Book Title: Die Gottesidee In Der Indischen Philosophie Des Ersten Nachchristlichen Jahrtausends
Author(s): Gerhard Oberhammer
Publisher: Gerhard Oberhammer
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Page #1 -------------------------------------------------------------------------- ________________ DIE GOTTESIDEE IN DER INDISCHEN PHILOSOPHIE DES ERSTEN NACHCHRISTLICHEN JAHRTAUSENDS Zur Typologie des Isvara-Begriffes* Von G. Oberhammer, Wien Es könnte sein, daß manchem Leser der hier folgende Beitrag in unserer Zeitschrift fehl am Platz erscheint. Die Gründe, die uns bewogen haben, ihn aufzunehmen, sind folgende: Die typologisch vergleichende Betrachtungsweise des Verfassers deckt einen Vorgang auf, der in jeder Religion zu beobachten ist, die nach dem Axiom fides quaerens intellectum eine Theologie als rationales System hervorbringt. Dieser Vorgang ist unausweichlich und besteht in dem Versuch, religiösen Glauben und philosophische Reflexion zur Synthese zu bringen. Dabei treten typische Spannungen zutage, an denen die Relativität und Bedingtheit theologischer Systematik ablesbar wird. Nach der objektiven Seite ist es die Spannung zwischen den positiv gegebenen, bzw. gesetzten und durch die autoritative Überlieferung (Mythos, Offenbarung) vermittelten Glaubensinhalten einerseits und den notwendigen Wesensstrukturen des Seins und der Seienden andererseits. Dem entspricht nach der subjektiven Seite die Spannung zwischen existentiellem Glauben und rationalem Verstehen, zwischen religiös-mystischer Erfahrung und begrifflichem Systemdenken. In dieser Spannung, die nicht kurzschlüssig nach der einen oder anderen Seite hin verkürzt oder geleugnet werden darf, steht auch der Christ. Im Spiegel anderer Religionen und deren Theologie vermag er seine eigene Position deutlicher zu sehen. Dazu kommt ein weiterer Grund, auf den wir kurz hinweisen wollen. Wir sind der Auffassung, daß auch im Raum der Kirche eine größere Vielfalt verschiedener Theologien wegen deren grundsätzlicher Relativität möglich und wegen der Entwicklung, in der sich die Kirche befindet, auch zu erwarten ist. Diese größere Vielfalt erscheint unausweichlich, wenn die notwendige Integration nicht-abendländischer Kultur- und Denkformen in die Una Catholica geleistet werden soll, und dürfte weit über das hinausgehen, was die Theologie des Ostens und des Westens oder der verschiedenen ,,Schulen" in Mittelalter und Neuzeit bisher an Verschiedenheiten aufzuweisen hatte. Es ist notwendig, sich auf diese Entwicklung vorzubereiten; nicht zuletzt durch den ehrlichen Versuch, andere Religionen und deren Theologie mitsamt den ihnen eigentümlichen Schwierigkeiten kennen und verstehen zu lernen. Die Redaktion In seinen Pensées macht Pascal eine Bemerkung, die geeignet ist, die Quelle der Gottesidee und der philosophischen Gotteslehre in ihrer eigentlichen Tiefe auszuleuchten:,,C'est le coeur qui sent Dieu et non la raison. Voilà ce que c'est que la foi: Dieu sensible au coeur, non à la raison". Es ist nicht nötig hinzuzusetzen, daß Pascal diesen Satz kaum auf die Gottesvorstellung des indischen Heidentums angewandt hätte. Dennoch kann keine bessere Aussage vom wirklichen Quellgrund der hinduistischen Gotteslehre gemacht werden. Nicht die reine Philosophie steht in Indien am Anfang der Lehre von einem einzigen, allwissenden und ewigen Gott (isvaraḥ), sondern das Herz; das Herz freilich, sofern es jene lebendige Mitte der menschlichen Person ist, in der, begrifflich noch ungeschieden, Bild, Begriff und reine Transzendenzerfahrung als ganzheitlicher Akt aufbricht, der erst in der nachträglichen Differenzierung zu Mythos, Philosophie und Mystik ausgelegt wird". * Der vorliegende Aufsatz ist der überarbeitete Text eines Vortrages, den der Verfasser 1966 an den Universitäten von Münster und Kiel gehalten hat. 1 In der Ausgabe von Brunsvicg Nr. 278. 2 Vgl. G. Oberhammer, Die Begegnung Indiens mit dem Christentum: Kairos 1 (1966) passim. Page #2 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 448 G. Oberhammer „C'est le coeur qui sent Dieu et non la raison". In die Sprache indischer Scholastik transponiert begegnet dieser Gedanke im Yogabhâsyam des Vyâsa als philosophisch-reflektierte Aussage über die Grenze der philosophischen Gotteslehre: ,,Sofern die Schlußfolgerung in der Erkenntnis der bloßen Gemeinsamkeiten ihre Grenze findet und daher zur Erkenntnis der Besonderheiten ungeeignet ist, muß die Erkenntnis von [Gottes) Besonderheiten wie Name usw. auf Grund der Überlieferung (agamah) gesucht werden". Bezeichnenderweise wird hier die Überlieferung (agamah) in Gegensatz gesetzt zum diskursiven Denken der Philosophie, welches in der Schlußfolgerung Arbeitsmethode und Grenze hat. Überlieferung kann daher hier nicht gemeint sein, sofern sie allgemeine Erkenntnisse enthält, sondern nur sofern sie kraft ihrer Autorität eine Erkenntnis von Besonderem, von Individuellem vermittelt, das der Wahrnehmung oder Schlußfolgerung grundsätzlich entzogen ist, im vorliegenden Falle Erkenntnisse bezüglich des individuellen Wesens „Gott" (isvarah). Dies kann sie aber nur, sofern sich in ihr die Begegnung des Menschengeistes mit Dasein und Welt konkret sinnlich in Bild und raumzeitlichem Ereignis auslegt, sofern sie Mythos ist. Nur Bild und konkretes Ereignis, sofern sie „Versinnlichung" metaphysischer Erkenntnis sind, können in der Überlieferung Aussagen über Besonderheiten Gottes wie Name, Erscheinungsform oder Wirken enthalten. Philologisch ausgedrückt bedeutet dies, daß die philosophische Gotteslehre ihren Ausgang nimmt von der religiösen Gottesvorstellung, welche als Strukturprinzip gewisser Mythen- oder Legendenzyklen konkretes, mythologisches Bild geworden ist; also zum Beispiel vom Gottesbild Vişnu's, Siva's oder der Göttin (devi). Doch kann offenbar nicht jede beliebige Gottesvorstellung des Mythos Gegenstand der philosophischen Gotteslehre werden. Es scheint zum Beispiel keine philosophische Gotteslehre des eigentlichen Polytheismus gegeben zu haben. Vielmehr muß das religiös-mythische Gottesbild selbst, entweder aus sich heraus oder als historisches Ergebnis einer beständigen Wechselbeziehung von mythologischem Bild und philosophischem Begriff, für eine begrifflich-logische Strukturierung geeignet sein. Betrachtet man nun die historische Erscheinung der philosophischen Gotteslehre in der indischen Philosophie des ersten nachchristlichen Jahrtausends, so lassen sich zunächst zwei allgemeine Feststellungen treffen. 1. Die durch die begriffliche Struktierung der mythischen Gottesvorstellung notwendig gegebene Entmythologisierung scheint nirgends zu einem rein philosophischen Theismus vorzustoßen, sondern ereignet sich immer im Schoße der mythologischen Theologie selbst, mit der sie als Mutterboden in vitalem Verbande verbleibt. Nur ein kleiner, wenn auch entscheidender Teil der mythologischen Gotteslehre lichtet sich dem Begriff und wird so zum begrifflich-logischen Kräftefeld, in dem die mythologische Theologie ihrerseits im Zuge ihrer Entwicklung Struktur und Form gewinnt. 2. Die religiös-mythologische Gottes vorstellung ist dem philosophischen Begriffssystem gegenüber, in dem sie expliziert wird, indifferent. Es läßt sich feststellen, daß ein und dieselbe religiös-mythologische Gottes vorstellung tatsächlich in völlig verschiedenen Begriffsystemen ausgelegt werden konnte. So wurde die Gottes vorstellung der Siva-Mythologie einerseits im Begriffssystem des sâmkhyistisch beeinflußten Saivadarśanam ausgearbeitet, andererseits in dem pluralistischen Realismus der Vaišeşika-Philosophie oder dem idealistischen Monismus der Pratyabhijña-Schule Kaschmirs. Es ist daher für eine religionsgeschichtliche oder theologische Beurteilung der jeweiligen Gottesvorstellung 3 Patañjalayogasútrabhâşyavivaranam of Sankarabhagavatpâda (Madras Government Oriental Series Nr. 49), Madras 1952 p. 72, 2f. Page #3 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Die Gottesidee in der indischen Philosophie des ersten nachchristl. Jahrtausends 449 unerläßlich, die jeweilige begriffliche Strukturierung zusammen mit dem mythologischen Typus zu betrachten. Im folgenden soll nun der Versuch gemacht werden, drei Grundtypen einer begrifflichen Strukturierung der religiös-mythologischen Gottesvorstellung zu besprechen, nämlich die Gotteslehre des sâmkhyistischen Yoga, die Gotteslehre des Vaisesikasystems und die Lehre vom transzendenten Brahma des illusionistisch-monistischen Sankara-Vedânta. I. Die in der erhaltenen philosophischen Literatur des ersten nachchristlichen Jahrtausends am wenigsten in den Vordergrund tretende Gotteslehre ist sicher jene des sâmkhyistischen Yoga". Selbst in den erhaltenen Werken der eigenen Schule, dem Yogasûtram des Patañjali und dem Kommentar des Vyâsa, kommt dieser Gotteslehre nur untergeordnete Bedeutung zu. In späterer Zeit verschwindet sie wegen des Erlöschens der Schule ganz und wird in der philosophischen Diskussion von der an Bedeutung gewinnenden Gotteslehre des Nyâya und des Vaiseșika überlagert und verdrängt. Dennoch scheint es auf Grund typologischer Vergleiche möglich, ja selbst wahrscheinlich, daß sie für gewisse späte Formen der Gotteslehre, die sich erst am Ende des ersten, bzw. Beginn des zweiten nachchristlichen Jahrtausends durchsetzen, Typus und Ausgangspunkt gewesen ist. Der Grund für die geringe Bedeutung der Gotteslehre im sâmkhyistischen Yoga selbst liegt vor allem darin, daß dieses System eigentlich und ursprünglich eine rationale, mit Hilfe des Begriffsapparates des atheistischen Sâmkhya entwickelte Methode der Seinsmystik ist und daher die Vorstellung von einem ewigen, allmächtigen und allwissenden höchsten Wesen in ihm keinen Platz hatte. Erst später ist aus der mythologischen Theologie die Gottesvorstellung in dieses ursprünglich atheistische System eingedrungen und wurde mit Hilfe desselben sâmkhyistischen Begriffsapparates analysiert und so modifiziert, daß sie in das Yoga-System eingefügt werden konnte, ohne dieses selbst zu verändern. Die sehr lose Verbindung der Gotteslehre mit dem Gesamtsystem besteht wesentlich in dem Zugeständnis des Yoga an theistische Vertreter der Schule, daß neben den eigentlichen Techniken der Schule auch die Verehrung Gottes ein Mittel sei, die letzte Versenkungsstufe der Meditation zu erlangen. Offenbar hatte man dies ursprünglich so verstanden, daß Gott als Typus der erlösten Existenz (kaivalyam) geeigneter Meditationsinhalt sei, um den Meditierenden auf die Realisierung seiner eigenen, der Weltexistenz in Wirklichkeit entzogenen geistigen Seinsweise hinzuführen. Die Gotteslehre selbst wird im Spannungsfeld des sâmkhyistischen Dualismus ausgelegt, d. h. in den beiden metaphysischen Kategorien von Purusa und Prakrti: „purusah" die Kategorie der vielen, ewigen, unaffizierbaren und absolut untätigen Bewußtseine und „prakrtih", die Kategorie der einen, ewigen und unbewußten Materie, in welcher allein sich jede Veränderung und Tätigkeit einschließlich der Erkenntnisvorgänge abspielt. Wenn daher die Gottesidee im Rahmen dieses metaphysischen Dualismus begrifflich entfaltet werden sollte, konnte dies zunächst nur mit Hilfe des Geistbegriffes (purusah) geschehen. Tatsächlich bestimmt der Yoga Gott als jenen besonderen Puruşa, welcher infolge seiner Allwissenheit niemals das empirische Geschehen der von der Seelenwanderung bestimmten Welt fälschlich auf sich bezogen hat und daher anfanglos in vollkommener Emanzipation (kaivalyam) west. Damit ist zwar eine begrifflich klare Bestimmung vom Wesen Gottes gegeben, doch Gott gleichzeitig auch als jenes ewige, unaffizierbare und absolut untätige Bewußtsein aufgefaßt, als * Vgl. G. Oberhammer, Gott, Urbild der emanzipierten Existenz im Yoga des Patañjali: ZK Th 86 (1964) 197-207. • Hier wäre z. B. an vişnuitische Systeme zu denken. 5 Zeitschrift für kath. Theologie, 89. Jahrg. 1967 Page #4 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 450 G. Oberhammer welches das Sâmkhya seit eh und je die Geistsubstanz, den Purusa, verstanden hatte. Somit war Gott seinem Wesen nach ohne Wirken, ohne Beziehung zu anderen Geistseelen, ja letztlich ohne irgend eine Erkenntnis von etwas. Denn Wirken, Wollen und Erkennen sind nach der Sâmkhya-Philosophie, welche auch der sâmkhyistische Yoga vertritt, Phänomene der Prakrti, der Materie, und werden nur vom alltäglichen Bewußtsein irrtümlicherweise als Vorgänge in der Geistseele verstanden. Sollte daher die Gottesvorstellung der mythologischen Theologie im Begriffssystem des Sâmkhya adäquat ausgedrückt werden, dann mußte sie neben ihrer Explikation durch den Puruşa-Begriff auch eine Auslegung im Sinne des MaterieBegriffes des Systems erfahren. Tatsächlich ging der sâmkhyistische Yoga diesen Weg. Man verlegte Gottes Allmacht und Allwissenheit in ein ewiges, materielles Pendant Gottes, welches aus reinem Sattvam' bestehend gedacht war. Allerdings lehrte man, daß dieses Pendant nicht wie üblicherweise die Urmaterie und ihre Modifikationen den Zweck habe, der Erlösung des Puruşa zu dienen, da Gott niemals dem metaphysischen Irrtum der Identifizierung von Geist und Materie unterworfen war. Dieses Pendant dürfte offenbar in Analogie zum sattvahaften Körper Kapila's, des mythischen Begründers des Sâmkhya-Systems, den Zweck haben, ein Instrument Gottes zu sein, das es ihm ermöglicht, in die Welt zu wirken. Mit Hilfe dieser materiellen Dimension Gottes war es aber dem Yoga gelungen, Gottes Allmacht und Allwissenheit philosophisch zu sichern, obwohl ihm als reinem Bewußtsein diese Eigenschaften prinzipiell nicht zukommen könnten. Tatsächlich sind diese Eigenschaften innerhalb des Yoga für Gott auch gar nicht typisch. Allmacht und Allwissenheit liegen als Keim im materiellen Erkenntnisorgan eines jeden Menschen und können vom Yogin mit Hilfe des Yoga auch in bestimmten Ausmaßen verwirklicht werden. Für Gott typisch ist lediglich der Umstand, daß diese Eigenschaften bei ihm das höchstmögliche, nicht mehr überbietbare Maß erreicht haben, wodurch Gott Lehrer der Menschen und Garant der kosmologischen Ordnung sein kann. Denn infolge des unüberbietbaren Maßes seines Wissens und seiner Macht ist er imstande, auch gegenüber Yogins, die eventuell geneigt sein könnten, ihre im Yoga erworbene Macht zu mißbrauchen, die Ordnung der Welt aufrecht zu halten und zu verhindern, daß solche Yogins die kosmologischen Kategorien verändern. Aus dieser kurzen Skizze der Gotteslehre des Yoga wird deutlich, daß die Strukturierung der Gottesvorstellung durch das Begriffssystem des Sâmkhya die polare Spannung der beiden Kategorien, Bewußtsein und Materie, in die Gottesidee selbst verlegt hat, wenn auch nicht im eigentlichen Sinne. Denn für den sâmkhyistischen Yoga ist Gott in seinem eigentlichsten Wesen nur durch den Begriff des reinen Bewußtseins (purusah) bestimmt. Erst wenn man, wie es die mythologische Theologie vom Standpunkt der religiösen Gottesvorstellung her forderte, auch Gottes Beziehung zur empirischen Existenz des Menschen in der Gottesvorstellung verankern wollte, mußte die Gott letztlich nur äußerlich, wenn auch faktisch ewig zukommende materielle Dimension wesentlich mitgedacht werden. Damit war aber ein begriffliches Schema geschaffen, welches geeignet war, seinerseits auf die religiös-mythische Gottesvorstellung zurückzuwirken und diese so auszulegen, daß es der mythologischen Theologie möglich wurde, die Mythologeme von den Gemahlinnen Gottes in einem eigentlichen Sinne in die Gottesvorstellung selbst einzubeziehen, indem diese als Kräfte (saktih) Gottes analog zu jenem materiellen Pendant des göttlichen Puruşa konzipiert werden konnten. Wie freilich der historische Vorgang dieser Wechselbeziehung von Mythos und * Vgl. G. Oberhammer, a. a. 0. 204 f. Page #5 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Die Gottesidee in der indischen Philosophie des ersten nachchristl. Jahrtausends 451 sâmkhyistischer Gotteslehre tatsächlich verlaufen ist, entzieht sich noch dem Blick des Historikers, und so kann das eben Gesagte nur als typologische Aussage gewertet werden, die zwar eine historische Beeinflussung und Entwicklung voraussetzt, über das ,,Wie" dieser Beziehung aber nichts Positives enthält. II. Einem ganz anderen Typus der philosophischen Gotteslehre als dem des så mkhyistischen Yoga gehört die Gotteslehre des Nyâya und des Vaiseșika an. Diese beiden Systeme waren ursprünglich zwei verschiedene philosophische Schulen, die sich aber im Laufe der Entwicklung einander immer mehr annäherten. Zur Zeit, da in ihnen die Gotteslehre stärker in Erscheinung zu treten begann, hatte jedoch der Nyâya die metaphysischen und kosmologischen Lehren des Vaibesika bereits im wesentlichen übernommen und explizierte daher seine Gottes. lehre im selben Begriffssystem wie das Vaišeşika. Man kann daher in einer typologischen Betrachtung auch im Falle des Nyâya mit Recht von der Gotteslehre des Vaisesika sprechen, auch wenn man vielleicht historisch exakt kleine Unterschiede feststellen könnte. Da von der alten Schule des Vaiseșika jedoch nur wenig Material erhalten ist, werden sich die folgenden Erwägungen zu einem guten Teil auch auf Nyâya-Quellen stützen müssen, obgleich im eben erwähnten Sinne nur von der Gotteslehre des Vaiseșika gesprochen wird. Das klassische Vaibeşika-System und prinzipiell auch der klassische Nyâya hatten das Seiende metaphysisch in sechs Kategorien gegliedert, nämlich in Substanz, Eigenschaft, Bewegung, Gemeinsamkeit, Besonderheit und Inhärenz. Außerdem hatten beide Systeme kosmologisch die Lehre von einfachen, ewigen und zusammengesetzten, vergänglichen Substanzen vertreten. Solche einfache Substanzen sind z. B. die Atome der Elemente Erde, Wasser, Feuer, Luft; oder andere Substanzen wie Raum, Zeit, Aether, psychische Organe und Seelen. Zusammengesetzte Substanzen wären z. B. die Gegenstände der Welt, die sich aus den Element-Atomen aufbauen. Als lenkenden kosmologischen Faktor, der Entstehen und Vergehen der Welt oder Geburt und Tod des Menschen in der Seelenwanderung regelt, betrachten beide Systeme die tatimmanenten Vergeltungsimpulse der Werke, das Karma. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, vermutlich im 5. Jh. nach Christus, hatte man dann versucht, den Glauben an ein einziges, allmächtiges und allwissendes höchstes Wesen, wie ihn die mythologische Theologie bekannte, in dieses mechanistisch-naturphilosophische Weltbild einzufügen. Bezeichnenderweise ergab sich daher im Falle des Nyâya und des Vaiseşika genau dieselbe Situation wie im sâmkhyistischen Yoga, daß nämlich die der religiös-mythischen Aussage entstammende Gottesvorstellung mit einem Begriffssystem konfrontiert wurde, welches zuerst ohne Rücksicht auf den Glauben an einen höchsten Gott konzipiert worden war; und hier wie dort hatte das jeweilige Begriffssystem der so entstandenen Gotteslehre ihren ganz bestimmten Charakter verliehen. Der vielleicht entscheidendste Ansatz zum philosophischen Verständnis der Gottesidee des Nyâya-Vaiseșika ist die Tatsache, daß Gott seinem Wesen nach nicht überkategorial bestimmt wurde, sondern daß man im Anschluß an die historisch gegebene Form des Systems versuchte, Gott in das Kategoriensystem einzuordnen, indem man ihn als Substanz (dravyam) bestimmte. Daß diese Einordnung nicht ohne Schwierigkeit gelang und eine rege Diskussion auslöste, ist noch in einer Bemerkung Kamalasila's, eines buddhistischen Denkers des achten Jahrhunderts n. Chr., deutlich fühlbar: „Unter den [Naiyâyikas]", schreibt er, „sagen einige, daß die allwissende Gottheit, die Urheber der ganzen Welt ist, eine Seele besonderer Art sei, welche bescndere Eigenschaften besitze; andere sagen, daß sie eine zusätzliche Substanz und nicht eine Seele sei, weil sie Page #6 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 452 G. Oberhammer [von einer Seele] verschiedene Eigenschaften besitze, da doch ihre Erkenntnis ewig und einheitlich sei und alles zum Gegenstand habe". Offenbar hatten einige Nyâya-Lehrer, z. B. Pakşilasvâmin (2. Hälfte d. 5. Jh. n. Chr.), den Versuch unternommen, Gott nach dem Vorbild des sâmkhyistischen Yoga mit Hilfe des Seelenbegriffes (atma) der Schule zu bestimmen, ohne zu berücksichtigen, daß der Seelenbegriff des Vaiseşika im Gegensatz zu jenem des Sâmkhya weder die Dimension der Transzendenz noch die des Geistes im eigentlichen Sinne enthielt. Für das Vaiseșika war der Atmâ seinem Wesen nach einer der kosmologischen Bestandteile der Welt, d. h. erkennend, wollend und wirkend und damit real der Seelenwanderung verfallen. Er war daher der Welt in keiner Weise transzendent. Andererseits besaß er Bewußtsein und Erkenntnis nur als vergängliche Eigenschaften, die nicht schon mit der Seinsweise des Atmâ gegeben waren. Wenn man daher Gott als Seele im Sinne des Systems verstehen wollte, mußte man ihm z. B. diese Eigenschaften als ewige zuschreiben, um nur eine der Schwierigkeiten zu nennen. In Erkenntnis dieser Unzulänglichkeiten des Atman Begriffes zur Interpretation des Wesens Gottes hatten andere Nyâya-Lehrer, z. B. Uddyotakara (Mitte d. 7. Jh. n. Chr.) die These vertreten, daß Gott wohl eine Substanz, aber keine Seele sei, und daß daher zu den von der Schule anerkannten neun Arten der Substanz noch eine weitere, nämlich Gott, anzunehmen sei. Die Tatsache, daß Gott auf jeden Fall, ob man ihn nun als Seele oder als Substanz sui generis bestimmte, zu einem Seienden wie jedes andere gemacht wurde, erregte weiter kein Unbehagen, sondern prägte letztlich gerade den Gottesbegriff der Schule, wie sich im folgenden zeigen wird. Man hatte angenommen, daß alle einfachen Substanzen, die Atome der vier Elemente, sowie Ather, Raum und Zeit, die psychischen Organe und die Seelen ewig sind und hatte sich nicht die Frage gestellt, wieso es möglich ist, daß bestimmte Seiende in ihrem Wesen begrenzt und doch ewig sein können, ohne in ihrem Sein von anderem abzuhängen - eine Frage übrigens, die sich meines Wissens die indische Philosophie niemals gestellt hat. Wurde nun Gott als ein weiteres, ewiges Seiendes angesetzt, wenn auch besonderer Art, so war dies ganz im Sinne des Systems, welches auf diese Weise die ursprüngliche religiös-mythologische Gottesvorstellung im Sinne eines naturphilosophischen Prinzips auslegen konnte, als Seiendes neben anderem Seienden, dem lediglich eine besondere Funktion im Weltganzen zukam. Welches war diese Funktion? In der scholastischen Sprache des Systems besagte die funktionelle Definition Gottes, daß Gott veranlassende Ursache (nimittakaranam) der Welt sei; nicht freilich im Sinne einer creatio ex nihilo, ein Begriff, welcher der gesamten indischen Philosophie fremd ist, sondern im Sinne einer Ursache, die den Weltablauf auslöst und in Ubereinstimmung mit dem Karma der Seelen lenkt, ohne jedoch die Grundelemente der Welt zu erschaffen. Sofern nun das Nyâya-Vaiseşika Gott als Seele oder jedenfalls als geistige Substanz bestimmte, legte sich der Begriff der ,,veranlassenden Ursache" weiter aus in den Begriff des „erkenntnisbegabten Wirkers" (buddhimatkarta) von Entstehen und Vergehen der Welt. Doch in einem noch spezielleren Sinne wurde Gott als ,,veranlassende Ursache" des Weltablaufes verstanden. „Abhängig von der betrachtenden Erkenntnis (apeksabuddih) Gottes", schreibt Prasastapada (2. Hälfte d. 6. Jh. n. Chr.) in seinem Padârthadharmasamgrahah, „entsteht in den Feinatomen und in den Zwei-Atomen die Vielzahl (bahutvasamkhyá) und diese bewirkt in der durch [die Feinatome] hervorgebrachten Wirkung (kâr yadravyam), die drei-atomig ist usw., gleichzeitig mit dem Entstehen von Farbe usw. (auch] Größe und * Tattvasamgrahapañjikâ (G. 0. S. Nr. 30) Bd. I. S. 40, 26-41, 1. Baroda 1926. Page #7 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Die Gottesidee in der indischen Philosophie des ersten nachchristl. Jahrtausends 453 Länge". Versucht man von dieser Auffassung her die Bestimmung Gottes als „veranlassende Ursache" zu interpretieren, so kommt man zu dem Ergebnis, daß Gott nicht nur in seinem Sein, sondern auch in seiner Beziehung zur Welt in einer verzerrten Perspektive gesehen wird, indem er nicht als transzendenter Seinsgrund, sondern als causa proxima, als unmittelbare Ursache eines rein weltimmanenten Phänomens, z. B. der Größe, betrachtet wird. So wenig nun auch eine solche Gotteslehre dem religiösen Anliegen des Menschen zu entsprechen scheint, so fügt sie sich vielleicht gerade wegen ihres naturphilosophischen Charakters in das religiös-mythische Weltbild sehr gut ein. Zwar war Gott im Nyâya-Vaiseşika im Gegensatz zu den Aussagen der Mythologie ein unsichtbares, normalerweise selbst körperloses Wesen sui generis. Doch darf man sagen, daß dieser Gott trotz aller Entmythologisierung in der mythologischen Theologie nicht als Fremdkörper empfunden wurde, sofern er ja ein fast gegenständlich-konkretes Wesen war, welches erkennend, wollend und handelnd innerhalb des Weltgefüges seinen Platz hatte und daher ausgezeichnet in die bildhaft gegenständliche Welt des Mythos paßte. Dies wird einerseits in dem Umstand deutlich, daß im Zusammenhang mit dem Gottesbeweis immer wieder auch die Aussage der geheiligten Uberlieferung (agamah), d. h. die mythologische Theologie, als Autorität angeführt wird, andererseits die Darstellung der Weltvernichtung und Weltentstehung, z. B. bei Prasastapada, weitgehend Aussagen der mythologischen Theologie einarbeitet. ,,In der Zeit, da [Gott] Brahmâ, während 100 Brahma-Jahren im BrahmaWahn befangen, die Erlösung erlangt", schreibt Prasastapada in seinem Padarthadhạrmasamgrahaḥ, „ergibt sich gleichzeitig mit dem Wunsche des Maheśvara, des Herrn des Alls, die Welt zu vernichten, um in der Brahma-Nacht allen von der Seelenwanderung ermüdeten Seelen Ruhe zu gewähren, das Aufhören des Wirkens des adrstam (= Karma), welches allen Seelen inhäriert und die Elemente zu Körpern und Sinnesorganen vereint. (Wenn dies eintritt], ergibt sich deren (= Körper und Sinnesorgane) Vernichtung bis hinunter zu den Feinatomen, wenn infolge von Bewegungen, die aus dem Kontakt des Willens des Maheśvara mit Seelen und Feinatomen entstehen, deren (= Feinatome) Kontakt durch die Trennung der Feinatome, die Ursache der Körper und Sinnesorgane sind, schwindet. In dieser Weise geschieht die Vernichtung der Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft in eben dieser Reihenfolge, wobei das jeweils spätere früher vernichtet wird. Darauf verbleiben die Feinatome und die Seelen mit den ihnen zukommen. den Dispositionen (samskärah) von Verdienst und Schuld diese bestimmte Zeit (= eine Brahmâ-Nacht) getrennt [von einander]." ,,Darauf entsteht unmittelbar im Anschluß an den Wunsch des Maheśvara, eine Schöpfung hervorzubringen, damit die Wesen in den Genuß ihres Karma) kommen, eine Bewegung in den Luftatomen, infolge ihres Kontaktes, der vom adrstam (= Karma] abhängt, das in allen Seelen seine Tätigkeit wieder aufgenommen hat. Ist dies eingetreten), so entsteht durch deren (= Luftatome) gegenseitigen Kontakt in der Reihenfolge von Zwei-Atomen usw. das Element Wind [und] weht gewaltig im Luftraum." Prasastapada stellt nun dar, wie alle vier Elemente aus den jeweiligen Atomen entstehen und fährt dann fort: ,,Wenn derart die vier großen Elemente entstanden sind, dann bildet der Maheśvara nur durch sein meditierendes Wollen aus den Feueratomen und Erdatomen ein großes Ei. Nachdem er darin den viergesichtigen Urvater aller Wesen, den Gott Brahma, zusammen mit dem ganzen Weltall geschaffen hat, beauftragt er diesen mit der Schöpfung der Lebewesen." Soweit das Beispiel für die merkwürdige Verbindung der Naturphilosophie des Vaiseșika mit der mythologischen Theologie, die übrigens nicht nur für das Vaišeșika allein typisch sein dürfte. 8 Padârthadharmasamgrahah (K. S. S. Nr. 3), Benares 1923, S. 56, 6-57, 2. A. a. 0. 19, 7-22, 9. Page #8 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 454 G. Oberhammer Es ist hier nicht der Ort, die Gottesvorstellung der Schule auch hinsichtlich der Eigenschaften Gottes auszulegen, noch auch hinsichtlich des vieldiskutierten Problems, was der Zweck des göttlichen Wirkens sei: Ob das Spiel (kridá) oder die Manifestation von Gottes Wundermacht (vibhatikhyapanam); oder ob es einfach in der Natur Gottes (svabhavah) liege zu wirken, wie es Uddyotakara glaubte, um einige der gängigsten Theorien zu erwähnen. Abschließend darf noch darauf verwiesen werden, daß im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte an der Gottesidee selbst kaum noch viel verändert wurde. Hingegen trat das Problem des Gottesbeweises in der Polemik gegen nicht-theistische Schulen, vor allem des Buddhismus, immer stärker in den Vordergrund und wurde zum entscheidenden, ja beinahe einzigen Punkt der Diskussion. Doch lange bevor das Problem des Gottesbeweises in Udayana's Nyâyakusumañjaliḥ, die für den alten Nyâya endgültige Form der Behandlung erhalten hatte, wurde ein dritter Grundtypus der Gottesidee begrifflich entwickelt, dem der letzte Teil dieser Arbeit gewidmet ist, nämlich der Gottesbegriff; wie er sich im Advaitavedânta Sankara's (um 700 n. Chr.) findet. III. Vielleicht scheint es gewagt, in Zusammenhang mit Sankara's BrahmanBegriff von einer Gottesvorstellung zu sprechen. Doch wird dies durch eine typologisch-systematische Betrachtung nahegelegt. Auch macht Sankara selbst keinen methodisch sauberen Unterschied zwischen Gott (isvarah) und dem höchsten Selbst, dem Brahma10, so daß die Annahme berechtigt ist, daß in seinem Denken Gottesbegriff und Brahman-Begriff dieselbe Realität meinen und sachlich gesehen vertauschbare Begriffe sind. Um nun Sankara's Brahman-Begriff typologisch in ein Verhältnis zu den bereits erörterten Typen der Gottesvorstellung zu setzen, müssen wir zur Gotteslehre des sâmkhyistischen Yoga zurückkehren". In ihr war die Gottesvorstellung in eine Art Dualität auseinandergefallen, indem Gott als transzendente, in sich und für sich seiende Realität durch den Puruşa-Begriff ausgelegt wurde, in seiner Beziehung zur Welt aber durch den Prakrti-Begriff der Schule, sofern nämlich Gott ein ewiges, materielles Pendant zugeordnet wurde, das Träger seines Erkennens und Wirkens war. Diesen Dualismus scheint Sankara in gewissem Sinne beizubehalten, indem er in seiner Darstellung der Kosmogonie Gott bzw. Brahma die ,,unentfalteten Name und Gestalt" (avyákrte nâmarûpe) als ,,Weltkeim”, aus dem die Faktoren der Welt hervorgehen, zuordnet. ,,Er, der die Seele des Alls ist ...", schreibt Sankara in seiner Upadeśasahasri, ,,ist infolge seiner unergründbaren Wirkkraft durch seine bloße Existenz der Entfalter der unentfalteten ,Name und Gestalt', die von ihm wesensverschieden sind (svátmavilaksanah), die, Same der Welt, auf ihm selbst beruhen (svátmasthah), weder als ein ,Das' noch als ein anderes bestimmbar sind (tattványatvábhyam anirvacaniyah) und durch ihn selbst zu Bewußtsein gebracht werden (svasamved yah)”13. Die ,unentfalteten Name und Gestalt" sind daher im Grunde nichts anderes als das materielle Pendant Gottes im sâmkhyistischen Yoga, nämlich die ,,Welt-Dimension" Gottes. Jedoch auf der Tradition der Upanişad-Denker und der Brahmasûtren gründend, nach der das Brahma selbst und nicht irgendeine Urmaterie „Urstoff" 10 Vgl. P. Hacker: Eigentümlichkeiten der Lehre und Terminologie Sankara's: Avidyâ, Nâmarûpa. Må vå. Isvara: ZDMG 100 (1950) 276 ff. 11 Damit soll nicht schon eine historische Abhängigkeit Sankara's vom Yoga des Patañjali impliziert werden. Allerdings soll eine solche auch nicht ausgeschlossen werden, da die im folgenden zur Sprache kommende typologische Verwandtschaft unter Umständen auf eine solche hinweisen könnte. 19 Upadebasahasri & 18. Page #9 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Die Gottesidee in der indischen Philosophie des ersten nachchristl. Jahrtausends 455 der Welt ist13, es daher auch keine von ihm realverschiedene Welt gibt, entwirft Sankara in Weiterführung des Yoga-Schemas einen illusionistischen Monismus: Die Vielzahl der Seelen und die Eigenständigkeit der Welt als Produkt einer von Gott verschiedenen Urmaterie, wie sie der Yoga lehrt, sind geschwunden. Als einzige Realität ist das eine a-kosmische, geistige Sein, das Brahma, geblieben, das in einer Spannungseinheit mit den ,,unentfalteten Name und Gestalt" als ,,Same der Welt" gedacht ist. Folgerichtig hat sich daher, typologisch gesprochen, auch eine Wandlung des materiellen Pendant Gottes vom Träger seines Erkennens und ,,in-die-Welt-Wirkens" (Yoga) - was es auch bei Sankara wohl noch ist – zum „Urstoff", zur Materialursache der Welt vollzogen. Und ähnlich wie im Yoga die Polarität von Gott und materiellem Pendant letztlich in eine Einheit aufgehoben wurde, sofern dieses Pendant nur in Abhängigkeit von Gott eine von der übrigen Urmaterie geschiedene Existenz hatte und im eigentlichen Sinne nicht zu Gott gehörte -, so hatte auch Sankara versucht, die sich vordergründig ergebende Dualität in der Gottesvorstellung, die notwendig, sofern ,,Welt" bestand, auch die Beziehung zu dieser Welt implizieren mußte, in eine Einheit aufzuheben: Die ,,unentfalteten Name und Gestalt" sind bei ihm zwar als vom Brahma ,,wesensverschieden" (svátmavilakşanah) bestimmt, beruhen aber auf diesem (svátmasthah) und sind in ihrem Sein unabhängig vom Brahma nichts. Hier deutet sich an, wie es Sankara gelingt, die polare Spannung in der Gottesidee als eine echte Einheit zu begründen und den Monismus der Brahmasútren trotz des scheinbaren Dualismus zu wahren. Um dies zu verstehen, muß auf den sâmkhyistischen Puruşa-Begriff zurückgegriffen werden, durch den der sâmkhyistische Yoga die transzendente Natur Gottes definiert hatte. Dabei erweist sich nochmals die typologische Verwandtschaft zwischen der Gottes-Vorstellung des Yoga und der Brahman-Vorstellung Sankara's. Im Sâmkhya wird der Puruşa bestimmt als das absolut transzendente, ewige und unaffizierbare Bewußtsein, welches den Modifikationen des materiell gedachten psychischen Apparates den Schein der Geistigkeit verleiht14. Diesem Puruşa-Begriff entspricht in bemerkenswerter Weise Sankara's Atman Begriff. Wie das Sâmkhya geht auch Sankara von der Analyse des empirischen Bewußt. seins aus, durch die er das Selbst (átmá) als jenes transzendente, ewig unveränderliche Verstehen (avagatih) erschließt, das zu seiner eigenen Erkenntnis keines weiteren Erkenntnis-Aktes mehr bedarf, den einzelnen Bewußtseins. inhalten aber ihre Bewustheit verleiht15. Die Methode für diese Ableitung des Selbstes als notwendigen Grundes möglicher Erkenntnis ist, typologisch gesehen, dieselbe wie im Sâmkhya, lediglich infolge der fortgeschritteneren historischen Entwicklung schärfer und differenzierter. Das empirische Bewußtsein aber und das Phänomen der „Welt" sind für Sankara ebenso wie für das Sâmkhya und den Yoga durch das „Nichtwissen", die Avidya, bedingt. Diese kommt bei Sankara dadurch zustande, daß Selbst und Nicht-Selbst aufeinander übertragen werden 16. Sie ist daher bei Sankara selbst so wie im Sâmkhya und sâmkhyistischen Yoga ein , metaphysischer" Irrtum und zwar im Gegensatz zu den späteren Vertretern des Sankara-Vedanta, die in ihr ein in seinem Sein nicht bestimmbares (sadasadbhyam anirvacaniya) kosmologisches Prinzip sahen??. 13 Es dürfte wohl als erwiesen gelten, daß die Brahmasîtren ursprünglich nicht mit Sankara illusionistisch zu deuten sind, sondern im Sinne einer Art Parinâmavâda, also eines wirklichen ,,Zur-Welt-Werden" des Brahma. * Vgl. Samkhyakârika Vers 17 und Yuktidîpikâ. (Calcutta Sanskrit Series Nr. 23), Calcutta 1938, S. 93, 8-97, 20. 15 Upadesasâ hasrî $ 93. 16 Z. B. Einleitung zum Brahmasûtrabhâsyam. 7 P. Hacker, a. a. 0. 254 ff. Page #10 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 456 G. Oberhammer Für die typologische Übereinstimmung von Sankara's Brahman- und sâmkhyistischen Puruşa-Begriff ist es außerdem charakteristisch, daß Sankara, ausgehend von der Analyse des empirischen Bewußtseins, im Grunde keinen Zugang gewinnt zu der für sein System entscheidenden Erkenntnis, daß dieses so abgelei. tete Selbst (atma) identisch ist mit dem absoluten Prinzip der Welt, dem Brahma. Den Monismus, d. h. die Gleichung: Atma-Brahma übernimmt Sankara aus der Tradition der Upanişaden und der Brahmasûtren. Die Ableitung des AtmanBegriffes bei Sankara scheint daher nicht durch den Monismus der Brahmasútren bedingt, sondern vielmehr mit dem Typus des Puruşa-Begriffes gegeben zu sein. Tatsächlich gewinnt Sankara aber auf Grund des Åtman Begriffes und seiner Gleichsetzung mit dem Brahman-Begriff die Möglichkeit, die Brahman-Vorstellung durch den Begriff des Åtmâ rational zu strukturieren und zwar in der gleichen Weise, wie es der sâmkhyistische Yoga mit der Gottesvorstellung getan hatte. Genau wie Gott für den Yoga wird das eine Brahma für Sankara transzendentes, unveränderlich ewiges und daher grundsätzlich a-kosmisches Bewußtsein wie der Puruşa des Sâmkhya18 Wird aber Gott in Beziehung zur „Welt" gedacht, also in Beziehung zum ,,kosmischen" Nichtselbst, dann ergibt sich der merkwürdige Dualismus von höchstem Selbst (paramātma oder brahma) und „materiellem" Weltkeim, nämlich den „unentfalteten Name und Gestalt". Die Beziehung von Brahma und „unentfalteten Name und Gestalt" aber kann prinzipiell nur nach dem Schema. der Beziehung von Selbst und Nicht-Selbst gedacht sein, und es läßt sich daher die Bemerkung Sankara's, die er in Zusammenhang mit der Ableitung des Selbsts aus dem empirischen Bewußtsein macht, auch auf die „unentfalteten Name und Gestalt" anwenden: ,,Was vom Selbst verschieden ist, ist das Ungeistige, das, sofern es in Vereinigung mit anderem) wirkt, für anderes da ist; und nur soweit es zufolge seines Bewußtwerdens in den Vorstellungen von dem, was Freude, Leid und Stumpfheit hervorruft, für anderes (= das Selbst) da ist, ist dieses Nicht-Selbst vorhanden, in keiner anderen Form. Daher kommt [ihm] im eigentlichen Sinne kein Sein zu."10 Von diesem Ansatz her, ergibt sich, daß die „unentfalteten Name und Gestalt”, sofern sie Nicht-Selbst, d. h. vom Brahma „wesensverschieden" (svåtmavilakşanah) sind, nur soviel „Sein" haben, daß sie, sofern das höchste Selbst, das Brahma, existiert, in seinem Lichte bewußt werden (svasamved yah), in sich und unabhängig von diesem aber kein Sein haben. Nochmals kommt hier der Grundtypus zum Vorschein, der sich auch in der Yoga-Konzeption findet: Die Beziehung Gottes zur ,,Welt", durch die polare Einheit von Brahma und „unentfaltete Name und Gestalt" rational ausgelegt, besteht für Sankara prinzipiell nur für das empirische Bewußtsein infolge der Avidyâ, d. h. infolge der fälschlichen Übertragung des Selbstes auf das Nicht-Selbst. Sie ist keine Bestimmung Gottes im eigentlichen Sinne, für den sie ebensowenig existiert wie die ,,Welt". Und wie es im Sâmkhya und im sâmkhyistischen Yoga die Urmaterie (prakrtih) allein ist, die sich im Geschehen der Welt samsáraḥ) selbst bindet und selbst erlöst, während der Purusa, in a-kosmischer Transzendenz davon unberührt. diesem Vorgang lediglich das Licht der Bewustheit verleiht, so besteht „Welt" und Gottes Beziehung zur ,,Welt" nur für das empirische Bewußtsein und nicht 18 Zur typologischen Ubereinstimmung von Sankara's Atman Begriff und sâmkhyistischen Puruşa-Begriff paßt es auch ausgezeichnet, daß Sankara abweichend vom üblichen Vedānta-Usus dem höchsten Selbst wohl die Bestimmungen ,,sat" (seiend )und ,,cit" (geistig) zuordnet aber normalerweise nicht ,,dnanda" (Wonne), wie P. Hacker a. a. 0. 276f. bemerkt. In gleicher Weise bestimmt auch das Sâmkhya den Purusa wohl als seiend und geistig, schreibt ihm aber, meines Wissens, nie ,,ananda" als Bestimmung zu. 19 Upadeśasahasrî $ 109. Page #11 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Die Gottesidee in der indischen Philosophie des ersten nachchristl. Jahrtausends 457 in sich. Daher hat auch die ganze Theorie von den ,,unentfalteten Name und Gestalt" nur fur das empirische Bewusstsein Geltung. Das empirische Bewusstsein selbst aber gehort der gleichen Ordnung an wie die ,,Welt" und ist, insoweit es Nicht-Selbst ist, auch seinerseits nicht real-seiend. In typologischer Betrachtung mochte man daher sagen, dass in der Theorie von den ,,unentfalteten Name und Gestalt" als Same der Welt die Urmaterie (prakrtih) des Samkhya wiederkehrt, der man aber das Realsein genommen und gerade soviel ,, Sein" gelassen hat, dass sie im Lichte des Purusa, d. h. des Brahma, Bewustheit und damit Phanomen-Existenz erlangen kann, eine Phanomen-Exi. stenz aber, die nicht fur das Brahma selbst besteht, sondern fur das ebenfalls dieser ,,Quasi-Urmaterie" zugehorende empirische Bewusstsein allein 20. Mit dieser kurzen Analyse scheint Sankara's Gottes-Idee in ihrem Typus genugend verdeutlicht. Letztlich darf sie wohl als die begriffliche Strukturierung jenes Gottesbildes gelten, das nur der Mystiker gewinnt, der Gott in einer a-kosmischen und prinzipiell a-mythologischen Verfassung im Innern seines Herzens erfahrt. Sie ist die letzte Konsequenz der Gottes vorstellung des samkhyistischen Yoga, die ihrerseits fur den Yogin das Urbild der eigentlich a-kosmischen Verfassung des Menschen gewesen war, unter dessen Leitung er in der Meditation dem Absoluten in der eigenen Seinserfahrung begegnen konnte. 20 Gerade dieser Gedanke, der die vordergrundige Dualitat in der Gottes- bzw. Brahma-Vorstellung in eine Einheit aufhebt, weist durch das charakteristische Fehlen eines realen Tragers der ,,Phanomene" auf den Typus des samkhyistischen Yoga zuruck, in dem die ,,,Phanomen-Freiheit" (kaivalyam) des Purusa und damit auch Gottes eben durch die Annahme eines realen Tragers der Phanomene in der Prakrti ermoglicht wurde. Bei Sankara erscheint zwar derselbe Typus des a-kosmischen, phanomenfreien Bewusstseins in praktisch derselben Ableitung, aber das dafur notige Substrat der Phanomene wird seinerseits als Phanomen aufgehoben und fehlt daher, so dass ein gewisser ,,Bruch" in der rationalen Struktur seiner Gottesidee entsteht. Es scheint daher kein Zufall zu sein, dass gerade dieses Fehlen eines Tragers der ,,Phanomene" bei den spateren Vertretern der Sankara-Schule Anlass ausfuhrlicher Spekulation wurde.