Book Title: Gott Urbild Der Emanzipierten Existenz Im Yoga Des Patanjali Author(s): Gerhard Oberhammer Publisher: Gerhard Oberhammer View full book textPage 6
________________ 202 G. Oberhammer „wandernde Seele" zu der ihr seinsmäßig zukommenden emanzipierten Existenz gelangen kann. Soweit hatte Vyasa's Kommentar lediglich die Auffassung von YS I, 24 ,,Gott der Herr ist jene besondere Seele, welche unberührt ist von den Befleckungen, den Werken, ihrer Reifung und den Dispositionen dazu", konsequent zu Ende gedacht, indem er die Unklarheit des Sutram über die Art der Sonderstellung Gottes beseitigt und eindeutig die ontologische Struktur Gottes mit jener der anderen Seelen gleichgesetzt hatte. Dadurch war er aber gezwungen, näher zu bestimmen, worin dann der Unterschied zwischen Gott und Seelen besteht. Tatsächlich schließen sich an diese Frage die vielleicht interessantesten Ausführungen des Kommentators: „Hat diese wegen des Ihm-(nämlich Gott)-zugeordnet-Seins (upad anam) von übermächtigem Sattvam unwandelbare Erhabenheit (utkarsaḥ) Gottes des Herrn eine Ursache oder nicht ? - (Ja,) das Wissen (çastram) ist ihre Ursache. - Was wiederum hat das Wissen zur Ursache? - Das Wissen (Gottes) hat übermächtiges Sattvam zur Ursache. Diese beiden, welche vom Sattvam Gottes des Herrn abhängen, sind anfanglos (mit einander verbunden. Darum ist es, daß er immer der Herr ist, daß er immer befreit (muktah) ist."'16 Zur Interpretation des in diesem Abschnitt entscheidenden Sattva-Begriffes müssen einige Grundlehren des Samkhya-Systems erwähnt werden. Im klassischen spekulativen Samkhya steht den vielen unwandelbaren Geistseelen (purusah) eine einzige doch aktive und ewige Urmaterie (prakrtih) gegenüber. Diese beiden Prinzipien sind die einzigen Realprinzipien der Samkhya-Metaphysik. Die Welt der „geistigen" und „ungeistigen" Phänomene ist nichts anderes als die sich ständig wandelnde Urmaterie. Durch die Spiegelung dieser Phänomene, genauer dieser Umwandlungen der Urmaterie, im reinen Bewußtsein der Seele, welche Phänomene die Seele fälschlich als ihr zugehörig 'betrachtet, ergibt sich die ,,raum-zeitliche Existenz" der, wandernden" Seele. In Wirklichkeit ist aber diese „raum-zeitliche Existenz" der ,,wandernden" Seele lediglich die sich unabhängig vom Bewußtsein der Seele wandelnde Materie. Existenzielle Aufgabe des Menschen (=wandernde Seele) ist es, durch die rationale Analyse dieser „raum-zeitlichen Existenz" zur Erkenntnis zu gelangen, daß diese wohl in sich real ist, daß sie aber nicht der sie in der Spiegelung des eigenen Bewußtseins auf sich beziehenden Geistseele zukommt, mit anderen Worten, zu erkennen, daß allein die Urmaterie sich zur „raum-zeitlichen Existenz" einer wandernden Seele wandelt und sich schließlich selbst zum Wohle der von ihr im Banne gehaltenen Geistseele durch sich selbst als nicht zu dieser Seele gehörig 16 YBh 56. 17 Daß hier an den samkhyistischen Begriff des sattvam zu denken ist und nicht an den Begriff des ,, Seins” (Grundbedeutung von sat-tvam) wird durch den Kontext, welcher auch sonst Samkhya-Termini verwendet, nahegelegt. Außerdem würde man erwarten, daß sattvam, wenn es in der Bedeutung ,,Sein” verwendet wäre, direkt als Grund für die Erhabenheit Gottes angeführt und nicht das Wissen als dieser Grund erwähnt wäre, während bei Annahme, daß es sich um den Samkhya-Begriff handelt, das Sattvam tatsächlich Ursache des Wissens sein müßte und daher das Wissen völlig systemgerecht die Erhabenheit Gottes begründen würde. Zusätzlich wurde oben deutlich, daß Gott und emanzipierte Seelen im Sein gerade nicht unterschieden sind, und daher sattvam im Sinne von ,, Sein" eben nicht der Grund für Gottes Erhabenheit sein könnte. Schließlich wäre der Begriff des „übermächtigen Sattvam", falls sattvam als ,, Sein" wiederzugeben wäre, ein völlig systemfremder Begriff, während die Vorstellung vom Vorherrschen (prakar sah) der verschiedenen Konstituenten der Urmaterie selbstverständliche Lehre des Systems ist. Vgl. z. B. Yuktidipika 112 ff. Tatsächlich versteht auch der Kommentar des Sankara sattvam im Sinne des SamkhyaTerminus, wodurch die hier vertretene Interpretation durch einen indischen Kommentator bestätigt wird.Page Navigation
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