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gendeinem Zeitpunkt ohne wirkliche sachliche Berechtigung als Benennung der Irrtumslehre der Naiyayikas verwendet worden sein sollte. Daß sich Yamari mit seiner Zuweisung der Lehre,sarvam sarvatra vidyate' an die Vertreter des Sämkhya gleichwohl nicht geirrt hat oder damit etwas bloß Erfundenes vorträgt, sondern über ein entsprechendes Wissen verfügt, das zu seiner Zeit freilich nicht notwendig Allgemeingut der philosophisch Gebildeten gewesen sein muß, folgt aus der Tatsache, daß Prajñākaragupta selbst von der Zugehörigkeit des sarvasarvätmakatvavāda zum Samkhya spricht, indem er (o.c., 180.21) bemerkt: samkhyamatam avalambya sarvam sarvatra vidyate.
A. Wezler
Das Auffällige ist aber nicht, daß Yamari die These 'sarvam sarvatra vidyate' den Vertretern des Sämkhya zuweist, woraus zu ersehen ist, daß die Herkunft des sarvasarvātmakatvavāda noch im 11. Jh., zumindest ihm, bekannt war; überraschend ist vielmehr, daß Prajñākaragupta diese Lehre im Zusammenhang von Irrtumstheorien zur Sprache bringt. Gewiß, es läßt sich durchaus nachvollziehen, daß von dieser gedanklichen Position aus eine Theorie der Art entwickelt wurde, daß der Irrtum das Erkennen eines der,,allen" Dinge darstellt, welche in einem bestimmten Einzelding enthalten sind: da z.B. eine Perlmuschel aus allem, also auch aus Silber, besteht, wird sie irrtümlich als dieses erkannt, d.h. in ihrem spezifischen Eigenwesen verkannt. Daß von allen" in der Perlmuschel enthaltenen Dingen gerade das Silber zum Erkenntnisgegenstand des Irrtums wird, dürfte vermutlich mit der zwischen beiden bestehenden Ähnlichkeit erklärt worden sein, einem Begriff, der auch in anderen Irrtumstheorien von Bedeutung ist.
Das Fehlen von auch nur Anspielungen auf diese Irrtumstheorie in älteren Texten, gleich welcher Provenienz, einschließlich der im vorliegenden Aufsatz untersuchten Textstücke, widerrät aber entschieden der Annahme, daß diese irrtumstheoretische Fortentwicklung oder Verwendung des sarvasarvätmakatvavāda eine Leistung von Vertretern des klassischen bzw. eigentlichen Samkhya darstellt. Die involvierten Probleme sind jedoch zu komplex, als daß sie ohne ein weiteres Ausholen erörtert werden könnten, das sich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung leider verbietet. Immerhin sei noch der Hinweis gestattet, daß die erst relativ späte Bezeugung einer argumentativ auf den sarvasarvātmakatvavāda gegründeten Irrtumslehre die Vermutung nahelegt, daß sie eher in Kreisen vom Samkhya beeinflußter Theisten entstanden ist.
In diese Richtung dürfte auch Ramanuja (1056-1137 gemäß Nakamura) weisen, der im Zusammenhang der Erörterung der Irrtumsproblematik in seinem Śribhasya zu BS I.I.I. die Darstellung einer von ihm erwogenen alternativen Lehre mit den Worten beginnt: athava
81 Vgl. L. Schmithausen, Mandanamifra's Vibhramavivekah mit einer Studie zur Entwicklung der indischen Irrtumslchre", Wien 1965. Mit Prabhakaras Theorie setzt sich übrigens Jayantabhatta auseinander, Nyayamanjari (critically ed. by K. S. Varadacharya, Vol 1. Oriental Research Institute Series No. 116, Mysore 1969), p. 54 ff.
82 Bhagavad Badarayana's Brahma Sutra or Sariraka with Sri Bhashya by Sri Bhagavad Ramanuja and its commentary named Bhashyartha Darpana by Sri Uttamur T. Viraraghavacharya, Pt. I, Madras 1963, 132 f.
Der sarvasarvatmakatvavāda
yathartham sarvavijñānam iti vedavidām matam/ frutismṛtibhyah sarvasya sarvātmatvapratititaḥ || bahu syam' itisankalpapūrvasṛṣtyädyupakrame/ tāsām trivṛtam ekaikām' iti frutyaiva coditam // trivṛtkaranam evam hi pratyaksenopalabhyate/ yad agne rohitam ripam tejasas tad, apām api // fuklam kṛṣṇam pṛthivyaf cety agnav eva trirüpata/ frutyaiva darfita tasmät sarve sarvatra samgatah ...
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Da eine zufällige Konvergenz alles andere als wahrscheinlich ist, darf davon ausgegangen werden, daß sich Ramanuja auf die gleichen Kreise bezieht, die auch Prajñākaragupta im Auge hat, solche nämlich, die auf der Basis der ontologischen Position, daß sarvam sarvatra vidyate', einen sehr bemerkenswerten Beitrag zur Irrtumsdiskussion geliefert haben; denn ihnen zufolge gibt es nämlich gar keinen Irrtum, ist vielmehr ein jedes Erkennen richtiges Erkennen. Wenn somit auch im Lichte der Feststellungen Ramanujas der obige Versuch einer Rekonstruktion der ,,Irrtumslehre" dieser Denker als revisionsbedürftig erscheint, so wird andererseits durch Ramanuja doch die Vermutung bestätigt, daß-es sich bei ihnen nicht um Ver. treter des anifvaram samkhyam gehandelt haben kann, denn hinter seinen „vedavidaḥ" könnten sich durchaus von Samkhya-Doktrinen beeinflußte UpanischadenErklärer bzw. Theologen verbergen. Und auf die enge Verbindung des Samkhya zu Kreisen, in denen religiöse Lehren überliefert und gepflegt wurden", sowie auf den ,,starken Einfluß, welchen das Samkhya auf diese Kreise ausübte", ist verschiedentlich hingewiesen worden, u.a. von Frauwallner". Jedenfalls kann man nicht aus dem andererseits sicher nicht zufälligen Anklang der ersten Hälfte der zitierten Verse Ramanujas an den Anfang des Nayavithi betitelten dritten Prakarana in Sälikanathas Prakaraṇapañcikä (vathärtham sarvam eveha vijñānam iti siddhaye / prabhakaraguror bhavaḥ samicinaḥ prakatyate // einfachhin schließen, daß Rāmānuja mit dem Ausdruck vedavidaḥ Prabhakara bzw. seine Anhänger gemeint hat; denn eine Nutzbarmachung des sarvasarvätmakatvaväda durch Prabhakara selbst, mit der Intention, seine These, daß jegliche Erkenntnis richtige Erkenntnis ist, ontologisch zu untermauern, ist nicht bezeugt und darf auch in bezug auf die von ihm ausgehende Schule als nicht gerade wahrscheinlich gelten. Daß die von Rämänuja dargestellte Irrtumslehre gar nicht von Vertretern des Sämkhya stammt, dürfte im übri gen auch Prajñākaragupta dadurch andeuten, daß er (s. o. S. 386) von einem „Sich. Stützen auf die Ansicht der Samkhyas" spricht.
7. Faßt man die in den Textstücken B-K über den sarvasarvätmakatvavāda gemachten Aussagen ohne Berücksichtigung der literarhistorischen Abhängigkeiten und der Chronologie der Werke, aus denen sie stammen, systematisch zusammen und analysiert sie auf ihren wesentlichen philosophischen Inhalt sowie ihre Bezie
83,,Geschichte der indischen Philosophie", 1. Bd. (= G.d.i.Ph.), Salzburg 1953, 283 u. 330 (dort die zitierte Passage).