Book Title: Die Gottesidee In Der Indischen Philosophie Des Ersten Nachchristlichen Jahrtausends
Author(s): Gerhard Oberhammer
Publisher: Gerhard Oberhammer

View full book text
Previous | Next

Page 5
________________ Die Gottesidee in der indischen Philosophie des ersten nachchristl. Jahrtausends 451 sâmkhyistischer Gotteslehre tatsächlich verlaufen ist, entzieht sich noch dem Blick des Historikers, und so kann das eben Gesagte nur als typologische Aussage gewertet werden, die zwar eine historische Beeinflussung und Entwicklung voraussetzt, über das ,,Wie" dieser Beziehung aber nichts Positives enthält. II. Einem ganz anderen Typus der philosophischen Gotteslehre als dem des så mkhyistischen Yoga gehört die Gotteslehre des Nyâya und des Vaiseșika an. Diese beiden Systeme waren ursprünglich zwei verschiedene philosophische Schulen, die sich aber im Laufe der Entwicklung einander immer mehr annäherten. Zur Zeit, da in ihnen die Gotteslehre stärker in Erscheinung zu treten begann, hatte jedoch der Nyâya die metaphysischen und kosmologischen Lehren des Vaibesika bereits im wesentlichen übernommen und explizierte daher seine Gottes. lehre im selben Begriffssystem wie das Vaišeşika. Man kann daher in einer typologischen Betrachtung auch im Falle des Nyâya mit Recht von der Gotteslehre des Vaisesika sprechen, auch wenn man vielleicht historisch exakt kleine Unterschiede feststellen könnte. Da von der alten Schule des Vaiseșika jedoch nur wenig Material erhalten ist, werden sich die folgenden Erwägungen zu einem guten Teil auch auf Nyâya-Quellen stützen müssen, obgleich im eben erwähnten Sinne nur von der Gotteslehre des Vaiseșika gesprochen wird. Das klassische Vaibeşika-System und prinzipiell auch der klassische Nyâya hatten das Seiende metaphysisch in sechs Kategorien gegliedert, nämlich in Substanz, Eigenschaft, Bewegung, Gemeinsamkeit, Besonderheit und Inhärenz. Außerdem hatten beide Systeme kosmologisch die Lehre von einfachen, ewigen und zusammengesetzten, vergänglichen Substanzen vertreten. Solche einfache Substanzen sind z. B. die Atome der Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft; oder andere Substanzen wie Raum, Zeit, Aether, psychische Organe und Seelen. Zusammengesetzte Substanzen wären z. B. die Gegenstände der Welt, die sich aus den Element-Atomen aufbauen. Als lenkenden kosmologischen Faktor, der Entstehen und Vergehen der Welt oder Geburt und Tod des Menschen in der Seelenwanderung regelt, betrachten beide Systeme die tatimmanenten Vergeltungsimpulse der Werke, das Karma. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, vermutlich im 5. Jh. nach Christus, hatte man dann versucht, den Glauben an ein einziges, allmächtiges und allwissendes höchstes Wesen, wie ihn die mythologische Theologie bekannte, in dieses mechanistisch-naturphilosophische Weltbild einzufügen. Bezeichnenderweise ergab sich daher im Falle des Nyâya und des Vaiseşika genau dieselbe Situation wie im sâmkhyistischen Yoga, daß nämlich die der religiös-mythischen Aussage entstammende Gottesvorstellung mit einem Begriffssystem konfrontiert wurde, welches zuerst ohne Rücksicht auf den Glauben an einen höchsten Gott konzipiert worden war; und hier wie dort hatte das jeweilige Begriffssystem der so entstandenen Gotteslehre ihren ganz bestimmten Charakter verliehen. Der vielleicht entscheidendste Ansatz zum philosophischen Verständnis der Gottesidee des Nyâya-Vaiseșika ist die Tatsache, daß Gott seinem Wesen nach nicht überkategorial bestimmt wurde, sondern daß man im Anschluß an die historisch gegebene Form des Systems versuchte, Gott in das Kategoriensystem einzuordnen, indem man ihn als Substanz (dravyam) bestimmte. Daß diese Einordnung nicht ohne Schwierigkeit gelang und eine rege Diskussion auslöste, ist noch in einer Bemerkung Kamalasila's, eines buddhistischen Denkers des achten Jahrhunderts n. Chr., deutlich fühlbar: „Unter den [Naiyâyikas]", schreibt er, „sagen einige, daß die allwissende Gottheit, die Urheber der ganzen Welt ist, eine Seele besonderer Art sei, welche bescndere Eigenschaften besitze; andere sagen, daß sie eine zusätzliche Substanz und nicht eine Seele sei, weil sie

Loading...

Page Navigation
1 ... 3 4 5 6 7 8 9 10 11