Book Title: Buchbesprechungen Comptes Rendues Author(s): Johannes Bronkhorst Publisher: Johannes Bronkhorst View full book textPage 3
________________ 1026 BUCHBESPRECHUNGEN/COMPTES RENDUS Ungeachtet der thematisch eingegrenzten Perspektive zeichnet Stein von jeder Epoche ein lebendiges, farbiges Bild. Da ist der weltoffene Hof von Nara, jener frühen Zeit, in der Buddhismus und Shinto schon nebeneinander existierten. Weder dieser noch jener kannte die moralischen Tabu, die dem Islam und dem Christentum eignen. Die Sexualität unterschied nicht zwischen ideeller und körperlicher Liebe. Die verheiratete Frau und die Nebengemahlinnen und die Hofdamen auf Zeit wurden von der Adelsgesellschaft geachtet. Gedichte künstlerisch begabter Hofdamen wurden denn auch in die vom Kaiser angeordneten Lyrikanthologien aufgenommen wie beispielsweise dieses: So seicht wie der Brunnen im Berge, In dem sich als Abbild sogar Der Asaka-Berg widerspiegelt. So seicht ist keineswegs, was Mein Herz für Euch empfindet! Natürliches Selbstbewusstsein spricht aus diesen Zeileh, so dichtet keine "Geschlagene". Der Tonfall gealterter Hofdamen und Kurtisanen ändert sich allerdings, wenn die Zeit naht, da sie ausgedient haben. Gemäss der Darstellung von Michael Stein gibt es nur eine Epoche, die als die "glücklichste Zeit für Unterhaltungskünstlerinnen" gelten kann; es ist die Heian-Epoche. In der zwar rein männlich dominierten Gesellschaftsordnung geniessen die Kurtisanen hohe künstlerische Freiheit; sexuelle Dienstleistungen sind selbstverständlich die Bedingung sine qua non. Die Meisterinnen organisieren sich in Gilden, um sich klar abzugrenzen von Nachahmerinnen und von den mehr erotisch als künstlerisch Veranlagten. Die hochentwickelte Ästhetik der Hofkultur strahlte, bildlich gesprochen, auf die Verkehrswege des Insellandes aus, auf die Hauptstrassen und Flüsse. In den Reisestationen etablierten sich Kurtisanen und ebenfalls den niederen Gesellschaftsschichten entstammende Unterhalterinnen, die mit ihrem Gesang und ihrer Stegreifdichtung den Gästen die Zeit vertrieben. Nicht nur Adlige mit ihrem Gefolge und Beamte, sondern auch Mönche schatzten die Geselligkeit in den Flussschenken und Raststätten. Selbst der buddhistische Dichtermönch Saigyo schreibt in seinem Reisbericht von BUCHBESPRECHUNGEN/COMPTES RENDUS 1027 einer Begegnung mit einer Kurtisane: "Das Austauschen von Liebesliedern mit ihr war so vergnüglich, dass ich die ganze Nacht bei ihr verweilte." Das Besondere dieser Liebeslieder, das heisst der Volkslieder, liegt darin, dass sie sich sowohl sprachlich wie in der Melodie von den höfischen Normen unterschieden und ausschliesslich mündlich tradiert wurden. Ausnahmsweise wurden einige in imperiale Lyrikanthologien aufgenommen. Noch vor Ende des 12. Jahrhunderts legte der von der Volkskunst begeisterte Kaiser Go-Shirakawa eine umfangreiche Sammlung zumeist anonymer Texte an. Die einmalige Blüte der Hof- und der Volkskultur verwelkte mit dem Zerfall der ökonomischen und politischen Strukturen der Heian-Ära. In der darauf folgenden von militärischem Geist bestimmten Kamakura-Epoche bekommt die Kunst einen neuen, niedereren Stellenwert. Die Liebe zu einer Frau wird von den Kriegsleuten als Schwäche ausgelegt; Homosexualität und Päderastie und Bisexualität sind weit verbreitet. Mönchsklöster beispielsweise bilden Knaben in Gesang und Tanz aus, als junge Pagen übernehmen sie dann Kurtisanenrollen. Echte Kurtisanen ihrerseits kleiden sich in Männertracht, um mit erotischen Tänzen die Sinne der Männer zu reizen. Die Degradierung der musischen Künste zeigt sich auch darin, dass in keiner andern Epoche soviele Kurtisanen Nonnen wurden. Mit der Rückverlegung des Shogunats von Kamakura nach Kyoto in der Muromachi-Momoyama-Zeit nahmen Prunk und imperiale Etikette wieder zu. In der Herrscherschicht gehörten Frauenaffären zum guten Ton; doch auch die neu zu Wohlstand gekommenen Kaufleute besuchten die Kurtisanenhäuser, denen gegen Ende des 16. Jahrhunderts ein männlicher Chef vorstand. Die Frauen waren nach Steins drastischer Formulierung ein "stets verfügbares 'Spielzeug' männlicher Begierden", sie waren "eine Handelsware". Nicht weniger rigoros beurteilt der sozialkritische Autor das Kurtisanentum der Edo-Zeit; es manifestiert sich da nach seiner Ansicht die Degradierung der Frau von einer in Liebe und Ehe in etwa gleichberechtigten Partnerin im Alterum zu einer untergeordneten Dienerin ihres Gebieters. Eine unverheiratete Frau, ungeachtet ihres Standes, ist sexuell vogelfrei. Die Organisation der Freudenhäuser war in den Grossstädten wie Kyoto, Osaka, Edo behördlich geregelt. Es gab, nach chinesischem Vorbild, geschlossene Viertel mit Wache und Verwaltungsbüro. Bis zumPage Navigation
1 2 3 4 5 6