Book Title: Buchbesprechungen Comptes Rendues Author(s): Johannes Bronkhorst Publisher: Johannes Bronkhorst View full book textPage 6
________________ 1032 BUCHBESPRECHUNGEN/COMPTES RENDUS der Dichter, der mit seinem Zauberstab alles Gestein, die Steppe, die Gestirne, die Tiere zu pulsierendem Leben erweckt. Da hangt die Sonne in der boden- und grenzenlosen Leere des blassvioletten Himmels; lange, kantige Strahlen schalen sich von ihr ab, die gleich Lanzen, gleich Pfeilen auf die Erde zielen, heruberfliegen, sie an der steinigen und eisigen Haut treffen und daran zerbrechen. Die Natur ist dramatisiert. Im Drama kommen einem schwarzmahnigen, blaugrauen Wolf mit breitem eckigen Kopf und einer zartgliedrigen, trachtigen Hundin mit ziegenweissem Fell die Hauptrolle zu. Die Beziehung zwischen den beiden spiegelt schicksalshafte, ja tragische menschliche Bindungen. Die Menschen treten als Feinde wild lebender Tiere auf. Sie treiben den Wolf und seine Gefahrtin in die Flucht, verfolgen sie durch die weite Steppe bis hinauf in die Berge, treiben sie in den Tod. So knapp lasst sich die Geschichte skizzieren, aber das Wesentliche ist damit nicht gesagt. Ich meine, erst wenn einem die Person des Autors naher vertraut ist, begreift man die bildhafte Sprache, die den Leser in eine ungewohnte Atmosphare entruckt. Galsan Tschinag, eigentlich Irgit Schynykbaj-oglu Dshurukuwaa, wurde Anfang der vierziger Jahre im AltaiGebirge der Westmongolei als jungstes Kind einer Nomadenfamilie des turksprachigen Volkstamms der Tuwa geboren. Nach seinen Schul- und Studienjahren in Ulaanbataar studierte er von 1962-1968 in Leipzig. Seit 1991 lebt er als freier Schriftsteller; Romane, Erzahlungen und Gedichte verfasst er zumeist in Deutsch. Als Stammesoberhaupt der Tuwa hat er 1995 seinen zwangsweise umgesiedelten Stamm zweitausend Kilometer durch die Steppe ins Altai-Gebirge zuruckgefuhrt. Der Suhrkamp Verlag, der Insel Verlag und vornehmlich der Barenhuter im Waldgut veroffentlichen seine Werke. Sowohl in der Lyrik wie in der Prosa ist Autobiographisches eingeflochten. Ausserst aufschlussreich ist in dieser Hinsicht der Roman Die graue Erde. Da stellt sich Galsan Tschinag als Schamane vor. Der damit vermittelte Einblick in die Bedeutung des Schamanismus im Leben der Tuwiner erweitert ganz allgemein den Kulturbegriff. In Asien hat das Schamanentum in jedem Volk, zu verschiedenen Zeiten seine besonderen Rituale entwickelt. Einige wenige Grundzuge, die uberall festzustellen sind, seien hier notiert: Wichtige Geschehnisse auf Erden werden von Geistesmachten verursacht, die mit den Seelen ausgewahlter Menschen - Schamanen - kommunizieren.Page Navigation
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