigen ist die terminologische Koinzidenz von jati als ,,Kaste" und als ,,Genus" bzw. ,,Universale" langst gelaufig und macht ein (stillschweigendes oder explizites) Anwenden des Universalienbegriffs auf die Kastentheorie offenbar recht naheliegend, und in der Tat begegnet es uns auch vor Kumarila, etwa bei Bhartshari, schon gelegentlich im Sinne einer nicht naher erorterten selbstverstandlichen Voraussetzung 95). Aber es scheint doch Kumarila gewesen zu sein, der dieser ,,Anwendung" zuerst ihren radikalen und expliziten Charakter gegeben und sie in den Dienst ein Brahmane aufgrund bestimmter Verhaltensweisen zum Sudra herabsinke -- sind, genau genommen, so zu verstehen, dass dem Brahmanen damit die Qualifikation zur Ausubung der ihm sonst zustehenden Rechte und Pflichten entzogen wird; vgl. TV,, S. 7-8. -- Von den Kritikern (z. B. in der Vajrasuci) ist die im Dharmasastra vorgesehene Moglichkeit des Absinkens in der Kastenhierarchie als Einwand gegen die geburtsmassige Kastendefinition formuliert worden. 02) Zum Verhaltnis zwischen Kumarila und der Dharmasastra-Tradition vgl. P. V. Kane, The Tantravartika and the Dharmasastra Literature. Journal of the Bombay Branch of the Royal Asiatic Society, N.S. 1 (1926), S. 95-102. 93) Vgl. z. B. Mahabhasya zu IV, 1, 63; sowie oben, Anm. 18. 94) Die Stelle sakydakhyatanirgrahya in dem Zitat aus dem fur uns anonymen grammatischen Slokavarttika, das Patanjali zu Panini IV, 1, 63 anfuhrt, ist von Jinendrabuddhi und Kaiyata in diesen Zusammenhang gestellt worden; Nagesa bezieht sich ausdrucklich auf den Terminus upadesa; vgl. Patanjali's Vyakarana-Mahabhasya, Tatpurusahnika, ed. with transl. by S. D. Joshi and J. A. F. Roodbergen, Poona 1973, S. 118f. - Vgl. auch CV, S. 200. 95) Vgl. Bhartphari, Vakyapadia III, Kap. jati, v. 44: brahmanatvadayo bhavah sarvapranisv avasthitah/ abhivyaktah svakaryanam sadhaka ity api smrtih// Helaraja paraphrasiert: brahmanatvaksatriyatvadayah samanyavisesah... [28] Page #25 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 301 einer philosophischen Sicherung des dharma gestellt hat; in seiner Feststellung, dass das Brahmanentum keine Summierung von Askese usw. sei, scheint er im ubrigen auf die eingangs erwahnte, an einen Vers unbekannter Herkunft anknupfende Stelle des Mahabhasya anzuspielen, an der es um eben diese Frage der ,,Summierung" (samudaya) geht -- freilich in einer fur Kumarila langst nicht mehr akzeptablen Weise 96). - In jedem Falle durfen wir sagen, dass Kumarilas Diskussion in weitgehendem Masse zum Ausgangspunkt fur die entsprechenden Darlegungen nicht nur in der Mimamsa, sondern auch im Nyaya und Vaisesika geworden ist. Es ist nur ein scheinbares Paradox, dass Kumarila, der den ursprunglichen Sinn des vedischen dharma wiederherstellen und gegen Neuerungen in Schutz nehmen will, in der methodisch-philosophischen Durchfuhrung dieses Programms selbst zahlreiche Neuerungen einfuhrt und als einer der selbstandigsten Denker der klassischen Tradition gelten darf. Sein Verhaltnis zu Sabara ist bekanntlich viel freier als das seines grossen Rivalen Prabhakara, dessen Traditionalismus freilich ebenfalls nicht selten zu radikalen Konsequenzen fuhrt und dessen eigener Versuch, die vedische Tradition in der Begrifflichkeit der klassischen Philosophie darzustellen, ein aufschlussreiches Gegenstuck zum Verfahren Kumarilas darstellt. Am Beispiel der Kastenfrage lasst sich das gut illustrieren. Die Schule der Prabhakaras, die uns vor allem in der Darstellung durch Salikanathamisra "7) zuganglich ist, versucht, in der Sicherung des dharma ohne Kumarilas universalientheoretische Deutung der vier hauptsachlichen Kasten auszukommen: Nach ihrer Auffassung genugt die Existenz genealogischer Zusammenhange und das traditionelle Wissen daruber, die vedischen Vorschriften anwendbar zu machen. Es ist ganz unnotig, zu bedenklichen philosophischen Hilfskonstruktionen Zuflucht zu nehmen. Es gibt keine durch wirkliche Universalien bestimmten und unterscheidbaren Menschengruppen; es gibt uberhaupt kein wirkliches Universale unterhalb des samanya bzw. jati ,,Menschtum" (purusatva). Dies entspricht der einen wesentlichen Form (akara), die Manner und Frauen, Brahmanen und Sudras gemeinsam haben; keine solche ,,Form" und uberhaupt nichts dergleichen ist im Falle des Brahmanen, als Zeichen seiner generischen Verschiedenheit vom Ksatriya usw., feststellbar 98). Anders als in der durch Kumarila begrundeten Schule der Bhattamimamsa wird in der Schule der Prabhakaras grundsatzlich nicht auf die Relevanz der ,,Form" und der sichtbaren Ahnlichkeit als des Merkmals wirklicher Universalien verzichtet "'). - Hier kann nach Salikanathas Mei 96) S.O., Anm. 90 und 18. 07) Vgl. zum folgenden vor allem PP, S. 100-103. 98) Vgl. a.a. O., S. 101: na hi ksatriyadibhyo vyavartamanam sakalabrahmanesv anuvartamanam ekam akaram aticiram anusandadhato 'pi budhyante. 9) Dies fuhrt die Prabhakaras u.a. auch zur Zuruckweisung eines Universale ,,Seiendheit" (satla). [29] Page #26 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 302 Wilhelm Halbfass nung auch keinerlei Ubung, Vorbereitung oder Anleitung weiterhelfen: Es gibt kein reales Univerale ,,Brahmanentum"; es kann sich demnach auch nicht als Wahrnehmungsdatum zeigen. Die von Kumarila als Beispiel angefuhrte Behauptung, dass Erfahrungen auf dem Gebiete des Geruchs schliesslich auch zu visueller Erfassung des Unterschieds zwischen Schmelzbutter und Sesamol fuhren konnen 100), wird zuruckgewiesen; sie lauft auf eine blosse Manipulation des Wahrnehmungsbegriffs hinaus, da sich in Wahrheit eine Schlussfolgerung darin verbirgt 101). Die vorgeblichen Kastenuniversalien sind nichts als ,,zusatzliche Bestimmungen" (upadhi), aussere, freilich durch die Tradition sanktionierte Rollen und Funktionen, und insofern sind sie nicht grundsatzlich verschieden von Tatigkeitsbezeichnungen wie ,,Kochtum" (pacakatva), die in der Diskussion des Universalienthemas als gelaufigste Beispiele ,,zusatzlicher Bestimmungen" gelten 102). Brahmanentum usw. bedeutet nichts anderes als die Abkunft von bestimmten Stammbaumen (santativisesa prabhavatva), und solche Stammbaume bedurfen keiner theoretischen und metaphysischen Erklarung, sondern sind den Menschen aus traditionellem Umgang vertraut und gelaufig (lokata eva prasiddhah). Es bedarf keiner Hypostasierung von Kastenuniversalien, um die Anwendbarkeit der Worte ,,Brahmane" usw. und die Vollziehbarkeit der nach den Kasten spezifizierten vedischen Vorschriften zu sichern. -- Malikanatha geht in diesem Zusammenhang auch auf das Problem der ehelichen Treue der Brahmanenfrauen ein 103), das sich bei den buddhistischen Kritikern des Kastenwesens einiger Beliebtheit erfreut 104). Freilich, eine ernstzunehmende Gefahr fur die grundsatzliche Verlasslichkeit der traditionell akzeptierten genealogischen Zusammenhange sieht er darin nicht, und er tut es als einen kunstlichen Skeptizismus ab, uber den das traditionelle Wissen und Verhalten der Menschen ohne weiteres hinweggeht. -- Wo Kumarila eine eigenstandige metaphysische und erkenntnistheoretische Grundlegung zu geben versucht, beschranken sich die Prabhakaras auf eine Sanktionierung dessen, was in der Tradition ohnehin akzeptiert ist. Dieses Verfahren ist jedoch nur scheinbar naiv und unreflektiert: Der Verzicht auf eine metaphysische Konstruktion im Sinne Kumarilas erweist sich seinerseits als eine durchaus philosophische 100) So jedenfalls versteht Salikanatha das in sehr knapper und etwas kryptischer Sprache gebotene Beispiel im slokavarttika (s.o., Anm. 74). 101) Vgl. PP, S. 101: na hi tadanim caksusas ya samvedanasya visayatirekah kim tv anumanam eva tatra sarpisah. 102) Vgl. die oben, Anm. 52, genannte Arbeit. 103) PP, S. 102: katham punas tajjanyatvam eva bakyam avagantum, strinam aparadhasambhavat. sambhavanti hi pumocalyo striyah parinetaram vyabhicarantyah; vgl. auch Kumarilas Erorterung dieser Frage, TV, S. 6-7. 104) S.o., Anm. 63 (zu Santaraksita und Kamalasila). Sehr entschieden druckt die Vajrasuci diesen Zweifel aus; niemand konne sicher sein, ob er uberhaupt Brahmanensohn (brahmanaputra) sei; vgl. Vajrasuci, ed. Weber, bes. S. 220; 232. ." [30] Page #27 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 303 Stellungnahmen. Die Argumentation gegen die Anspruche Kumarilas verrat eine scharfe, an der buddhistischen Kritik geschulte Intelligenz; und schliesslich bezeichnet die Verwendung des Terminus upadhi ja auch einen eigenen .-goKKOKI sprach- und erkenntnistheoretischen Standpunkt hinsichtlich dieser Thematik einen Standpunkt, der seine eigene, bis zum Verdacht moglicher Haresie reichende Selbstandigkeit und Radikalitat hat. I yy n n [ Bekanntlich vertritt Kumarilas Schule der Mimamsa den Hauptstrom der traditionalistischen vedisch-brahmanischen Orthodoxie. Prabhakara und seine Nachfolger sind Aussenseiter geblieben und von der Orthodoxie nicht selten der gewollten oder ungewollten Bundesgenossenschaft mit dem Buddhismus verdachtigt worden. Kumarila hat einen besonders pragnanten, freilich auch einseitigen philosophischen Ausdruck fur das Eigene und Besondere des hinduistischen dharma gegenuber dem Buddhismus und anderen,,Heterodoxien" gefunden. Dies gilt nicht zuletzt fur seine Prasentation der Kastenfrage und fur die rigorose Weise, in der er das Sein der Kasten im Begriff des realen Universale verankert und allem Wechsel, aller Mobilitat und aller Reduktion auf Kriterien des ethischen Standards und der Verhaltensqualitat entzieht. Seine Einstellung und Verfahrensweise gerade auch in der Frage des Kastenwesens wirken noch deutlich nach in manchen Zeugnissen der traditionalistischen Pandit-Literatur der Neuzeit und in der darin vorgetragenen Argumentation gegen Reformer und Neudeuter. Vasudeva Sastrin Abhyankara wendet sich gegen das,, Geschwatz" (pralapa) der,,Modernen" (adhunika), die den Sinn der Kastenbezeichnungen auf Verhaltensweisen beziehen wollen und postulieren, dass jemand durch sein Verhalten Brahmane werden und dass er seinen Kastenstatus somit andern konne 105). Auch er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Bhagavadgita und betont, dass die in Vers XVIII, 42 aufgezahlten ..wesensgemassen Verhaltensweisen des Brahmanen" (brahmakarma svabhavajam) keinesfalls fur eine ethisierende Auslegung in Anspruch zu nehmen seien: Denn diese Verhaltensweisen, wie Massigung usw., seien nicht als Faktoren, die das Brahmanentum allererst herstellen, gemeint, sondern lediglich als Pflichten, die ihm zukommen 106). Brahmanentum usw. als solches kann nur mit der Geburt erworben werden. Es ist ein echtes reales Universale (Abhyankara spricht von jati und jatisamanya) und vollig den biologischen Species gleichgeordnet. Mogen sie der ausseren Gestalt nach auch ahnlich sein, so sind Brahmanen, Ksatriyas usw. doch ebenso verschieden voneinander wie Lowen und Elefanten. Kastenmobilitat kann es nicht geben 107). 105) Vgl. seinen Dharmatattvanirnaya, ed. Marulakara, Poona 1929 (Anandasrama Sanskrit Ser. 98; unter derselben Bandnummer ist 1935 noch ein Dharmatattvanirnayaparisista erschienen), bes. S. 18-20. 106) A. a. O., S. 18: na hi tatra samadikam karma brahmanatvajatiprayojakatvena-uktam, kimtu brahmanatvajatiprayojyatvena. 107) Vgl. a. a. O., S. 19: tatha ca janmasiddha jatir, na kvapi kathamapi nivartate. [31] Page #28 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 304 Wilhelm Halbfa88 Abhyankaras Argumentation zeichnet sich durch besondere Scharfe und Pragnanz aus, ist jedoch, was ihren Inhalt angeht, keineswegs ein Einzelphanomen. Durgaprasada Dviveda argumentiert in seiner Caturvarnyasiksa auf derselben Basis, -- dass namlich die vier varna in einer allem Verhalten vorausliegenden Weise in ihrem Sein konstituiert, und das bedeutet fur ihn, durch wirkliche Universalien festgelegt sein mussen 108). Auch der Pandit ,,Soobajee Bapoo", der fur L. Wilkinson die 1839 erschienene Textbearbeitung der Vajrasuci vorgenommen sowie eine eigene kritische Stellungnahme, den Tanka (,,Tunku"), hinzugefugt hat, argumentiert grundsatzlich in diesem von Kumarila exemplarisch vertretenen Sinne 109). Nach diesem Uberblick uber die im wesentlichen apologetischen kastentheoretischen Stellungnahmen der Mimamsa (genauer der Purva- oder Karmamimansa) bleibt uns nun noch die Frage, welche Position der auch als Uttaramimamsa bekannte Vedanta, speziell der Advaita-Vedanta, zu diesem Thema bezieht. 7. Zur Einschatzung des Kastensystems im Advaita-Vedanta Wahrend die bisher erwahnten philosophischen Theorien in der sozialen und politischen Diskussion im modernen Indien keine nennenswerte Rolle spielen, ist die Philosophie des Advaita-Vedanta sehr oft auf soziale und politische Themenstellungen bezogen und als metaphysische Grundlage ethischpraktischer Forderungen und Programme beansprucht worden. Dies ist vor allem in der weitlaufigen, unter der Bezeichnung Neo-Vedanta lose zusammengefassten Bewegung geschehen, und es hat in erheblichem Masse ins offentliche Leben sowie auch in die internationale Selbstdarstellung Indiens hineingewirkt. -- Es ware nicht schwer, Hunderte von Erklarungen zusammenzustellen, in denen dem Advaita-Vedanta nicht nur soziale Anwendbarkeit im indischen Bereich, sondern fundamentale Relevanz fur die Zukunft der gesamten Menschheit zugeschrieben wird. Begriffe wie Toleranz, Gleichheit, friedliche Koexistenz, Bruderlichkeit, Internationalitat, Gemeinschaft der Volker, Demokratie, soziale und okonomische Gerechtigkeit - aber auch Nationalismus und Anarchismus -- werden mit dem Advaita verknupft bzw. aus ihm ,abgeleitet" 110). Wir begegnen Schlagworten wie ,,Vedantic socialism" (Ramatirtha), ,,political Vedantism" (Aurobindo) u. dgl.; wir horen uber ,,collective economic liberation on an idealistic (d. h. Vedantic) basis"111), 108) CV, S. 198-199; auch S. 1: asvadivaj jatigunakriyabhir vibhinnabhavatisayam prapannah ...; immerhin wird das Verhalten (kriya) in einer Weise einbezogen, die gegenuber Kumarila weniger strikt erscheinen mag. 109) Vgl. Vajrasuci, ed. Weber, bes. S. 237, 239; 252. 110) Vgl. S. L. Malhotra, Social and Political Orientations of Neo-Vedantism, Delhi 1970, S. VII-VIII. 111) G. C. Dev, Idealism and Progress, Calcutta 1952, S. 440 ff.; ders., The Philosophy of Vivekananda and the Future of Man, Dacca 1963, S. 96f., nennt den Vedanta ,,the Gospel of Emancipation of Common Man". [32] Page #29 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 305 und wir werden gar daruber belehrt, dass der Vedanta uns ,,food, shelter and clothing"112) verschaffen oder vor der Wasserstoffbombe schutzen konne 113). Es wird vorausgesetzt, dass die Einheitsmetaphysik des Advaita mit den politischen Ideen der Franzosichen Revolution, mit dem Autonomiegedanken der Aufklarung und mit dem Gerechtigkeitsideal des Sozialismus ohne weiteres zur Deckung zu bringen sei und dass es nur der rechten Einsicht in diese Metaphysik bedurfe, um ihren praktischen Effekt zu sichern. ,,The Vedantic thought, if pursued honestly, is sure to give us a socialistic pattern of society wherein no distinction on the ground of colour, sex, caste, religion or age can be located" 114). ,,Domestic, social, political or religious salvation of every country lies in Vedanta carried into effect" 115). Man mag solche Ausserungen als karikaturistische Ubersteigerungen der Programmatik des Neo-Vedanta ansehen; in ihrer grundsatzlichen Tendenz treffen sie sich jedoch mit den in vorsichtigerer Sprache gehaltenen Erklarungen, die von bedeutenderen und reprasentativeren Vertretern des offentlichen und kulturellen Lebens im modernen Indien, wie S. Radhakrishnan, C. Rajagopalachari, K. M. Munshi, wiederholt abgegeben worden sind. Der dem Anspruch sozialer und politischer Anwendbarkeit des Advaita grundsatzlich zugrunde liegende Gedankengang wird von M. S. Golwalkar folgendermassen zusammengefasst und als Prinzip seiner eigenen politischnationalistischen Bewegung prasentiert: ,,The 'I' in me, being the same as the 'I' in the other beings, makes me react to the joys and sorrows of my fellow living beings just as I react to my own. This genuine feeling of identity born out of the community of the inner entity is the real driving force behind our natural urge for human unity and brotherhood. Thus it is evident that world unity and human welfare can be made real only to the extent the mankind realises this common Inner Bond"116. Ernstgemeinte Versuche philosophischer Begrundung politischen und sozialen Handelns verbinden und uberlagern sich vielfach mit einer politischen Rhetorik, die sich vedantischer Ausdrucksweisen lediglich im Rahmen praktischer Zielsetzungen bedient. Dies gilt schon fur den Grunder bzw. Anreger der Bewegung, den Svami Vivekananda, der in erheblichem Masse Pragmatiker und Rhetor ist, der sich auf Situationen und Zuhorerschaften einstellt. Vivekanandas Anspruch ist es bekanntlich, das Erbe Ramakrishnas (d. i. Gadadhar 112) S. Joshi, The Message of Shankara, Allahabad 1968, S. 177. 118) R. N. Vyas, The Universalistic Thought of India, Bombay 1970, S. V. 114) A.a. O., S. 16. 115) Ramatirtha nach H. Maheshwari, The Philosophy of Swami Rama Tirtha, Agra 1969, S. 169. 116) Bunch of Thoughts, Bangalore 1966, S. 5-6. Vgl. P. Nagarajo Rao, Introduction to Vedanta, Bombay 31966 (Bhavan's Book Univ. 48), S. 226: ,,It is the spiritual realisation of the fundamental oneness of reality that makes us feel effectively the truth of the fellowship of men." C. Rajagopalachari, Hinduism, Bombay 1959 (Bhavan's Book Univ. 58) bezeichnet den Vedantin als .,,citizen of the world". [33] Page #30 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 306 Wilhelm Halbfass aler Reform praktischen und der bestenfalls ei! Chatterji, 1836-1886) zu vertreten. Ramakrishna ist von ihm und im Anschluss an ihn geradezu zum konkreten Sinnbild des modernen Hinduismus und des lebendigen Vedanta erklart worden. Er gilt als Symbol einer universalen, gleichwohl nie abstrakten Synthese und Toleranz und als Bestatigung des wahren, in der Begegnung mit dem Westen uberhaupt erst sichtbar gewordenen Potentials des Hinduismus. Indem er als Vertreter dieses ,,wahren" und zugleich ins Universale gewendeten Hinduismus prasentiert wird, erscheint er zugleich als Vertreter des Religiosen schlechthin und als Verkorperung eines ins Hinduistische gewendeten Erfullungsgedankens, der die von einigen Missionaren vorgetragene Auslegung des Christentums als der wahren Erfullung aller Religionen aufzunehmen und zu neutralisieren vermag. In dieser Rolle ist er fur Vivekananda zugleich Leitbild politischen Handelns und sozialer Reform -- wobei freilich zu betonen ist, dass das bei Vivekananda so starke Motiv des Praktischen und der sozialen Verantwortung bei Ramakrishna selbst keine Rolle spielt und sich bestenfalls einer milden Ironie erfreuen kann: Gewiss, man soll nach Ramakrishnas Meinung die Welt nicht ubersehen; aber man soll sich doch immer daruber im klaren sein, dass man letztlich nichts ,,fur sie" tun kann oder muss 117). Fur Vivekananda und seine Nachfolger gilt es demgegenuber als ausgemacht, dass der Vedanta nicht nur ,,praktisch" werden kann, sondern, um seine eigenen Moglichkeiten zu erfullen, praktisch werden muss: Er allein, so wird vorausgesetzt, kann, als Philosophie der absoluten Einheit und als Konvergenzpunkt aller Religionen, Philosophien und Weltanschauungen, ethische Forderungen und praktische Zielsetzungen metaphysisch verbindlich begrunden und zugleich wirksam motivieren. Der nach Vivekananda reprasentativste Verkunder dieser Botschaft ist der in zahlreichen offiziellen Positionen national und international tatig gewesene S. Radhakrishnan. Er vertritt den ,,Erfullungsgedanken" in beispielhafter und besonders konzilianter und eindrucksvoller Weise: Der Vedanta ist ,not a religion, but religion itself in its most universal and deepest significance" 118). Er bietet Rahmen und Zielsetzung fur eine zukunftige Synthese aller Religionen und Philosophien und insofern auch fur die Beilegung ideologischer und politischer Differenzen und fur die Losung sozialer Probleme. -- Dabei ist stets vorausgesetzt, dass die von Sankara definitiv formulierte Lehre von der absoluten Identitat des Wirklichen in brahman ihre Entsprechung in einer auf Einheit, Gleichheit und Versohnung bedachten sozialen Haltung finden und somit auch grundsatzliche Auswirkungen auf das Verstandnis der Kastenunterschiede haben musse. 117) Von den Anhangern der Bewegung wird der durch Ramakrishnas uberlieferte Worte keineswegs zu rechtfertigende soziale Aktivismus auf ein Vermachtnis Ramakrishnas an Vivekananda zuruckgefuhrt, demzufolge der Einsatz fur die Welt selbst nur ein Durchgangastadium zu hoherer Einsicht ist. 118) Vgl. The Hindu View of Life, London 1968, S. 18. Zum christlichen Erfullungsgedanken vgl. J.N. Farquhar, The Crown of Hinduism, London 1913 (repr. New Delhi 1971). [34] Page #31 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 307 Die upanisadischen Einheitsformeln, zumal das tat tvam asi (,,Das bist du") bezeichnen nach Radhakrishnans Meinung das ,,Grundprinzip aller Demokratie"119); und es wird versichert: ,,Sankara's philosophy was essentially democratic" 120). Solchen und ahnlichen Anspruchen gegenuber ist nun die Frage zu stellen, in welchem Sinne Sankara und der traditionelle Advaita-Vedanta, wenn uberhaupt, eine Grundlage fur soziale ,,Anwendungen" und speziell fur die Formulierung eines sozial und politisch zu verstehenden Gleichheitsprinzips bieten. Dabei steht wiederum das Problem der Kastenordnung im Mittelpunkt. Die konservative Haltung Sankaras ist von seiten der Forschung wiederholt festgestellt worden, wenn auch zuweilen mit dem Ausdruck des Bedauerns oder des Befremdens 121). Die wichtigste Textstelle hierfur ist Sankaras Kommentar zu Brahmasutra I, 3, 34-38, ein Abschnitt, der von den Vertretern des Neo-Vedanta durchweg mit Stillschweigen ubergangen wird. In diesem Abschnitt diskutiert Sankara die Frage der ,,Berechtigung" (adhikara, adhikarita) zum Vedastudium, und das bedeutet in erster Linie die Frage, ob die Sudras zum Studium der vedischen Offenbarung und damit zum unerlasslichen Ausgangspunkt des befreienden und erlosenden Brahmanwissens zuzulassen seien. Sankaras Stellungnahme ist eindeutig und geht in ihrer Ausfuhrlichkeit und Rigorositat weit uber das durch den Sutra-Text Geforderte hinaus : Kudras sind zum Vedastudium nicht zuzulassen; sie bleiben vom Zugang zur erlosenden Einsicht in die absolute Einheit des Wirklichen ebenso ausgeschlossen, wie sie nach der Lehre der Purvamimamsa von der Durchfuhrung vedischer Opferritualien auszuschliessen sind 122). Ein auf Geburt und leibliche Familienzugehorigkeit gegrundetes Verstandnis der varna-Ordnung bleibt dabei stets vorausgesetzt, und es wird klargestellt, dass die metaphysische Einheit des Wirklichen keineswegs als Pramisse sozialer und religioser Gleichstellung im Empirischen verstanden werden darf. Zur Begrundung werden zahlreiche Stellen aus fruti und smrti angefuhrt; es fehlt auch nicht die oft zitierte, aus dem Gautamiya-Dharmasastra stam 110) Vgl. History of Philosophy, Eastern and Western, London 1952-1953, II, S. 447 (,,basic principle of all democracy''). 120) The Hindu View of Life, London 1968, S. 87. 121) So z. B. P. Deussen, Das System des Vedanta, Leipzig 21906, S. 63-68. - Deussen spricht von ,,Akkomodation an die nationalen Vorurteile" (a.a.O., S. 64). 122) Vgl. die alte und vielzitierte Formel sudro yajne 'navaklptah (schon Taittiriyasamhita VII, 1, 1, 6), auf die sich Sankara (zu I, 3, 34) ausdrucklich bezieht. Der purvapaksin, der eine analoge Ausschliessung des Sudra vom heiligen Wissen (sudro vidyayam anavaki ptah) in den vedischen Texten vermisst, wird nachdrucklich zuruckgewiesen mit der Behauptung, dass die Ausschliessungsregel sowohl fur Opferhandlungen wie fur das Brahmanwissen gelte; Bedurftigkeit oder Verlangen (arthitva) allein sei kein zureichender Grund fur die Zulassung. Zur Rolle der Sudras vgl. auch Mimamsasutra VI, 1, 1 ff. mit Kommentar von Sabara. [35] Page #32 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 308 Wilhelm Halbfa88 mende Vorschrift, dass einem Sudra, der unberechtigt vedische Texte anhort, die Ohren mit flussigem Zinn oder Lack (trapu, jatu) vollzugiessen seien 123). -- Sehr ausfuhrlich geht Sankara auf die Bemerkung seines purva paksin ein, dass in sruti und smrti von Fallen berichtet werde, in denen Sudras zum absoluten Wissen gelangt seien; namentlich geht es um die Falle des Janasruti aus der Chandogya-Upanisad und des Vidura aus dem Mahabharata. Dabei bedient er sich einerseits einer etymologisierenden Umdeutung des Wortes sudra, andererseits der Annahme, dass in seltenen Ausnahmefallen auch smrtiTexte, von denen die Sudras nicht ausgeschlossen sind, das befreiende Wissen auszulosen vermogen. Bemerkenswert und aufschlussreich ist die Art, in der die Geschichte von Satyakama Jabala (Chandogya-Upanisad IV, 4ff.) diesem Kontext eingefugt wird. Wahrend die Vertreter des Neo-Vedanta die Geschichte dieses jungen Mannes, der seinen Vater nicht kennt und von seinem Lehrer Haridrumata Gautama aufgrund seiner Ehrlichkeit als Brahmane eingestuft wird, stets als Beispiel eines ethischen, gegenuber der leiblichen Herkunft indifferenten Verstandnisses der varna-Ordnung ausgelegt wird, lasst Sankara keinen Zweifel daran 124), dass er Satyakamas Ehrlichkeit keinesfalls als Konstituens und Definiens seines Brahmanentums, sondern lediglich als Indiz seiner geburtsmassig legitimierten Zugehorigkeit zum Brahmanenstande ansieht 125). Die Ansicht, dass zwischen der Metaphysik allumfassender Einheit und dem Insistieren auf unuberschreitbaren Schranken im Bereiche des Gesellschaftlichen und sogar noch des Erlosungszugangs eine Diskrepanz bestehe, ist nicht erst von modernen Autoren wie Deussen vertreten worden. Sie findet sich auch schon in der indischen Tradition, sehr pragnant z. B. bei Sankaras grossem Gegner Ramanuja 126). Ramanuja, der in der Frage der Zulassung zum Vedastudium keineswegs grundsatzlich anderer Auffassung ist als Sankara, beklagt freilich keineswegs, dass Sankara eine an sich fallige Konsequenz nicht gezogen habe; er will vielmehr die Bedenklichkeit einer Metaphysik herausstellen, dergegenuber das Bestehen auf der varna-Ordnung als inkonsequent und kunstlich erscheint und die insofern als Gefahr fur den dharma angesehen werden kann: Wer brahman als einzige, ausschliessliche und in sich ganzlich undifferenzierte Realitat ansieht, -- welche Grundlagen kann der haben, Sudras vom Erlosungszugang auszuschliessen? Wenn alle Individuen in Wahrheit immer schon das eine, allumfassende brahman sind und wenn es nur noch darum gehen kann, sich dieser Wahrheit bewusst zu werden, sie im eigenen Selbstbewusstsein zu realisieren, welcher Grund bestunde dann, einen Sudra, der die Fahigkeit und die Bereitschaft zu solchem Selbstbewusst 123) Vgl. Kommentar zu I, 3, 38. - Die Vorschrift findet sich bei Gautama XII, 4. 124) Vgl. Kommentar zu I, 3, 37. 125) In der Entschiedenheit der geburtsbezogenen Auslegung geht Sankara deutlich uber die eher ambivalente Upanisad hinaus. 126) In seinem als Sribhasya bekannten Kommentar, zu derselben Brahmasutra-Stelle I, 3, 34-38. [36] Page #33 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 309 sein hat, von diesem Prozess auszuschliessen? - Die Behauptung, dass das erlosende Selbstbewusstsein nur aufgrund eines ,,Horens" (sravana), d. h. aufgrund der ,,Erweckung" durch vedische Texte, moglich sei, halt Ramanuja an sich schon fur unbegrundet - und fur ganzlich unbegrundbar im Rahmen des Advaita. Jedoch selbst dann, wenn man diese Voraussetzung gelten lasst -- kann es nicht geschehen, dass ein Sudra zufallig einen der das heilige Wissen zusammenfassenden ,,grossen Satze" (mahavakya), wie das tat tvam asi, hort und dadurch auf den Weg der Erlosung gebracht wird? Und ferner: Warum sollte jemand, der das erlosende Einheitswissen erlangt hat, der damit uber ritualistische Vorschriften und uber gesellschaftliche Konventionen hinausgegangen ist, einen Sudra davon ausschliessen, solches Wissen mit ihm zu teilen? Zusammengefasst: Sankara hat, Ramanujas Kritik zufolge, keinerlei Grundlage fur den Ausschluss der Sudras vom Vedastudium und vom erlosenden Wissen. Solche und ahnliche Probleme gelten dem Advaita-Vedanta nicht als relevant; sie sind umgangen durch eine Konzeption, die Ramanuja nicht akzeptiert, namlich die Lehre von der ,,doppelten Wahrheit", die die Wahrheit im absoluten Sinne (paramartha) von der konventionellen relativen Wahrheit des empirischen Lebens (vyavahara) abhebt und beide ohne Vermittlung und wechselseitige Begrundung nebeneinanderstellt. Eine ,,Angleichung" und Versohnung des Absoluten, d. h. der Einheit des brahman, und der relativen und letztlich unwirklichen Welt raumzeitlicher Einzelheiten und zwischenmenschlicher Bezuge wird insofern nicht als notwendig angesehen. -- Gleichwohl finden wir doch auch im Advaita gelegentlich die Tendenz zu Formulierungen, die konzilianter sind als diejenigen in Sankaras Brahmasutrabhasya, die Tendenz, die Rigorositat gesellschaftlicher Abgrenzungen durch Hinweis auf die Einheit des Absoluten abzumildern, so etwa bei Sankaras Schuler Suresvara, der die Identitat des ,, Sehers" (drastr), d. h. des absoluten Subjekts, im Brahmanen und im Candala betont 127). Auch in mehreren dem Sankara selbst zugeschriebenen Texten wird die absolute Einheit mit Hinweisen auf die Irrelevanz gesellschaftlicher Unterscheidungen erlautert und bekraftigt; zumal die in ihrer Authentizitat allerdings recht zweifelhaften kurzen Traktate Svatmanirupana und Dasasloki lassen Sankara erklaren, dass es fur ihn in Wahrheit keine Kasten (varna), Lebensstadien (asrama) u. dgl. mehr gebe 128). -- Recht haufig und in pragnanten Formulierungen sind solcherlei Feststellungen auch in den sog. Minor Upanisads' zu finden, vor allem in den als ,Samnyasa-Upanisads und ,Samanya-Vedanta-Upanisads' zusammengefassten Gruppen. So spricht die Nara 127) Vgl. Naiskarmyasiddhi II, 88. 128) Vgl. Svatmanirupana, v. 139; varnasramarahito 'ham varnamayo 'ham; Dasasloki, v. 2: na varna na varnasramacaradharma ...; beide Werke abgedruckt in: Minor Works of Sankaracarya, ed. Bhagavat, Poona 21952 (Poona Oriental Ser. 8). [37] Page #34 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 310 Wilhelm Halbfass daparivrajaka-Upanisad 129) vom Vedantakenner als einem solchen, der ,,jenseits von Kasten und Lebensstadien" (ativarnasramin) ist, und die MaitreyaUpanisad 130) schaut herab auf die Verblendeten, deren Verhalten an Kasten und Lebensstadien gebunden ist" (varnasramacarayuta vimudhah). Die Niralamba-Upanisad erklart, dass die Kaste weder der Haut, noch dem Blut, noch dem Fleisch, noch den Knochen, noch auch dem atman selbst zuzuordnen, sondern lediglich ein Gebilde des vyavahara, der lebenspraktischen Konvention, sei 181). Besonders weit geht in dieser Hinsicht die freilich hinsichtlich ihres Alters und ihrer Authentizitat recht obskure Vajrasuci-Upanisad, die im 19. Jahrhundert einiges Aufsehen erregt hat und spater von S. Radhakrishnan unter die ,,hauptsachlichen Upanisads" aufgenommen wurde 182). Dieser Text, der mit einem gegen das Kastenwesen polemisierenden buddhistischen Text, der angeblich von Asvaghosa stammenden Vajrasuci, wichtige Parallelen aufweist, weist eine Reihe von Definitionsversuchen fur den Brahmanen, namentlich diejenigen, die sich auf Geburt und gesellschaftliche Funktion beziehen, zuruck und erklart schliesslich, dass der wahre Brahmane nur durch Brahmankenntnis zu bestimmen sei. Solche Ausserungen, die die letztliche Irrelevanz der hereditaren Kastenunterschiede in der Tat explizit feststellen, mussen freilich stets im Zusammenhang mit der Lehre von der doppelten Wahrheit gesehen werden. Die Irrelevanz der Kastenunterschiede ist Irrelevanz lediglich im Lichte der absoluten Einheit des Absoluten, keineswegs aber im Zusammenhang zwischenmenschlicher Beziehungen, und sie lauft ganz und gar nicht auf Gleichstellung im sozialen und politischen Sinne hinaus. Der Brahmankenner ist ,,jenseits der Kasten", insofern er zugleich jenseits aller empirischen Unterscheidungen ist, und ebenso irrelevant wie die Kastenunterschiede sind fur ihn die Unterschiede zwischen Vater und Sohn, Mensch und Tier usw. Wer im Erkennen des brahman uber Kasten und Lebensstadien hinausgegangen ist, ist zugleich ,,erlost von Raum und Zeit" (desakalavimukta) und ,,frei von der Schopfung" 120) The Minor Upanisads, crit. ed. by F. O. Schrader. Vol. I: Samnyasa-Upanisads, Madras 1912, s. 193. 180) A. a.O., S. 112. 131) Niralamba-Upanisad, v. 10 (in: The Samanya-Vedanta-Upanishads, ed. by Mahadeva Sastri, Adyar 1921). 132) Vgl. die im Abkurzungsverzeichnis genannten Ausgaben der Vajrasuci von A. We ber und S. K. Mukherjee (enthalten abweichende Versionen des Textes der Vajrasuci. Upanisad). - Weber sieht in der Vajrasuci-Upanisad eine Vorlage fur die buddhistische Vajrasuci; umgekehrter Auffassung ist Mukherjee. - Vgl. The Principal Upanisads, ed./transl. by S. Radhakrishnan, London 1953. - Keiner dieser Autoren bzw. Edi. toren erwahnt, dass schon Rammohan Roy einen sehr ahnlichen Text, den er als Werk des Mrtyunjayacarya bezeichnet, nebst bengalischer Ubersetzung veroffentlicht hat (Erstveroffentlichung wahrscheinlich 1821); vgl. Ramamohana-Granthavali, ed. B. N. Bandyopadhyaya, Calcutta o.J., Abt. IV, S. 43-48. [38] Page #35 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie (prapancarahila) 18). Wenn, wie wir schon in der Brhadaranyaka-Upanisad lesen, der Vater nicht Vater, die Mutter nicht Mutter, die Welten nicht Welten sind, dann kann naturlich auch der Candala nicht Candala und der Brahmane nicht Brahmane sein 134). Die Kasten sind eben nur deshalb nicht,,wirklich", weil die ganze Welt, in der sie vorkommen, keine ,,wirkliche" Welt ist, weil, nach Auffassung des Advaita, alles unterhalb der Einheit des brahman auf kosmische Illusion (maya) zuruckzufuhren ist. Entscheidend bleibt, dass an keiner der erwahnten Stellen der Wirklichkeits- und Relevanzstatus der Kasten dem der empirischen Welt als solcher nachgeordnet wird. Dass die Kasten,,an sich" und im absoluten Sinne nichtig sind, bedeutet keineswegs, dass sie im,,weltlichen" Sinne aufgehoben sind und dass ihr empirisch-sozialer Status angeglichen oder anzugleichen ist. Nicht einmal in Hinsicht auf das religiose Leben und den Erlosungszugang kann von empirischer Gleichheit die Rede sein; dies haben wir am Beispiel des adhikara, der Berechtigung zum befreienden Wissen, gesehen. Ein dem Suresvara wohl zu Unrecht zugeschriebener Text mit dem Titel Vedantasaravarttikarajasamgraha 135) scheint in dieser Hinsicht eine gewisse Ausnahme zu bilden, da er tatsachlich gleichen Wissens- und somit Erlosungszugang (vidyadhikarita),,fur alle Kasten" (sarvajatisu), insofern sie mit dem Vermogen des Selbstbewusstseins (bodha) begabt seien, andeutet. Ganz abgesehen davon, dass dieser Text in der Tradition des Advaita-Vedanta recht vereinzelt dazustehen scheint, bleibt zu beachten, dass auch sein Gleichheitsanspruch rein soteriologisch ist, sich also auf den Zugang zur Erlosung von der Welt, nicht aber auf den Status in der Welt bezieht. 311 Zur Frage der soteriologischen Gleichstellung gibt es fur die indischen Schulen eine gewisse Freiheit und Variationsbreite der Diskussion, die im 11. Jahrhundert sogar dem islamischen Indienreisenden al-Biruni aufgefallen ist 136). Bekanntlich zeigen in dieser Hinsicht die sektarischen theistischen Schulen eine zumeist grossere Offenheit und Flexibilitat als die klassischen orthodoxen Systeme. Dasjenige sektarische System, das am ehesten mit dem Advaita in philosophische Konkurrenz treten kann, die Pratyabhijna-Lehre des kashmirischen Sivaismus, wird ausdrucklich allen Menschen, ohne Ruck 193) Vgl. Maitreya-Upanisad, bei Schrader, a.a. O. (s.o., Anm. 129), S. 114-115. 134) Vgl. Brhadaranyaka-Upanisad IV, 3, 22; auch die oben, Anm. 131, genannte Niralamba-Upanisad; Sankara, Upadesasahasri I, 1, 10ff. In seinem Kommentar Siddhantabindu zur Dasasloki bemerkt Madhusudana Sarasvati: varnaeramadivyavaharasya mithuajnanamulatvena mithyatvam (ed. P. C. Divanji, Baroda 1933, Gaekwad's Oriental Series 64, Sanskrit-Text, S. 41). 135) Veroffentlicht in Bd. 13 von P. P. S. Sastri, A Descriptive Catalogue of the Sanskrit Manuscripts in the Tanjore Maharaja Serfoji's Sarasvati Mahal Library, Srirangam 1931, No. 7736. Vgl. besonders v. 11-12. Dazu P. Hacker in der in Anm. 139 genannten Arbeit, S. 10-11. 136) Vgl. Alberuni's India, Engl. by E. C. Sachau, London 1910, I, S. 104. [39] Page #36 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 312 Wilhelm Halbfass II fereitschafuchheitsstif veg auf dens und ein sicht auf Kastenzugehorigkeit u. dgl., zuganglich gemacht 187). Gewiss darf man auch innerhalb der sektarischen Traditionen die konkreten Anwendungen und die geschichtlichen Auswirkungen soteriologischer Gleichstellung nicht uberschatzen. Immerhin besteht hier ofter eine gewisse grundsatzliche Bereitschaft, in der Annahme eines bestimmten Lehrsystems und eines bestimmten Erlosungsweges einen wenn auch durchweg auf den religiosen Bereich beschrankten einheits- und gleichheitsstiftenden Faktor zu sehen. Besonders weitgehend ist die Bereitschaft, fur die radikaleren Formen religiosen Lebens, d. h. vor allem fur die ,,Entsagung" (samnyasa), eine Aufhebung der normalerweise geltenden und durchaus nicht generell in Frage gestellten gesellschaftlichen Schranken zuzulassen. Selbst auf diesem Gebiet, das ohnehin nur ein Randphanomen des gesellschaftlichen Lebens betrifft, erweisen sich die Vertreter des Advaita-Vedanta in der Regel als sehr konserativ. In ihrer Darstellung der Entsagung und der ,,Erlosung bei Lebzeiten" (jivanmukti) wird sehr deutlich, dass sie ihre metaphysische Lehre nicht nur de facto nicht gesellschaftlich anwenden", sondern nicht selten geradezu die Gelegenheit zu solcher Anwendung zu eliminieren und ein Hinuberwirken ihrer metaphysischen Prinzipien auf die Gesellschaftsordnung zu vermeiden suchen. Die dem ,,Entsager" (samnyasin) zugestandene Freiheit wird sorgfaltig kanalisiert. Auch in der Negation und im Verzicht bleibt er noch an die Ordnung gebunden, aus der er sich lost. Das Bestehen und grundsatzliche Geltenlassen dieser Ordnung bleibt Bedingung der Moglichkeit, sich von ihr zu losen. Nur wer zum Vedastudium und zur vedischen Opferpraxis berechtigt ist, kann berechtigt sein, sich davon zu losen. Der samnyasin kann seine Legitimation nur aus dem dharma beziehen, von dem er sich lost 138). Und wie der Zugang zur Entsagung und Selbstbefreiung beschrankt ist, so bleiben auch innerhalb des samnyasa Verhaltensregeln, etwa hinsichtlich der Bettelpraxis, und die Abgrenzung verschiedener Gruppen von Entsagern zu beachten; ein hoherer Grad an Freiheit wird nur der hochsten dieser Gruppen, den paramahamsa, eingeraumt. Auch noch in der Interpretation der ,,Erlosung bei Lebzeiten" (jivanmukti) legen die strengeren und Sankara unmittelbar nahestehenden Vertreter des Advaita Wert darauf, dass das dadurch gegebene Uberschreiten des gesellschaftlichen und durch den dharma geordneten Bereichs keine bedenklichen Ruckwirkungen auf die gesellschaftlichen Verhaltnisse hat und nicht zu einer Verletzung ihrer Grundstruktur, namlich des Systems der vier varna, fuhrt. Suresvara betont, dass es fur den Lebenderlosten kein ,,Verhalten nach Belieben" (yathestacarana) 187) Vgl. Abhinavagupta, Vimarsini zu Utpaladeva, Tavarapratyabhijna IV, 2, 3 (ed. M. Kaul Shastri, Bombay 1921; Kashmir Ser. 33; II, S. 276): ... na-atra jatya. dyapeksa kacit. 188) Vgl. P. Olivelle, A Definition of World Renunciation. Wiener Zeitschrift fur die Kunde Sudasiens 19 (1975), S. 75-83. ? [40] Page #37 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie gebe, und sein Kommentar Jnanottama bemerkt dazu, dass ein Lebenderloster automatisch fortfahre, sich nicht nur seiner menschlichen Natur, sondern auch seiner Kastenzugehorigkeit entsprechend zu verhalten). Damit sind per definitionem sektarische und andere vorgebliche Lebenderloste, die die Regeln des uberlieferten gesellschaftlichen Anstands und damit den dharma verletzen, aus dem Bereich der wahren und legitimen,,Erlosung bei Lebzeiten" ausgeschlossen, und das im Begriff der Erlosung (mukti) implizierte Transzendieren aller gesellschaftlichen Wirklichkeit ist zugleich hinsichtlich seiner moglichen gesellschaftlichen Konsequenzen neutralisiert worden. Dass der Lebenderloste, der wahrhaft Wissende gelegentlich als wahrer Brahmane bezeichnet wird 140), ist selbstverstandlich nicht so zu verstehen, als ob er die der Brahmanenkaste traditionell und hereditar zuerkannte Rolle ubernehmen oder als ob die geburtsbezogene Definition des Brahmanen durch eine andere, soteriologisch-ethische ersetzt werden sollte. Auch in dieser Weise findet die beanspruchte Erkenntnis des Absoluten keine Anwendung auf die gesellschaftliche Sphare. Dasjenige Wissen, nach dem der Vedantin strebt, kann und soll dem gesellschaftlichen Leben keine Massstabe setzen; der vedantische Brahmankenner bleibt dem platonischen Philosophenkonig, der in der metaphysischen Erkenntnis Richtlinien fur soziale Organisation und politisches Handeln sucht, diametral entgegengesetzt. Gegenuber oft wiederholten Behauptungen von seiten des Neo-Vedanta ist zu betonen, dass mit der Idee des Lebenderlosten im klassischen Advaita keinerlei Anspruche sozialer oder politischer Verantwortung und kaum ethische Motive verbunden werden. Allgemein gilt fur den Advaita der Schule Sankaras, dass es aus der Erlosung keine Ruckkehr in die Welt gibt 14); und gewiss kann es fur den in ihrem Sinne verstandenen Lebenderlosten kein Motiv zu sozialem und politischem Handeln mehr geben. Selbst fur die in spaterer und neuerer Zeit so beliebte Idee des als Lehrer tatigen Lebenderlosten durften sich in der Literatur des klassischen Advaita kaum eindeutige Belege finden lassen. -- 313 Es gibt im Advaita auch keine Ethik und Metaphysik des Mitleids, wie wir sie im Mahayana-Buddhismus finden; vom buddhistischen Ideal des Bodhisattva ist die Vorstellung des Lebenderlosten im Vedanta in dieser Hinsicht sehr verschieden. Die Lehre von der absoluten Einheit des Selbst wird im 139) Vgl. P. Hacker, Untersuchungen uber Texte des fruhen Advaitavada. 1: Die Schuler Sankaras, Abh. Ak. Wiss. Lit. Mainz 1950, S. 105. - 140) S. o., Anm. 132; 11; Weber, Collectanea, S. 97; auf buddhistischer Seite vgl. Dhammapada, bes. v. 395 ff. 141) Vgl. Naiskarmyasiddhi III, 57: na ca kaivalyat punarutthanam nyayyam. - Angeblich gegenteilige Ausserungen Sankaras im Brahmasutrabhasya (etwa zu III, 3, 32) sind vielmehr Versuche, scheinbare oder tatsachliche Ausnahmen zu dieser Regel zu erklaren. Anders als im strikten Advaita wird die Rolle des jivanmukta in eher synkretistischen Texten wie dem Yogavasistha dargestellt. [41] Page #38 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 314 Wilhelm Halbfass traditionellen Advaita nicht als Pramisse allumfassenden Mitgefuhls verstanden; uberhaupt spielt der Begriff des Mitleids hier kaum eine Rolle. Wenn die buddhistische Ethik des Mitleids im Hinduismus eine Entsprechung findet, dann viel eher in den theistischen Schulen, zumal im Visnuismus 142). Wir konnen zusammenfassend sagen, dass im traditionellen Advaita die Voraussetzung der absoluten Einheit in der Erlosung verbunden bleibt mit einem kompromisslosen Festhalten an einer der Kastenordnung entsprechenden Ungleichheit des Zugangs zu ihr. Allgemein wird jede Vermengung der beiden Ebenen der Wahrheit, jede ,,Anwendung" des Absoluten (paramartha) auf das Empirische und Konventionelle (vyavahara) vermieden. Einer grundsatzlichen metaphysischen Indifferenz gegenuber Fragen zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Bezuge steht eine entschieden konservative Haltung auf der empirischen Ebene gegenuber. Wie in anderen Fragen der ,,niederen Wahrheit" schliesst sich der Advaita auch in dieser Hinsicht der Purvamimamsa Kumarilas an. - Den zuvor erorterten apologetischen Erklarungsund Begrundungsversuchen, die das Kastensystem mit der Universalientheorie und mit der Lehre von den drei guna verbinden und es sozusagen metaphysisch und erkenntnistheoretisch vertretbar machen wollen, stellt der Advaita-Vedanta, wie bei seiner grundsatzlichen Orientierung auch nicht anders zu erwarten ist, nichts Eigenes an die Seite. Die sozialen und politischen Gedankengange des Neo-Vedanta lassen sich aus den Lehren des klassischen Advaita-Vedanta und ganz allgemein aus der Tradition klassischen indischen Philosophierens gewiss nicht ableiten 148). 142 Vgl. P. Hacker, Prahlada. Werden und Wandlungen einer Idealgestalt, Abh. Ak. Wiss. Mainz 1959. Zur buddhistischen Mitleidsphilosophie vgl. E. Conze, Buddhist Thought in India, London 1962, S. 80ff.; die buddhistischen Begriffe fur Mitleid (karuna), Freundschaft (maitri) u.a. sind auch vom klassischen Yoga des Patanjali ubernommen worden. 148) Eine scharfsinnige Stellungnahme zu den Grundlagen und zur geschichtlichen Herkunft des praktischen Vedanta" hat P. Hacker vorgelegt: Schopenhauer und die Ethik des Hinduismus, Saeculum 12, 1961, S. 366-399. Hackers These ist, dass die Lehre von der ethischen (und daruber hinaus von der sozialen und politischen) Anwendbarkeit der vedantischen Identitatsphilosophie westlicher Herkunft ist: A. Schopenhauer habe, aus dem Kontext seiner eigenen Ethik heraus, als erster den Gedanken der ethischen Anwendung auf die Identitatsmetaphysik und ihre Formel tat tvam asi ubertragen, und sein Anhanger P. Deussen habe diesen Gedanken ubernommen und ihn durch eine Rede in Bombay 1893 sowie durch personliche Einflussnahme auf Vivekananda im Jahre 1896 ins moderne indische Denken eingefuhrt. Eine eingehende Diskussion dieses richtungweisenden Aufsatzes muss einer in Vorbereitung befindlichen separaten Arbeit vor. behalten bleiben. Hier sei nur angemerkt, dass im grundsatzlichen Hackers These gewiss nur bestatigt werden kann, wenn auch gilt, dass fur Schopenhauer philosophische Ethik grundsatzlich deskriptiv ist und ihm der Gedanke ,,ethischer Folgerungen" und ,,praktischer Anwendungen" eigentlich fremd ist. Dieser Schritt wird erst in Deussens christianisierender Schopenhauer-Deutung und im Zusammenhang mit seiner Neigung zu einem epigonalen Synkretismus getan. [42] Page #39 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Zur Theorie der Kastenordnung in der indischen Philosophie 315 Auch die Ansicht, dass der Advaita ein zumindest implizites praktisches Potential enthalte, dass dieses Potential gleichsam darauf warte, aktualisiert und vollzogen zu werden, erweist sich als fragwurdig. Es fehlt zwar nicht an programmatischen Versuchen, die von Sankara nicht durchgefuhrte praktische Anwendung der metaphysischen Einheitslehre nachzuholen; es gibt zahlreiche Ausserungen, die auf eine Sakularisierung der Begriffe und Lehren des Advaita hinauszulaufen scheinen 144), und die im klassischen Vedanta getrennten Ebenen des Absoluten und des Empirisch-Konventionellen werden immer wieder aufeinander bezogen, sollen fureinander fruchtbar gemacht werden. Aber das fundamentale Problem der ,,Vermittlung"145) metaphysisch-allumfassender Einheit und sozial und politisch konkretisierbarer Gleichheit bleibt dabei in der Regel ganz ausser Betracht. Der Sinn von Gleichheit, in dem Brahmanen nicht nur mit Sudras, sondern auch mit Tieren, Pflanzen usw. gleichzustellen sind, ist und bleibt politisch und sozial irrelevant, und er lasst sich nicht verbindlich auf bestimmte und konkrete soziale und politische Programme festlegen. - Zwar wird, wie zu Beginn dieses Kapitels bemerkt, der Vedanta vor allem mit Begriffen wie Demokratie, internationale Solidaritat, Sozialismus assoziiert, jedoch kann er auch durchaus in Verbindung mit Begriffen wie Nationalismus, Individualismus, ja sogar Kapitalismus vorkommen 146), und es ist offenbar recht schwierig, hier legitime und illegitime Anwendungsweisen zu unterscheiden. Es kann deshalb nicht uberraschen, dass auch die vom Neo-Vedanta vertretene Darlegung, Deutung und Kritik der vier varna oft abstrakt und unverbindlich bleibt. Es liegt ausserhalb unserer gegenwartigen Themenstellung, die in der Tat recht vielfaltigen und mehr oder weniger Reform bereitschaft anzeigenden neuhinduistischen Stellungnahmen zur varna-Theorie einerseits und zum tatsachlichen Kastenwesen andererseits zu erortern und zu beurteilen. Es mag hier genugen, auf Radhakrishnans Behandlungsweise des Themas hinzuweisen, die gewiss in mancher Hinsicht exemplarisch ist. In dem in zahlreichen Auflagen verbreiteten Werk "The Hindu View of Life" wird das (stets vom aktuellen Kastenwesen sorgfaltig unterschiedene) varna-System zunachst mit der Vererbungswissenschaft in Verbindung gebracht; sodann wird auf das Zusammenspiel von',,Veranlagung und Erziehung" (,,nature and nurture") in diesem System hingewiesen 147); schliesslich wird erklart: "While the system of caste is not a democracy in the pursuit of wealth or happiness, it is a democracy so far as the spiritual values are concerned, for it recognizes that every 144) So etwa, wenn S. Radhakrishnan erklart, Erlosung (moksa) musse hier und jetzt, auf Erden, durch menschliche Beziehungen vollbracht werden (Religion and Society, London 1947, S. 104). 145) S.O., Anm. 1 (zu Hegel). 146) Vgl. K. Damodaran, Indian Thought, New York 1967, S. 483. 147) A.a. 0. (zit. Ausg.: London 1968) S. 73-74. [43] Page #40 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 316 Wilhelm Halbfass soul has in it something transcendent and incapable of gradations, and it places all beings on a common level regardless of distinctions of rank and status, and insists that every individual must be afforded the opportunity to manifest the unique in him" 148). Wie der Kontext zeigt, argumentiert Radhakrishnan hier zwar keineswegs dafur, das ,,Nicht-Spirituelle" und ,,Nicht-Transzendente" schlechthin ausser acht zu lassen; aber es ist doch klar, wie sehr das Modell der doppelten Wahrheit fur ihn verbindlich bleibt und wie wenig er zur radikalen Kritik und zum Einnehmen eines wirklich sakularen Standpunktes bereit ist. Ramakrishna, der ganzlich unpolitische Inspirator des Neo-Vedanta, hat die hier liegenden grundsatzlichen Schwierigkeiten bereits in seine anschauliche und gewiss nicht auf soziale und politische Bedeutsamkeit zielende Metaphernsprache gebracht, und er zeigt dabei einen religiosen common sense, den seine Nachfolger zumeist vermissen lassen. In der Parabel vom Elefanten verlasst sich ein junger Vedanta-Schuler so sehr auf die Lehre von der Identitat aller Dinge mit Gott, dass er, trotz der Warnungen des Treibers, einem konsequenterweise mit Gott identifizierten Elefanten nicht aus dem Wege geht; schwer verletzt muss er sich von seinem Meister belehren lassen, dass, wenn denn schon alles Manifestation Gottes sei, er sich denn doch besser an das gleichermassen gottliche Wort des Elefantentreibers hatte halten sollen 149). Wohlbekannt ist die Metapher vom Wasser, die die Einheit dieser durstloschenden Substanz der irrelevanten Mannigfaltigkeit ihrer Namen gegenuberstellt und damit die Einheit des Gottlichen und der Wahrheit gegenuber der Verschiedenheit der Konfessionen und Religionen zu illustrieren sucht 150). Diese Metapher ist so sehr zur Lieblingsmetapher des Neo-Vedanta geworden, dass sie eine andere Wasser-Metapher Ramakrishnas hat ganzlich in den Hintergrund treten lassen: Zwar heisse es in den Schriften, dass Wasser eine Form Gottes (und wir durfen erganzen: eine Manifestation seiner Einheit) sei. Aber es gebe doch Wasser, das geeignet sei fur den Gottesdienst; anderes Wasser sei zum Waschen des Gesichts, und wiederum anderes nur zum Waschen von Tellern oder schmutziger Wasche geeignet 151). 148) A.a. O., S. 83. 149) The Gospel of Sri Ramakrishna, transl. by Swami Nikhilananda, Mylapore/Madras 51969, S. 8-9. 150) A. a.O., S. 204; sowie in etwas anderer Version S. 374-375. 151) A.a. O., S. 9. [44]