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A. Wezler
getragene Lehre, wenn auch wohl nicht allein, den Ausgangspunkt für die Entwick lung des in Rede stehenden eigentümlichen philosophischen Seinsbegriffs gebildet hat, und zugleich, daß diese Fortentwicklung nicht erst erheblich später in einer eigentlich ganz anderen Schule eingesetzt hat. Durch diese Berufung Rāmānujas auf Ch U 6.2.3 einerseits und die wahrscheinliche Bezeugung dieser Theisten durch Mallavadin andererseits (s. u. S. 402) wird nämlich die hypothetische Erwägung nahegelegt, daß das zunächst überraschende,,Wiederauftauchen" des sarvasarvātmakatvavāda im Rahmen einer Diskussion über die Irrtumsproblematik - anders als oben (S. 387) vermutet worden war nicht durch Einfluß des Samkhya auf eine theistische Schule zu erklären ist, sondern eher durch eine gemeinsame Herkunft des Begriffs vom Seienden, der erst sekundär im Rahmen jeweils anderer Welterklärungsversuche, hier eines dualistischen (und atheistischen), dort eines theistischen (vielleicht auch monistischen), differenziert worden wäre. Was das Samkhya von dieser Schule doktrinär unterschieden hätte, wäre dann in erster Linie der von ihm im Laufe seiner Entwicklung immer radikaler gefaßte Dualismus und die völlige Entgeistigung der Materie gewesen. Möglicherweise war die Entstehung beider Denkrichtungen, des Ur-Samkhya wie jener theistischen Schule, aus dem gleichen Überlieferungsstrom dadurch bedingt, daß die Vertreter der einen den Begriff des Seienden in Ch U 6.2 als ungeistige materia prima und Grundlage (prakṛti) der Etscheinungswelt gedeutet haben, die Theisten aber personal als Schöpfergott und Ausgangspunkt der Weltemanation, wobei von beiden als,,ererbte" Gemeinsamkeit die spezifische Seinsvorstellung und der aus ihr, und nicht allein aus der ,,Anschauung der Dinge", entwickelte sarvasarvātmakatvaväda bewahrt wurde.
7.8. Was nun die weitere Entwicklung des klassischen Sämkhya anbelangt, so hat man den Eindruck, daß der sarvasarvātmakatvavāda im Laufe der Zeit in den Hintergrund getreten ist, denn, obwohl der mit ihm direkt verknüpfte Begriff des vaitvarūpyasya avibhagaḥ auch in kārikā 15 der Sämkhyasaptati unter den 5 Beweisen für die Existenz des avyakta begegnet, fällt auf, daß nur mehr in einigen wenigen Kommentaren zu Isvarakṛsnas Werk in diesem Zusammenhang die Lehre sarvam sarvātmakam' überhaupt noch herangezogen und behandelt wird, wobei die Erläuterungen dann auch noch eher dürftig ausfallen. Welche Gründe waren für diese Verhaltenheit" verantwortlich? Das Bemühen, gegnerischen Einwänden zu begegnen und diese Beweise so zu formulieren bzw. zu interpretieren, daß sie als zwingend angesehen werden konnten, also inzwischen in der Logik allgemein erzielte Fortschritte? Oder hatte man die Inkompatibilität dieses Theorems mit anderen, inzwischen entwickelten und wichtiger erscheinenden Lehrelementen entdeckt?
Falls ein solcher Widerstreit dazu geführt haben sollte, daß der sarvasarvātmakatvavāda, wie es doch offenbar der Fall war, an Bedeutung verlor, dann kann dieser nicht darin gesehen worden sein, daß unter den Begründungen für den satkāryaväda u.a. auch das Argument angeführt wird, daß nicht alles aus allem entsteht/ entstehen kann 105, denn beide Vorstellungen sind durchaus miteinander verein106... sarvasambhavābhāvāt. Kārikā 9 wird übrigens von Simhasuri zitiert (Nayacakra 35. 17-18).
Der sarvasarvatmakatvavada
bar, insofern sich die Erkenntnis, daß jeweils spezifische Ursachen erforderlich sind, nur auf den Bereich des Wahrnehmbaren bezieht. Am ehesten noch könnten die tatsächlich gegebenen Schwierigkeiten, den sarvasarvätmakatvavāda mit der Wiederverkörperungs- und damit Erlösungslehre in Einklang zu bringen, sein In-den-Hin tergrund-Treten verursacht haben; denn geht man z.B. von dem Fall aus, daß ein Mensch von einem Raubtier getötet und gefressen wird, so müßte dieses Raubtier gemäß den sarvasarvātmakatvavāda den Menschen nicht wahrnehmbar, aber als seiend in sich enthalten, gemäß der Sämkhya-Auffassung der Wiederverkörperungs. lehre aber müßte der feine Körper (sükṣmalarira) mit dem psychischen Organismus in einen neuen Mutterschoß eingegangen sein, um als auch wahrnehmbar seiender Mensch geboren zu werden.
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Jedenfalls hat man mal wieder das Gefühl, daß die mangelnde gedankliche Kohärenz und systematische Konsistenz einzelner Lehren des Samkhya in ihrem philosophischen Zusammenhang historisch darin begründet ist, daß sie zu verschie denen Zeiten aufgekommen, übernommen oder in Antwort auf von außen kommende Anstöße entwickelt wurden. Daß die Anwendung des sarvasarvätmakatva vada auf den psychischen Bereich, insbesondere im Rahmen der karman-Lehre, problematisch erscheint, könnte in diesem Sinne dadurch bedingt sein, daß er in einer Zeit konzipiert wurde, zu der die Frage nach dem psychischen Apparat, namentlich im Hinblick auf die Wiederverkörperung, noch nicht ins Blickfeld getreten war. Man wird aber auch damit rechnen, daß die Entwicklung des Systems" im Wesentlichen schon abgeschlossen war, bevor das philosophische und wissenschaftliche Denken einen solchen Stand erreichte, daß die Notwendigkeit systematischer Konsistenz und entsprechender Durchdringung einer Lehre überhaupt eingesehen war. Von daher scheint die Möglichkeit gegeben, daß ein philosophisches System" in alter Zeit eben kein System, sondern ein gewachsenes Gesamt mehr oder minder locker miteinander verbundener Versatzstücke darstellt und daß, sollte dies für das Samkhya zutreffen, das Fehlen systematischer Konsistenz mit der Tatsache zu erklären ist, daß die kreative Fortentwicklung dieser Lehre gerade dann zu ihrem Ende kam, als in anderen Kreisen wirkliche philosophische Systeme entstanden, so daß das Samkhya dieser letzten und in gewisser Hinsicht tödlichen Herausforderung nicht mehr begegnen konnte. Inwieweit ein solcher Versuch, wenigstens teilweise, von denjenigen unternommen wurde, welche in starkem Maße gedanklich an das Samkhya angeknüpft haben, bleibt noch zu untersuchen und würde einen wesentlichen. Aspekt bei der noch zu schreibenden Geschichte der Rezeption von Samkhya-Gedankengut bilden.
Nicht völlig ausschließen kann man wohl auch die Möglichkeit, daß die ganz andere Entwicklung, die das sarvasarvätmaka-Theorem in jener theistischen Schule, die bereits zu jener Zeit bestanden zu haben scheint, erfahren haben dürfte, auf das Samkhya in dieser Weise gewirkt hat wie auch vielleicht eine ganz anders geartete Vorstellung von der Resorption der Erscheinungswelt, die in diesem Prozeß nicht ein Entschwinden aus der Sichtbarkeit, sondern ein tatsächliches Sich-Auflösen auch des Menschen als materiellen Organismus im personalen Absolutum sah. Auch das Bemühen der Samkhya-Denker, jedem Einzelding und damit auch je