Book Title: Zur Genese Des Buddhismus In Seinem Geschichtlichen Context
Author(s): Johannes Bronkhorst
Publisher: Johannes Bronkhorst
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Kanonfrage und Hermeneutik
weitere Fragen zum buddhistischen Kanon
zur Redaktionsgeschichte
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liche Aktualität: Können diese Fragen doch Anlaß werden zu Kritik an späteren Entwicklungen, auch an gegenwärtigen Zuständen und Auffassungen, weil sie den kritischen Aspekt der Echtheit implizieren. Tatsächlich haben Fragen dieser Art auch zu Kirchenspaltungen geführt bzw. dazu beigetragen. Hat nun diese Frage nach dem Kanon im Buddhismus zu ähnlichen Entwicklungen bis hin zu Streitigkeiten und Spaltungen geführt? Bronkhorst Es hat bekanntlich viele Bewegungen innerhalb des Buddhismus gegeben, die sich natürlich alle auf das Buddha-Wort berufen haben. Das war schon im Śrävakayana, im kleinen Fahrzeug, der Fall. Es hat sich dann mit dem Mahāyāna intensiviert, da die Mahāyānisten manchmal auch Buddha-Worte herangezogen haben, die von den anderen eigentlich nicht anerkannt wurden. In der Folge hat sich eine eigene Hermeneutik entwickelt, die es jedem unter Berufung auf bestimmte Buddha-Worte erlaubte, seinen eigenen Standpunkt zu verteidigen und zu sagen, dieses oder jenes wäre nicht wirklich so gemeint, wohl jedoch anderes, das mit der jeweils eigenen Meinung übereinstimmte, das wäre buchstäblich so gemeint. Ich glaube, daß es weniger zu verschiedenen Spaltungen geführt hat, als umgekehrt, daß es dazu diente, um verschiedene Entwicklungen bzw. Spaltungen nachträglich zu legitimieren.
Khoury Gab es eine Redaktionsgeschichte des Kanons des älteren Buddhismus? Und: Gab es - und gibt es bis heute - weitere Schriften, die neben diesem Kanon bestanden haben und damit abweichende Traditionen? Und welchen Stellenwert haben dann diese abweichenden Traditionen und jene Schriften, die neben dem Kanon bestanden haben? Bronkhorst Der Buddhismus hat sich bekanntlich in Indien früh verbreitet, später auch außerhalb des Subkontinents, und die Buddhisten haben ihre eigenen Texte (teils mündlich, später auch schriftlich) mitgenommen. Da sich die Texte in den verschiedenen Gemeinden wei
terentwickelt haben, läßt sich schon von früh an nicht wirklich von einem Kanon reden. Anders als in der Entwicklung des Kanons der biblischen Schriften, wo man doch, jedenfalls im Westen, allmählich zu einer übereinstimmenden Beurteilung gekommen ist, hat es im Buddhismus, historisch gesehen, nichts Vergleichbares gegeben. Man spricht zwar auch in der Geschichte des Buddhismus von, Konzilien', doch handelte es sich dabei um Zusammenkünfte von Mönchen, die von Zeit zu Zeit stattgefunden haben und bei denen zunächst rezitiert wurde, was sie als Buddha-Wort akzeptiert hatten. Anschließend haben sie diese Überlieferungen wieder mitgenommen, sie memorisiert und schließlich - vielleicht zum ersten Mal im 1. Jahrhundert nach der Zeitenwende in Sri Lanka, in Indien wahrscheinlich erst später - aufgeschrieben. So kam es dazu, daß wir heute sogar den Kanon vom Kleinen Fahrzeug in verschiedenen Versionen haben: nicht nur, weil das eine ins Chinesische übersetzt wurde und anderes wieder in Päli überliefert ist u..ä., sondern weil die Versionen sich auch inhaltlich voneinander unterscheiden, vielfach nur in Einzelheiten, manchmal aber auch in wichtigen Belangen. Hinzu kommt, daß, insbesonders im Mahāyāna, später auch Buddha-Worte neu hinzugefügt wurden. So ist es aus verschiedenen Gründen schwer, von einer Einheit im buddhistischen Kanon zu reden. Eine Redaktionsgeschichte hingegen läßt sich, wenn auch mit Schwierigkeiten, nachvollziehen, insoferne wir uns bis zu einem gewissen Grade vergewissern können, wie sich die verschiedenen Teile des Kanons entwickelt haben, wie sie kommentiert wurden usw. Wieweit es Schriften gibt, die nicht in den Kanon übernommen wurden bzw. abweichende Traditionen? Natürlich sind später viele Texte geschrieben worden, es gibt eine reiche Literatur des Buddhismus, die sich bis heute durchgesetzt hat. Ob und wo es sich dabei freilich um,abweichende' Traditionen handelt, ist schwer zu sagen. Eher nicht. Man sollte dabei mehr