Book Title: Funf Gelubde Und Sechs Avashyakas
Author(s): Klaus Bruhn
Publisher: Klaus Bruhn
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Page #1 -------------------------------------------------------------------------- ________________ HERE-NOW4U :Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Einleitung http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/einleitung.html Fünf Gelübde und sechs Avashyakas -- Grundzüge der Jaina-Ethik -- Klaus Bruhn Redaktion: Carla Geerdes Einleitung Der Jainismus -- häufig und nicht ganz zu Unrecht als Schwesterreligion des Buddhismus bezeichnet -- war bis vor kurzem außerhalb Indiens nur in Fachkreisen bekannt, stößt aber seit einiger Zeit in vielen Ländern auf zunehmendes Interesse. Wir beschäftigen uns hier mit der Ethik dieser Religion. Eine Kurzfassung der Jaina-Ethik wird meist von den Fünf Gelübden ausgehen, den Gelübden, • nicht zu töten (die himsa oder das Töten zu vermeiden, und mithin die a-himsa oder das Nicht-Töten zu praktizieren), • nicht zu lügen, • nicht zu stehlen, • Keuschheit zu üben, • auf Besitz zu verzichten. Wir wollen die Fünf Gelübde, die de facto Gebote sind, heute jedoch in einen größeren Zusammenhang stellen, und zu diesem Zweck befassen wir uns mit den sechs "Avashyakas", in welche die in den Texten auch sonst ständig genannten Fünf Gelübde mit eingebunden sind. Die Avashyakas sind religiös-moralische Rezitationstexte, und zwar Texte, deren Beherrschung und Rezitation als "notwendig" (avashya) angesehen wird. Die Rezitation muß mit der entsprechenden inneren Haltung Hand in Hand gehen, und es wäre falsch zu sagen, es handele sich um ein "bloßes Ritual". Vielmehr wird im Rahmen des Möglichen darauf geachtet, daß das in der Rezitation Gesagte auch verinnerlicht wird. Die Fünf Gelübde erscheinen dabei im vierten und sechsten Avashyaka. An wen richten sich die sechs Avashyakas? Die Jaina-Gemeinde ist vierfach: Mönche und Nonnen, männliche und weibliche Laienanhänger. Dieser Tatbestand spiegelt sich aber in der ethischen Literatur nur in ungenügender Weise wider. Zum einen ist es typisch für den Jainismus, daß er den Laienstand einerseits sehr ernst nimmt, andererseits aber aus dem Laien am liebsten doch eine Art Mönch zu machen sucht, so als sei der Laienstatus nur ein reduzierter Mönchsstatus. So ist auch der Adressat der sechs Avashyakas in erster Linie der Mönch (oder Mönch und Laie in gleicher Weise), und nur zu einem relativ kleinen Teil der Laie als solcher. Zweitens richtet sich die Literatur in erster Linie an die Männer. Das zeigt sich schon im Verhältnis von Mönchen und Nonnen, aber es zeigt sich noch deutlicher bei den Laien. Dort ist ausschließlich vom rechten Verhalten der Männer die Rede; die Frauen werden nur durch einen kurzen Hinweis eingeschlossen oder aber überhaupt nicht erwähnt (so in unserem Text). Da aber gerade im Laientum die Lebensverhältnisse von Männern und Frauen radikal verschieden sind, lassen sich die betreffenden Regeln auf die Frauen vielfach gar nicht anwenden. Davon einmal abgesehen, ist die Haltung gegenüber den Frauen ambivalent. Es gibt Loblieder auf spirituell fortgeschrittene Nonnen und Laienanhängerinnen, aber es gibt auch zahllose Tiraden gegen das weibliche Geschlecht als solches. Nach Form und Inhalt stellen die Avashyakas eine spezielle Entwicklung innerhalb der alten Jaina-Literatur dar. Die sechs Textstücke bilden zusammen das Avashyaka-Sutra (sutra = "Lehrbuch' im engeren oder weiteren Sinne), ein kleines Werk des Jaina-Kanons. Es ist strenggenommen ein Mittelding zwischen Ritualbuch und literarischem Werk. Die Thematik wechselt, aber der größere Teil ist geprägt durch die ständig in ähnlicher oder identischer Form wiederkehrenden moralischen Bekenntnisse und Anweisungen: dieses (von mir Getane) bereue ich, dieses will ich unterlassen, dieses habe ich zu unterlassen, dieser Haltung befleißige ich 1 von 2 01.04.99 11:08 Page #2 -------------------------------------------------------------------------- ________________ HERE-NOW4U:Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Einleitung 2 von 2 http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/einleitung.html mich, die Tirthankaras (Avashyaka II) verehre ich. Die Entwicklung zum Avashyaka-Sutra findet ihre Fortsetzung in zahlreichen späteren Werken des gleichen Typs. Wir geben nachstehend zunächst den vollen Text der ersten drei Avashyakas wieder: mittelindischer Text (Prakrit) und deutsche Übersetzung von ERNST LEUMANN (1859-1931)2. Der Vorspann ist jeweils von uns eingeblendet. Es folgt unsere Behandlung der im Text weitaus umfangreicheren Avashyakas vier bis sechs; in diesem zweiten Teil gehen wir dann selektiv vor. weiter 1 Grundlage unseres Beitrags ist ein Kurzreferat, gehalten in Berlin am 20.4.1997 anläßlich des Geburtstags von Mahavira ('Mahavira-Jayanti') in der dortigen Yoga-Schule (Dr. N. K. Jain). Es wurde versucht, einen einzelnen Prakrit-Originaltext aus dem Jaina-Kanon in die Behandlung der Jaina-Ethik zu integrieren (vgl. den Titel). Für Anregungen verschiedener Art bin ich K. BUTZENBERGER verpflichtet. -- Unter den "Fußnoten" finden sich einige sehr spezielle Literaturhinweise, die in erster Linie für den Indologen gedacht sind. 2 In der englischen Fassung übersetzen wir direkt aus dem Orginaltext. Dasselbe gilt naturgemäß von allen Fachausdrücken, so daß dem Leser hier jeweils zwei Formen der Wiedergabe zur Verfügung stehen. Davon abgesehen ist die englische Fassung insgesamt etwas ausführlicher als die deutsche Fassung. 01.04.99 11:08 Page #3 -------------------------------------------------------------------------- ________________ HERE-NOW4U :Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Avashyaka I http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Avashyakal.html Avashyaka I: Samayika Das erste Avashyaka ist ein moralisches Bekenntnis. Es basiert auf einer alten Formel der Jaina-Überlieferung, die geringfügig erweitert wurde, um als selbständiges Glied der sechsfachen Avashyaka-Kette verwendet zu werden. Beichte und Reue (vgl. den letzten Satz des Samayika und Avashyakas III-V) sind wichtige Themen in der Jaina-Literatur. Dennoch wurde der Jainismus von seinen Anhängern nie als Religion der Reue dargestellt, und viele Texte behandeln (trotz ethischer Ausrichtung) das Thema "Reue" nur am Rande oder überhaupt nicht. Text karemi bhante Samaiyam: savvam savajjam jogam paccakkhami javaj-jivae tiviham tivihenam: manasa vayasa kayasa, na karemi, na karavemi, karentam pi annam na samanujanami. Übersetzung Ich mache, Ehrwürden, das Samaiya: Alles Tadelnswerte verdamme ich zeitlebens in dreimal dreifacher Weise: das in Gedanken, das in Worten, das in Werken, nicht tue ich es, nicht veranlasse ich Jemanden es zu tun, nicht billige ich es, wenn jemand es tut. Seinetwegen, Ehrwürden, bereue ich, tadle, schelte und kasteie ich mich. tassa bhante padikkamami nindami garihami appanam vosirami. savajja joga (zweite Zeile) ist in wörtlicher Übersetzung "tadelnswertes" Verhalten. Gemeint ist damit aber falsches Verhalten schlechthin. zurück weiter 3 Betone: Avashyaka (Samáyika, Caturvímshatistáva, Vándana, Pratikramana, Kayotsarga, Pratyakhyána). - Ferner: Ahimsa, Anúvrata, Mahavíra, Mahávrata, Samsára, Samyama. 01.04.99 11:25 I ven ! Page #4 -------------------------------------------------------------------------- ________________ HERE-NOW4U:Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Avashyaka II 1 von 2 Avashyaka II: Caturvimshatistava Das zweite Avashyaka ist ein Hymnus (stava) auf die vierundzwanzig (caturvimshati) Tirthankaras und heißt deswegen 'Caturvimshati-stava'. Die Jinas (Sieger) oder Tirthankaras (Heilskünder) sind die Stifter der Jaina-Religion, gehören aber mit Ausnahme der beiden letzten nicht der Geschichte, sondern einer legendären Frühzeit an. Der letzte Tirthankara ist unter dem Namen bzw. Titel 'Mahavira' (großer Held) bekannt; er war ein Zeitgenosse des Buddha (Lehrtätigkeit zwischen 450 und 350 v. Chr.). Mahaviras Vorgänger Parshva lebte geraume Zeit früher. Das Wort Jaina ist von Jina abgeleitet. Unser Text (Vers 2-4) enthält links die Prakrit-Namen (mittelindisch) und rechts die Sanskrit-Namen (altindisch) der Tirthankaras. Avashyaka II ist ein Zeugnis für die Tendenz, die Tirthankaras zu vergöttlichen (vgl. unsere Abbildungen 1-4). Obwohl das Element der Hingabe (Bhakti) kaum erkennbar ist -- die Tirthankaras sind nur geistliche Wegweiser -- besteht doch eine gewisse Nähe zur hinduistischen Bhakti. Im Schlußvers erscheint der Ausdruck siddhi als Bezeichnung für den Zustand der Erlösung. Vergleiche dazu unseren gleichnamigen Abschnitt weiter unten. Text logassa ujjoyagare dhamma-titthamkare jine / arahante kittaissami cauvvisam pi kevali // Usabham Ajiyam ca vande Sambhavam Abhinandanam ca Sumaim ca/ Paumappaham Supasam jinam ca Candappaham vande // Suvihim ca Pupphadantam Siyala Sejjamsa Vasupujjam ca/ Vimalam Anantam ca jinam Dhammam Santim ca vandami // http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Avashyaka2.html Vers 1 Vers 2 1. 2. 3. 4. 1560700 5. 6. 7. 8. Vers 3 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. Vers 4 Übersetzung Die einst mit Licht die Welt erfüllten, als siegreich sie den Glauben lehrten, die Hocherhabnen will ich preisen, die vierundzwanzig Ewigweisen. Ich verehre sie alle (Vers 2-4): Rishabha Ajita Sambhava Abhinandana Sumati Padmaprabha Suparshva Candraprabha Suvidhi Pushpadanta Shitala Shreyamsa Vasupujya Vimala Ananta Dharma Shanti 01.04.99 11:25 Page #5 -------------------------------------------------------------------------- ________________ HERE-NOW4U: Bruhn :Grundzüge der Jaina-Ethik - Avashyaka II 2 von 2 Kunthum Aram ca Mallim vande Munisuvvayam Nami-jinam ca / vandami (A)ritthanemim Pasam taha Vaddhamanam ca // evam mae abhithuya vihuya-raya-mala pahina-jara-marana/ cauvisam pi jina-vara titthayara me pasiyantu // kittiya-vandiya-mahiya je 'e logassa uttama siddha / arogga-bohi-labham samahi-varam uttamam dentu // candesu nimmalayara aiccesu ahiyam payasagara / sagara-vara-gambhira siddha siddhim mama disantu // zurück weiter Beobachtungen von JOHN E. CORT. http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Avashyaka2.html 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. Vers 5 Vers 6 Vers 7 Kunthu Ara Malli Munisuvrata Nami Arishtanemi Parshva Vardhamana (= Mahavira) Die also von mir Angerufenen, die Staub und Unrat von sich warfen und Tod und Alter überwanden, O daß die vierundzwanzig Sieger mir gnädig seien, die Propheten. Die da, gerühmt, verehrt, gefeiert, an höchster Stelle selig thronen, O daß sie mir Gesundheit schenken, Erkenntnis mich erlangen lassen und Andacht auch in höchstem Maße. Die fleckenloser sind als Monde und lichtverbreitend mehr als Sonnen und unergründlich gleich den Meeren, O daß sie, die da ewig selig, den Weg zur Seligkeit mir weisen. 01.04.99 11:25 Page #6 -------------------------------------------------------------------------- ________________ HERE-NOW4U :Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Avashyaka III http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Avashyaka3.html Avashyaka III: Vandana Vandana heißt Begrüßung. Das dritte Avashyaka kann beschrieben werden als Verbindung von Reue-Ritual und Begegnungs-Rituals. Der Schüler (Novize) begibt sich am Ende des Tages zu seinem Lehrer und gibt seiner Reue in Hinblick auf mögliche oder tatsächliche Verfehlungen im Laufe des Tages Ausdruck. Der schwierige Text ist auf die formelhafte Rede der beiden Partner reduziert und hat nicht den Charakter einer vollständigen Beschreibung (vgl. auch die englische Version). Der "bemessene Bereich" ist der unmittelbare Umkreis des Lehrers, der nicht ohne weiteres von Besuchern betreten und verlassen werden darf. Der von LEUMANN als "Bürstchen" bezeichnete Gegenstand ist der für das Ritual wichtige Besen des Jaina-Mönchs. Er diente ursprünglich wohl tatsächlich dem Fortfegen kleiner Tiere, die nicht zu Schaden kommen sollten, wenn beispielsweise etwas auf den Boden gestellt werden sollte. Später überwog dann die symbolische bzw. ritualistische Verwendung. Zu den sechs Formeln des ersten Teils gehört nach der Tradition je eine Antwort des Lehrers. Wir fügen in der nachfolgenden Übersetzung diese Antworten in Klammern ein, samt den sonst zum Verständnis notwendigen Ergänzungen. [Zusatz von LEUMANN) Teil I Text 1. icchami khamasamano vandium javanijjae nisihiyae. anujanaha me mi' oggaham. 2. aho-kayam kaya-samphasam. 3. Übersetzung (In gemessener Entfernung spricht der Schüler zum Lehrer:) Ich wünsche Euer Gnaden zu ehren in tunlichster Sammlung. - [Gern.] Erlaubt mir, den bemessenen Bereich (zu betreten). - [Ich erlaube es.) (Zu des Lehrers Füßen hingetreten legt er das Bürstchen auf den Boden und berührt dasselbe sowie die (eigene) Stirne mit den Händen, sprechend:) (Erlaubt) unten am Leib (d.h. an den Füßen) die Berührung mit dem (meinigen) Leibe (d.h. mit meinen Händen). (Den Kopf hebend und mit an der Stirn gefalteten Händen dem Lehrer ins Antlitz schauend spricht er:) Es möge von Euch die(se) Belästigung geduldet werden. Wenig belästigt habt Ihr (wohl) den Tag recht gut verbracht. - [Ja.] Des geistlichen Fortschrittes erfreut Ihr Euch. - [Euch auch kommt er zu.] Und der Zufriedenheit erfreut Ihr Euch. - [So ist es.) Ich bitte ab, Euer Gnaden, (mein) tägliches Vergehen. - [Ich auch bitte Dir ab.] khamanijjo bhe kilamo. appa-kilantanam bahu-subhena bhe divaso vaikkanto. jatta bhe. javanijjam ca bhe. khamemi khamasamano devasiyam vaikkamam. 1 von 2 01.04.99 11:29 Page #7 -------------------------------------------------------------------------- ________________ HERE-NOW4U :Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Avashyaka III http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Avashyaka3.html Teil II avassiyae - padikkamami khamasamananam devasiyae asayanae tettis' annayarae jam kimci micchae mana-dukkadae vaya-dukkadae kaya-dukkadae kohae manae mayae lobhae (Aufgestanden und aus dem Bereich herausgetreten spricht der Schüler:) Aus (Pflicht-) Nötigung - ich bereue was irgend Unrechtes (ich begangen habe) gegen Euer Gnaden an täglicher Unerbietigkeit in dieser oder jener ihrer dreiunddreißig Außerungsweisen, sei es in Gedanken, Worten oder Bewegungen, aus Zorn, Hochmut, Unaufrichtigkeit oder Begierde, an jederzeitiger jede falsche Dienstleistung und jede Pflichtversäumnis betreffender Unehrerbietigkeit, was ich mir habe zu Schulden kommen lassen, dessentwegen, Euer Gnaden, bereue ich, tadle, schelte und kasteie ich mich. savva-kaliyae savva-micchovayarae, savva-dhammaikkamanae asayanae jo me aiyaro kao, 4. tassa khamasamano padikkamami nindami garihami appanam vosirami. zurück weiter 5 Vgl. zum Thema der "Begegnung" im buddhistischen Kanon MARK ALLON, Style and Function. Tokyo 1997. [Study 1: "approach structures" und "approach formulas". ] 2 von 2 01.04.99 11:29 Page #8 -------------------------------------------------------------------------- ________________ HERE-NOW4U :Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Avashyaka IV http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Avashyaka4.html Avashyaka IV: Pratikramana Das vierte Avashyaka besteht im wesentlichen aus mehreren Abschnitten, deren jeder ein Reuebekenntnis (Pratikramana) einschließt. Als Inhalt enthält jeder Abschnitt einen kürzeren oder längeren Katalog von verschiedenen Formen monastischen Fehlverhaltens, auf die sich die Reue bezieht. Wir zitieren zunächst den folgenden Abschnitt zum Thema Ahimsa: Ich will bereuen. Welche Lebewesen ich durch Verletzung der Pflicht zu korrektem Gehen verletzt habe -- im Kommen und Gehen, im Treten auf Lebewesen, auf Samen und grüne (unverwelkte) Pflanzen, auf Tau, auf Uttingas (Insekten oder Würmer), auf feinen Schlamm, auf groben Schlamm (?), auf Spinnweben, mit einem Sinn ausgestattete Lebewesen (vier Elemente [Erde, Wasser, Feuer, Luft] und Pflanzen), mit zwei, drei, vier Sinnen ausgestattete (niedere Tierwelt), mit fünf Sinnen ausgestattete (höhere Tierwelt und Menschen), welche ich niedergeschlagen, ..., zertreten habe (usw.), welche ich vollends getötet habe, was immer ich (denen gegenüber) gesündigt habe, das habe ich aus Irrglauben getan. Der Abschnitt verbindet unterschiedliche Vorstellungen vom belebten Kosmos. Er spiegelt damit die Mentalität der frühen Jainas, die von der Vorstellung verfolgt waren, daß ihnen auf Schritt und Tritt sichtbare und unsichtbare, in jedem Fall aber schutzbedürftige Lebewesen entgegentraten. Im Laufe der Zeit bildete sich diese überhitzte Haltung etwas zurück, aber die wesentlichen theoretischen und praktischen Grundsätze blieben unverändert. Soweit die alten Jainas. Es ist ein weiter Weg von der Himsa-Phobie der pflichtbewußten Jaina-Mönche zu einer radikalen Abkehr von Mißhandlung, Grausamkeit und Mord. Statt MONTAIGNE's "grausamem Haß der Grausamkeit und R. FIELDING'S Kritik an Jagd und Jäger ("that cunning, cruel, carnivorous animal man ") finden wir bei den Jainas halb-magische und halb-ethische Vorstellungen von der natürlichen und kreatürlichen Umgebung. Rücksichtsnahme, wie zunächst einmal im Zitat geschildert, entwickelt sich zu einer Lebensform, bei der der einzelne weiß, daß man alle, aber auch alle Lebewesen zu schützen hat (z. B. durch extrem vorsichtigen Umgang mit Wasser), bei der aber unmittelbare Anschauung und Spontaneität zurücktreten: niemand sieht die Erdwesen (Wasserwesen usw.), und niemand kann sie sich vorstellen. Es scheint, als ob das Problem der absoluten Gleichbehandlung alles Lebenden durch die Einführung von Organisationsstufen (zunehmende Zahl der Sinne, siehe oben) etwas entschärft wird. Dies ist aber nur in sehr beschränktem Umfang der Fall (vgl. auch den Abschnitt über Erlösung). Zwei weitere Abschnitte des Pratikramana haben die spezielle Form von Begriffsketten, die nach der zunehmenden Zahl der Glieder angeordnet sind. Dieses Anordnungsverfahren findet sich ähnlich bei den Buddhisten und dient der Organisation des Materials in enzyklopädisierenden Texten. Der längere der beiden Abschnitte geht bis 33, d. h. bis zu einer Begriffskette mit 33 Gliedern. Bei den Positionen 3-6 finden wir jeweils mehrere, sonst nur jeweils eine Kette. Wir zitieren aus diesem Abschnitt zehn Begriffsketten, die zu den Positionen 1-10 gehören. Nach Position 6 sind die einzelnen Glieder der Ketten im Avashyaka-Sutra nicht mehr erwähnt. Sie müssen dann dem Kommentar oder anderen Texten entnommen werden. Der Begriff der Reue, der über dem ganzen vierten Avashyaka schwebt, liefert wie zu erwarten den Rahmen für die Begriffsketten, wobei die hier zur Rede stehende längere über den Umfang eines normalen Ritualtextes spürbar hinausgeht. In zeitlicher Hinsicht unterscheidet das Pratikramana-Konzept unter anderem zwischen Verfehlungen im Lauf eines Tages, Verfehlungen im Lauf einer Nacht und Verfehlungen im Lauf einer Monatshälfte. Unser Text bezieht sich - parallel zum abendlichen Vandana - nur auf die Verfehlungen am abgelaufenen Tag. Es folgt unser Auszug aus dem längeren Abschnitt: I von 3 01.04.99 11:29 Page #9 -------------------------------------------------------------------------- ________________ TERE-NOW4U :Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Avashyaka IV http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Avashyaka4.html Ich bereue jedwedes Vergehen, das ich begangen habe • im Stande des Asamyama (Mangel an Selbstzucht oder an Samyama als der fundamentalen Tugend) • durch die Formen der Bindung an die Welt: die Bindung durch Liebe die Bindung durch Haß, • durch Nichtbeachtung der Formen der Behutsamkeit: Behutsamkeit in Gedanken Behutsamkeit in Worten Behutsamkeit in Taten, • durch die Leidenschaften: Zorn Stolz Unredlichkeit Gier, • durch Nichtbeachtung der Großen Gelübde: (der Gelübde) Inicht zu töten nicht zu lügen nicht zu stehlen Keuschheit zu üben auf Besitz zu verzichten, • durch Nichtbeachtung der Kategorien von Lebewesen: der Lebewesen, die das Element "Erde" bilden, der Lebewesen, die das Element "Wasser" bilden, der Lebewesen, die das Element "Feuer" bilden, der Lebewesen, die das Element "Luft" bilden, der Pflanzen der Tiere (einschließlich der Menschen), • durch die Formen der Furcht: Furcht vor dem Diesseits 1 Furcht vor dem Jenseits Furcht vor Raub Furcht vor unerwartetem Ereignis I Furcht vor Hunger I Furcht vor dem Tod I Furcht vor Schande, • durch die Formen des sündigen Stolzes: Stolz auf die Kaste Stolz auf die Familie Stolz auf Stärke Stolz auf Schönheit Stolz auf Askese Stolz auf Autorität Stolz auf Gelehrsamkeit Stolz auf Gewinn, • durch die Nichtbeachtung der Maßnahmen zur Sicherung der Keuschheit: Inicht an Frauen denken, nicht über Frauen sprechen usw., • durch die Nichtbeachtung der Regeln für den Mönch: Langmut Demut Lauterkeit der Gesinnung 2 von 3 01.04.99 11:29 Page #10 -------------------------------------------------------------------------- ________________ LERE-NOW4U :Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Avashyaka IV http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Avashyaka4.html Begierdelosigkeit Askese Selbstzucht (Samyama) Wahrhaftigkeit Reinheit (ungetrübte Selbstzucht) Armut Zölibat, was immer ich (somit) im Laufe des Tages Falsches getan habe, das habe ich aus Irrglauben getan. Die 'Großen Gelübde' sind die Gelübde für den Mönch, die sogenannten Mahavratas (maha = groß, vrata = Gelübde). Ihnen entsprechen bei den Laien die weniger strengen Anuvratas oder 'Kleinen Gelübde' (anu = klein). Sie werden uns bei der Behandlung des sechsten Avashyaka begegnen. Unser 'längerer Abschnitt' wendet sich nicht ausschließlich, aber weitgehend an den Mönch; eine strenge Trennung von Mönchen und Laien ist von den alten Autoren nicht beabsichtigt. Im Zusammenhang mit den Kategorien von Lebewesen ist unser Text wörtlich zu nehmen: Die vier Elemente werden von den Lebewesen regelrecht gebildet. Diese Lebewesen bestehen jeweils aus einer Seele und einem mit der Seele verbundenen und als 'Körper' dienenden Minimum an Materie. Es ist demnach streng zu unterscheiden zwischen diesen rein spekulativen 'Elementarwesen' (Kleinstlebewesen) und zufällig in den Elementen (z. B. im Wasser und in der Luft) befindlichen mehr oder weniger sichtbaren und realen kleinen Lebewesen. Soweit es beispielsweise Vorschriften gibt, das Wasser vor dem Gebrauch zu filtern, dient dies logischerweise nur dem Schutz der kleinen Lebewesen im Wasser, nicht dem Schutz der Lebewesen, aus denen das Wasser besteht. Der Schutz der eigentlichen 'Elementarwesen, der vor allem vom Mönch erwartet wird, ist bei allen vier Elementen ein Kapitel für sich, das hier nicht behandelt werden kann. Am Ende des Pratikramana erscheint der folgende Vers: khamemi savva-jive, savve jiva khamantu me / Ich bitte alle Lebewesen um Verzeihung, alle Lebewesen mögen mir verzeihen; metti me savva-bhuesu, veram majjham na kenai // ich empfinde Liebe zu allen Kreaturen, niemandem begegne ich mit Haß. zurück weiter 6 Essay über "cruauté" (vgl. J.N. SHKLAR, Ordinary Vices, Harward University Press 1984, pp.1-9 et passim). -- Der Jainismus wird gern als Religion der "Gewaltlosigkeit" bezeichnet. Wenn wir den Begriff der Grausamkeit einführen, so deswegen, weil die Verwendung zusätzlicher, verwandter Begriffe zu größerer konkretion führt. Ein breites Begriffsspektrum findet sich im Jainismus selbst zwar nicht, ist aber für jede auf den Jainismus bezogene (oder darüber hinaus führende) Diskussion ethischer Fragen unverzichtbar. 7 Tom Jones X 2. von 3 01.04.99 11:29 Page #11 -------------------------------------------------------------------------- ________________ HERE-NOW4U:Bruhn :Grundzüge der Jaina-Ethik - Avashyaka V 1 von 3 Avashyaka V: Kayotsarga Der 'Kayotsarga' ist die schwierigste Übung des Jaina-Mönches. Der Mönch verharrt für einen längeren Zeitraum in bewegungsloser (primär in stehender) Position und meditiert. Die stehenden und sitzenden Darstellungen des Tirthankara, wie wir sie aus der Kunst kennen (vgl. unsere Abbildungen 1-4), zeigen alle den Kayotsarga (was bei den stehenden freilich 8 http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Avashyaka5.html Abb.1. Sitzender Tirthankara: Mathura (250-300 n.Chr.). Abb.2. Kultobjekt: vierseitiger Schaft mit vier stehenden Tirthankaras: Mathura (250-300 n.Chr.). 01.04.99 11:38 Page #12 -------------------------------------------------------------------------- ________________ VERE-NOW4U :Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Avashyaka V http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Avashyaka5.html O POS d as AIKYTI .. DAY AN 21 Tilaa A 25 TDD W A ZATIMUSTENNIHUANIYTHINNAT 2.4.1 . THE ARENADO an L LLAH HUMANITATIUNCTIE T AAKOWANN DAS ECHO TAMIYATL414 MWIMMAT Tei l a Mauris 1.7 . H UNTING TO JE UCERIE Abb.3. Große Komposition mit sitzenden und stehenden Tirthankaras. Patan (das alte Anahilapattana), Gujarat, 16. oder 17. Jh. ANATO STENE in SA 19 Cow SIR it * All chai See LAWN. WELATITRE ITALIAN WEBINARODE NINORINOTHIERRATNIKATIES 9. PS Abb.4. Ausschnitt aus Abb.3 (Sockelzone). Der kleine Stier in der Mitte des Kissens deutet an, daß der große sitzende Tirthankara Rishabha ist (Avashyaka II). eindeutiger ist als bei den sitzenden). In der Kayotsarga-Haltung soll der Mönch körperliche Disziplin üben und meditieren, jedoch gibt es keine spezielle Meditationstechnik und keine speziellen Erlebnisse und Erfahrungen. 'Meditieren' (ein eindeutiger Terminus existiert gar nicht) bedeutet im Jainismus Beschäftigung mit den Lehren der Religion und Verinnerlichung des für . den Meditierenden Wesentlichen. von 01.04.99 11:38 Page #13 -------------------------------------------------------------------------- ________________ HERE-NOW4U :Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Avashyaka V http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Avashyaka5.html Der Kayotsarga im Sinne der literarischen Komposition (Avashyaka V) handelt nur zu einem sehr kleinen Teil von der Kayotsarga-Ubung. Er besteht zum größeren Teil aus Stücken, die vorangegangene Textpassagen wörtlich wiederholen oder thematisch unmittelbar an sie anknüpfen. Was die Realität angeht, so besteht ein Unterschied zwischen der echten, unabgekürzten Kayotsarga-bung des willensstarken Mönches und der ritualisierten Übung für alle oder viele. Der von uns ausgewählte einschlägige Text (siehe gleich) basiert auf der echten Übung; aber vollzogen wird die hier zur Rede stehende Kayotsarga-Übung als ein Element innerhalb des Avashyaka-Gesamtrituals. Unser Text lautet wie folgt: Um ... schlechtes Karman zu vernichten, vollziehe ich den Kayotsarga. Mit der Ausnahme von Einatmen und Ausatmen, Husten und Niesen, Gähnen und Ausspeien (? Schluckauf?), abgehenden Blähungen, Drehschwindel und Gallen-Ohnmacht (?), sehr leichten Bewegungen der Glieder, sehr leichten Bewegungen des Schleims (Speichels?), sehr leichten Bewegungen der Augen (Augenlider usw.), (mit der Ausnahme] von solchen und ähnlichen (unwillkürlichen) Bewegungen möge mein Kayotsarga nicht unterbrochen und nicht beschädigt sein. Bis ich (den kayotsarga) durch die "Verehrung der Tirthankaras" abgeschlossen habe, kasteie ich meinen Körper durch stehende Haltung, Schweigen und Meditation. Wie der oben zu Avashyaka IV zitierte Passus über die zu schonenden Lebewesen bereits zeigte, gehört zum Verständnis des Jainismus nicht nur Vertrautheit mit der Lehre, sondern auch Kenntnis seiner ganz konkreten Ausdrucksformen, hier der 'Physiologie der Meditation'. Dabei stellt sich dann auch die Frage, wieweit auf äußerste Bewegungslosigkeit des Meditierenden Wert gelegt wurde und welche Rolle die aus der Sicht der Texte wohl optimale stehende Haltung neben der sitzenden (und ggf. liegenden) Haltung spielte. Die Texte sind nicht sehr mitteilsam, aber angemessenes Training war in jedem Fall notwendig. Kehren wir zum Kayotsarga innerhalb des Avashyaka-Rituals zurück, so haben wir es mit einer starken Verkürzung und Vereinfachung zu tun. Der Ausdruck "Verehrung der Tirthankaras" bezieht sich auf den Zeitraum und auf die Gedankenrichtung. In Hinblick auf den ersten Punkt ist davon auszugehen, daß die hier angesprochene Verehrungsformel mehrmals rezitiert wurde (in Worten, u.U. nur in Gedanken). Dennoch kann im rituellen Kontext von starker und lang anhaltender körperlicher und spiritueller Anstrengung nicht die Rede sein. zurück weiter Photo: GRITLI VON MITTERWALLNER. 9 JAS. BURGESS und HENRY COUSENS, The Architectural Antiquities of Northern Gujarat. London 1903. Pl. XIX. 3 von 3 01.04.99 11:38 Page #14 -------------------------------------------------------------------------- ________________ WERE-NOW4U :Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Avashyaka VI http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Avashyaka6.html Avashyaka VI: Pratyakhyana Der Titel pratyakhyana (Entsagen) ist abgeleitet von pratyakhyati ("er entsagt"). Dieses Verb wird unter anderem in Verbindung mit den Fünf Gelübden gebraucht ("er entsagt dem Töten .. ."). Wie wir wissen (Einleitung und Avashyaka IV), sind diese fünf Grundregeln nicht als Gebote formuliert, sondern als Gelübde (Inhalt: Gebotserfüllung) und als Reuebekundungen (Inhalt: Nicht-Erfüllung). Das Pratyakhyana-Kapitel enthält nun die zwölffache Ethik für den Laien, bei der die Fünf Kleinen Gelübde den Anfang bilden, und es enthält daneben eine Reihe von Fastenregeln. Das Verb pratyakhyati wird sowohl bei den Fünf Laiengelübden als auch bei den Fastenregeln verwandt. Uns geht es hier vornehmlich um die Fünf Kleinen Gelübde. Das genaue Verhältnis der kleinen (leichteren) Gelübde für den Laien zu den entsprechenden Großen (schwereren) Gelübden für den Mönch braucht nicht festgelegt zu werden. Eine zusätzliche Position aus der Laienethik (Spenden von Almosen) wird am Schluß Erwähnung finden. Wir geben links die traditionellen Kurzdefinitionen in deutscher Übersetzung und halten uns sonst -- rechte Seite -- an die Erläuterung der Laienfassungen durch die Übertretungspentaden (fünf Formen der Übertretung bei jedem Gelübde). Diese Übertretungspentaden können in Relation zu den Kurzdefinitionen als eine Art Katechismus angesehen werden. Sie demonstrieren aber darüber hinaus das breite ethische Spektrum der Jaina Dogmatik. Da die Übertretungspentaden sehr konkret sind, wird die ausschließliche Ausrichtung auf Männer -- in der Formulierung, nicht in der allgemeinen Intention -- sehr deutlich. Die einschlägigen Texte wie das Avashyaka-Sutra übernehmen die Seite nahezu wörtlich aus einem frühkanonischen Text und geben auf der Seite nicht sehr inhaltsreich und kann deswegen im Folgenden auf die Übersetzung der Kurzdefinitionen reduziert werden. Die Bezeichnung "grob" bei den ersten drei Gelübden steht für den Unterschied gegenüber den bei eins bis drei gleichlautenden Mönchsgelübden: Der Laie entsagt im Gegensatz zum Mönch nicht allen möglichen Verstößen, sondern nur allen möglichen "groben", d.h. schwerwiegenden Verstößen. Nr. (i) Das Gelübde Der Jaina-Laie entsagt jedwedem "groben" Töten von Lebewesen. Die Übertretungen Festbinden Schlagen / Peitschen Schneiden / Durchbohren Überladen Entziehen von Nahrung und Wasser. Das Erste Gelübde ist allgemein gesprochen das Gelübde der Ahimsa. Die Terminologie ist freilich nicht einheitlich. Es finden sich neben "Ahimsa" auch andere Ausdrücke, und vom Wortlaut her ist meist nicht klar, ob von Nichttöten allein oder sowohl von Nichttöten als auch von Nichtverletzen die Rede ist. Das Avashyaka-Sutra benutzt ein Wort in der klaren Bedeutung "Nicht-Töten", während es von Nicht-Verletzen, und nur von Nicht-Verletzen spricht. Wie immer der Ausdruck im Einzelfall lautete, gemeint war wohl mit den Standardvokabeln (Himsa usw.) immer beides. Des weiteren handelt die erste Pentas nur von Tieren (und da wiederum nur von Haustieren), während Menschen erst von späteren Autoren einbezogen werden. Zweifellos versteht sich die Ahimsa gegenüber Menschen in einer stark monastisch geprägten Gemeinschaft mehr oder weniger von selbst, so daß der speziellen Erwähnung keine besondere Bedeutung beigemessen wird. Im übrigen war die Ahimsa für den Laien in erster Linie eine Frage der Speisegebote. Alle erdenklichen Dinge (Fleisch, Alkohol, Honig ...) durften aus Gründen der Ahimsa nicht gegessen werden, ohne daß dabei immer ganz 1 von 4 01.04.99 11:39 Page #15 -------------------------------------------------------------------------- ________________ IERE-NOW4U :Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Avashyaka VI http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Avashyaka6.html klar war, welche Lebewesen auf welche Weise zu Schaden kommen konnten. Diese Regeln hat der frühkanonische Autor der Übertretungen an anderen Stellen seiner Laienethik berücksichtigt, ohne rechte Klarheit zu schaffen. Die spätere Tradition behandelt sie dagegen in großer Ausführlichkeit und Deutlichkeit. Der Laie entsagt im übrigen nur dem "groben" Töten, sofern er auf die spekulativen kleinsten Lebewesen (die Elemente) keine Rücksicht zu nehmen braucht. Beim Mönch schließlich (Ahimsa als 'Großes Gelübde') gibt es über die Speisegebote hinaus noch zahllose Regeln, die dem Schutz aller Lebewesen, von denen oben im Pratikramana-Abschnitt die Rede war, dienen. Der Mönch ist auf Schritt und Tritt mit der Gefahr, Lebendes zu töten, konfrontiert. Der ganze Kosmos 'lebt', aber nicht im vagen Sinne von Allbeseelung, sondern im Sinne der Präsenz unzähliger, bald systematisch, bald unsystematisch beschriebener spekulativer oder aber realer beseelter Einzelwesen. Nr. (ii) Das Gelübde Der Jaina-Laie entsagt jedweder "grober" unwahrer Rede. Die Übertretungen Falsche Anschuldigungen in aggressiver Form Falsche Anschuldigungen hinter dem Rücken des anderen Weitergabe vertraulicher Mitteilungen, die einem die Ehefrau gemacht hat Falsche Rede Urkundenfälschung. Die Übertretungen deuten bereits an, daß es um Unwahrheit im weitesten Sinne geht. Der Jaina-Überlieferung ist darüber hinaus zu entnehmen, daß die menschliche Kommunikation überhaupt auf den Prüfstand gestellt werden soll. Die einschlägigen Äußerungen gehören bald zur Behandlung des 2. Gelübdes und sind bald Teil einer allgemeinen 'Philosophie der Rede', die in gleicher Weise für den Mönch und den Laien gilt. Wichtig ist dabei unter anderem auch das Vermeiden von unfreundlicher und böswilliger Rede. Ebenso wie die Ahimsa ist diese Philosophie der Rede eng mit gleichzeitigen anderen indischen Vorstellungen verknüpft (Macht der Wahrheit in unterschiedlichen Zusammenhängen). 2 von 4 01.04.99 11:39 Page #16 -------------------------------------------------------------------------- ________________ ERE-NOW4U:Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Avashyaka VI http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Avashyaka6.html 3 von 4 Das Gelübde Der Jaina-Laie entsagt jedweder "grober" Aneignung von nicht Gegebenen. Das Gelübde Der Jaina-Laie entsagt dem Kontakt mit fremden Frauen und bescheidet sich mit seiner Ehefrau. Nr. (iii) Das Gelübde Der Jaina-Laie entsagt unbegrenztem Besitz und begrenzt seine Wünsche. Nr. (iv) Die Übertretungen Aneignung von gestohlenem Gut Beschäftigung von Dieben Nr. (v) Schmuggel (?) Verwendung falscher Maße und Gewichte Handel mit gefälschten Waren. Die Übertretungen Verkehr mit einer ... (?) Frau Verkehr mit einer ... (?) Frau Flirt / sexuelle Kontakte (mit anderen Frauen) Die ersten beiden Rubriken zielen mit unklaren Bezeichnungen auf Frauen in zwei verschiedenen sozialen Kategorien (Prostituierte... ? andere... ?). Arrangieren von Heiraten anderer Übermäßige sexuelle Begehrlichkeit. Die Übertretungen Übermäßiger Besitz von Land und Häusern Übermäßiger Besitz von Gold und Geld (?) Übermäßiger Besitz von Mensch und Vieh Übermäßiger Besitz von Geld und Getreide Übermäßiger Besitz von Metallgeräten. Von den verbleibenden sieben Teilen der zwölffachen Laienethik erwähnen wir nur das Gebot, den Mönchen Almosen zu spenden. Um die volle Bedeutung dieses Gebotes zu erkennen, müssen wir bedenken, daß der Mönch wegen der rigiden Ahimsa gänzlich auf die Versorgung durch die Laien angewiesen ist und ohne diese überhaupt nicht leben kann. Almosenspenden sichern dem Jaina-Laien im übrigen großes religiöses Verdienst, eine aus jainistischer Sicht (Ahimsa, Askese...) etwas aus dem Rahmen fallende Art von Verdienst, die einmal die zwischenmenschlichen Beziehungen zu ihrem Recht kommen läßt. Es ist kaum möglich, von den kleinen Gelübden oder den Anuvratas zu sprechen, ohne des kürzlich verstorbenen Jaina-Geistlichen ACHARYA TULSI (1914-1997) zu gedenken, der 1949 das sogenannte Anuvrat Movement ins Leben gerufen hat. Vgl.: "Anuvrat. A Code of Conduct for Building a Healthy Society" (1995). Natürlich waren die alten Textgrundlagen für die Anuvratas sehr begrenzt (wir sahen es gerade), aber ACHARYA TULSI hat in zahllosen Predigten und Veröffentlichungen seine eigene Sprache entwickelt und dabei bewußt, oder ohne es zu wissen, 01.04.99 11:39 Page #17 -------------------------------------------------------------------------- ________________ IERE-NOW4U:Bruhn :Grundzüge der Jaina-Ethik - Avashyaka VI http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Avashyaka6.html an die Sprache der Übertretungspentaden angeknüpft ("I will not wilfully kill any innocent creature /*I will not commit suicide /*I will not commit foeticide"11: 1995). Auf der einen Seite handelt es sich um einen Vorstoß mit geringer Wirkung, der mit einem "internationalist western-style peace-movement" (P. DUNDAS) verglichen worden ist. Auf der anderen Seite zeigt die Rückbesinnung auf die fünf Anuvratas den Mut zur Konkretion und zur Offenheit. Die Äußerungen des ACHARYAS werfen ein Schlaglicht auf viele aktuelle und in Indien nicht immer in dieser Deutlichkeit gesehene Probleme. 4 von 4 zurück weiter 10 Beim Studium der indischen religiösen Traditionen werden die Ethiken meist als Teil des Gesamtsystems, speziell des Erlösungsweges gesehen. Die Begrifflichkeit der indischen Traditionen bietet auch keinen besonderen Anreiz, die Ethiken aus dem Komplex der jeweiligen Lehre herauszuisolieren. Die Laienethik der Jainas nimmt hier jedoch eine Sonderstellung ein, sofern sie ein geschlossenes Korpus bildet. Insgesamt liefert die Jaina-Tradition einen guten Ausgangspunkt für systematische Studien zur indischen Ethik. 11 Dies kann eine Anspielung auf die in Indien jetzt häufige Abtreibung weiblicher Föten einschließen. 01.04.99 11:39 Page #18 -------------------------------------------------------------------------- ________________ LERE-NOW4U :Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Erlösung http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Erloesung.html Erlösung Die ausschließliche Orientierung am Avashyaka-Sutra hat uns bis jetzt den Blick für den metaphysischen Rahmen des Ganzen versperrt. Es erhebt sich die Frage, worauf alles am Ende hinausläuft. Der Jainismus ist eine Erlösungsreligion. Jeder Blick in die einschlägigen Darstellungen zeigt, daß im Jainismus wie im eng verwandten alten Buddhismus das ganze dogmatische System an die Vorstellung von der Seelenwanderung gekoppelt ist. Es wird davon ausgegangen, daß der Mensch wie jedes andere Wesen nach dem Tod wiedergeboren wird und daß diese ständigen Wiedergeburten nicht etwa wünschenswert, sondern leidvoll sind und unter allen Umständen beendet werden müssen. Das kosmische Gesetz, das den ganzen Prozeß in Gang hält, ist das Gesetz des Karman, wonach auf jede Tat Bestrafung oder Belohnung folgt: Wiedergeburt in dieser Welt oder auch im Jenseits (Himmel oder Hölle). Es gilt nun, dem Kreislauf der Geburten (gut oder schlecht) zu entrinnen, indem man das Karman, mit dem man sich beladen hat (und immer wieder neu belädt), ein für alle Mal abstößt - was auch immer der dafür vorgeschriebene Weg. Der Lohn ist dann die Erlösung. Die Wiedergeburtslehre hatte in Indien zur Zeit Mahaviras und Buddhas schon weite Kreise erfaßt. Wie der Jainismus das Problem der Erlösung von der Wiedergeburt auf seine spezifische Weise löst, ist eine andere Frage. Das worauf es im Jainismus in der Praxis ankommt, sind die größtenteils bereits erwähnten religiösen Tugenden, die gemeinindischen und die spezifisch jainistischen. All diese Anstrengungen führen dazu, daß die Seele das ihr anhaftende Karman schließlich abschüttelt. Die mit solchen Mitteln zu bewirkende Erlösung vom Kreislauf wird im Gegensatz zum Buddhismus nicht negativ beschrieben (Nirvana-Begriff), sondern mit erstaunlicher Konkretheit als Verweilen in einem genau definierten Reich der erlösten und seligen Seelen an der Spitze des Kosmos definiert. Die Jaina-Texte betonen im übrigen immer wieder, daß der Mensch auf der Suche nach Erlösung ganz auf sich selbst gestellt ist. Götter gibt es im Jainismus durchaus (die Jainas wehren sich gegen die Etikettierung des Jainismus als atheistisch), aber diese Götter greifen nicht in das menschliche Leben ein, weder als Helfer in irdischen Dingen noch als Erlösungshelfer. Die Tirthankaras ihrerseits sind logischerweise keine Götter, genießen aber hohe Verehrung (Avashyaka II) und füllen dadurch bis zu einem gewissen Grade das durch das Fehlen wirklicher Götter entstandene Vakuum. Die von den Jaina-Göttern bewohnten Himmelswelten sind im Aufbau der Welt niedriger angeordnet als die Stätte der Erlösten (in der sich auch die Seelen der erlösten Tirthankaras befinden). Sie gehören damit zum allgemeinen Kosmos, in dem das Gesetz der Wiedergeburt allem Geschehen zugrunde liegt. Insbesondere müssen die Jaina-Götter ebenso wie alle anderen Wesen auch als Menschen wiedergeboren werden, bevor sie erlöst werden können. Der Jaina-Kosmos ist gemeinindischer Vorstellung entsprechend dreifach gegliedert: Es gibt die Himmelswelten (Götter und Genien), die irdischen Welten (die Kategorien) und die unteren Welten (die Höllen mit den Sündern). All diese Regionen bilden in der Jaina-Dogmatik jedoch einen hochkomplizierten Superkosmos, bei dem nicht nur die topographischen Gegebenheiten, sondern auch die Bewohner, deren Ambiente und die von geistlichen und weltlichen Heroen beherrschte Legende (Tirthankaras und mythische Könige) Gegenstand minutiöser Beschreibung sind. Innerhalb des Jainismus existiert im übrigen eine Richtung, die ganz allgemein die Möglichkeit einer Erlösung für Frauen, das heißt die grundsätzliche Möglichkeit, daß Frauen - ebenso wie Männer - bereits in ihrer nächsten Existenz erlöst werden, leugnet. Dies sollte erwähnt werden, auch wenn wir hier auf Einzelheiten dieser Kontroverse nicht eingehen können. Eine Erlösungsreligion wie der Jainismus ist ein System, an das der Außenstehende mit bestimmten Erwartungen herantritt. Er erwartet ein gewisses Maß an Transparenz, Geschlossenheit und Abrundung sowie eine durch moderne Darstellungen geförderte Verständlichkeit. So wie die Dinge stehen, drängen sich dem Laien jedoch, je mehr er sich mit einem solchen Gegenstand beschäftigt und je mehr Page #19 -------------------------------------------------------------------------- ________________ IERE-NOW4U :Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Erlösung http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Erloesung.html Die Annahme, daß ein Mensch und ein (rein spekulatives) Wasserwesen metaphysisch gesehen denselben Status haben (und daß die Tötung eines Wasserwesens daher ebenso gravierend ist wie die Tötung eines Menschen), ist sehr hart. Gewiß, die Dogmatik unterscheidet zwischen verschiedenen Organisationsstufen, aber das betrifft nur die Lebewesen, nicht die Seelen, die in allen Fällen gleich sind. Man mag einwenden, dergleichen sei reine Theorie; aber tatsächlich wurde die Rücksichtnahme auf die kleinsten und kleinen Lebewesen für die Mönche zur zweiten Natur. Richtig ist, daß ohnehin kein Jaina auf den Gedanken kam, Menschen zu töten oder Tiere zu jagen, womit sich diese Frage grundsätzlich erledigte: Nur die untere Ebene war noch relevant, und dies wiederum speziell für den Mönch. Indessen blieb eine so extreme Position, wie sie von den Jainas vertreten wurde (totale Ahimsa mit spezieller Berücksichtigung kleiner und kleinster Lebewesen), doch aus dem einen oder dem anderen Grunde problematisch. Ein anderes Problem ist der Erlösungsweg. Obwohl der Jainismus eine Erlösungsreligion ist, erhalten wir keine klare Auskunft darüber, wie genau die Erlösung zu erlangen sei. Wir kennen nicht den Mechanismus der Karman-Beseitigung, und wir haben keine koordinierte Darstellung der allgemeinen Ethik und der Regeln für den Mönch -- wir finden nur ständig wiederkehrende Hinweise auf die Bedeutung der einzelnen Gebote. Unabhängig davon ist die Jaina-Ethik in ihrer Zusammensetzung im großen und ganzen durchaus plausibel. Wir finden Anweisungen, die sich aus dem indischen Ambiente erklären lassen (gemäßigte Ahimsa, Zölibat, Fasten usw.) und Anweisungen, die mit den speziellen Voraussetzungen des Jainismus zusammenhängen (rigorose Ahimsa und extreme Askese). Daneben finden wir aber auch die Pflicht, Almosen zu geben, die Betonung von Reue und Um-Verzeihung-Bitten und die Betonung des Rituals. Die letztgenannten Dinge sind nicht eigentlich unerwartet, aber die starke Betonung paßt doch nicht völlig in die Philosophie des Jainismus. Die Almosenspende natürlich durch die Umstände erzwungen) ist ein altruistisches Element in einer Religion, in der sonst jeder vornehmlich durch asketische Arbeit an sich selbst sein Karman zu vernichten sucht. Die Reue ist außerhalb des Jainismus selten in den indischen Traditionen, und es wäre auch ein Irrtum, anzunehmen, daß das Bereuen einer schlechten Tat im Jainismus als unmittelbarer Weg zur Karman-Vernichtung angesehen wird. Das Ritual schließlich muß als bewußter Akt angesehen werden, wenn seine Rolle innerhalb des Systems verständlich werden soll. In seiner mechanischen Form ist es naturgemäß ein Fremdkörper. zurück weiter ! von 2 01.04.99 11:55 Page #20 -------------------------------------------------------------------------- ________________ WERE-NOW4U :Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Resumee http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Resumee.html Resumee Der weiter oben gegebene Hinweis auf den ACHARYA TULSI kann erweitert werden durch die Erörterung der Frage, ob die Ahimsa eine mögliche Botschaft (message) des Jainismus für die übrige Welt sein kann. Dies einschränkungslos zu bejahen, ist schwierig. Zum einen enthält die Ahimsa, wie wir jetzt wissen, vieles, was zu unseren Vorstellungen von Gewalt und Gewaltlosigkeit kaum paßt. Die Ahimsa der Jainas entstand im alten Indien und spiegelt die Mentalität einer ganz bestimmten Zeit. Zum anderen fragt man sich, ob die Jainas als eine gewalt-freie, wenn nicht gewalt-ferne Gesellschaft (Tätigkeit in Handel, Industrie, Rechtswesen, Erziehungswesen, Medizin) und als eine Gesellschaft ohne Armut und Frustration überhaupt die nötige Ausstrahlungs- und Überzeugungskraft entwickeln können, um auch nur im engsten Umfeld etwas in Bewegung zu bringen. Es sei auch daran erinnert, daß der Anteil der Jainas an der Gesamtbevölkerung der Indischen Union unter einem halben Prozent liegt. Der ACHARYA sagt selbst: "I have a vision of the future, but I do not believe in over-optimism" (1985). Aber selbst wenn der Jainismus heute kaum in die moderne Welt hineinwirken kann, so hat er doch aufgrund seiner moralischen Disziplin und durch die "Atmosphäre" einer Kaufmannskultur12 durch die wechselnden Zeiten hindurch für seine Anhänger eine Zone sozialer und politischer Sicherheit und normale (obschon nicht notwendig harmonische) Lebensverhältnisse geschaffen. Diese historische Dimension sollte nicht übersehen werden. Des weiteren ist der Jainismus in unserem Zusammenhang interessant, weil er (deutlicher als der frühe Buddhismus) der Laien-Ethik einen so großen Stellenwert beimißt. Die Laienschaft ist fest in das religiöse System integriert, teils durch spezielle Regeln wie die Anuvratas, teils durch die allgemeinen Bemühungen, den Stand des Laien an den Stand des Mönches heranzuführen. Unter anderem proklamiert der Jainismus mit großem Nachdruck materielle Einschränkungen (das 5. Gelübde des Laien). Dabei hat er zwar den vielfachen Reichtum seiner Laienanhänger nicht verhindern können und wollen, wohl aber in der Laienschaft einen relativ puritanischen Lebensstil durchgesetzt. Angesichts explodierender materieller Ansprüche in breiten Kreisen der Gesellschaft wird die Jaina-Position damit zu einem möglichen Studienobjekt. ACHARYA TULSI sagt: "Now the Anuvrat Movement advocates the path of vows which leads to self-restraint" (1985). 'Restraint' und Puritanismus können jederzeit in die wachsende Zahl globaler Themen aufgenommen werden. Daß die Dynamik wachsender materiellen Erwartungen auch neue Formen der Kriminalität (Himsa eingeschlossen) nach sich ziehen kann, braucht kaum hinzugefügt zu werden. Das zuletzt Gesagte ist aber nur ein Beispiel. Jede Überbetonung einzelner Tugenden oder Werte, so naheliegend sie scheinen mag, verengt die ethische Perspektive. Interessant ist immer die Jaina-Ethik im Ganzen. Am Ende ergeben sich veränderte Optionen. Neben die von der Sehnsucht nach einer besseren Welt und nach einer höheren Stufe des Lebens getragene Bereitschaft, aus indischen Religionen wie dem Jainismus unmittelbar 'zu lernen', tritt die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Ethiken eben dieser Religionen. Neben den direkten Zugriff tritt deutlicher als bisher eine systematisch operierende, aber gleichwohl engagierte wissenschaftliche Betrachtungsweise. zurück weiter 12 DUNDAS 1992, S. 170. 1 von 1 01.04.99 11:55 Page #21 -------------------------------------------------------------------------- ________________ IERE-NOW4U :Bruhn Grundzüge der Jaina-Ethik - Postskript http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Postskript.html Postskript Zum Schluß noch ein Hinweis auf die Stellung des Jainismus in der indischen Gesamtkultur. Schon die hier zur Rede stehende 'praktische Literatur des Jainismus (Ethik im engeren Sinne, Mönchsdisziplin, Erlösungslehre) hat einen Umfang, den selbst die Spezialisten leicht unterschätzen. Dazu kommen die anderen dogmatisch-philosophischen Disziplinen (unter anderem Weltbeschreibung und Naturphilosophie), des weiteren Grammatik und Logik, des weiteren Legenden, Märchen und Epen. Die ältesten Zeugnisse stammen aus vorchristlicher Zeit, aber die Jaina-Literatur reicht bis in die Neuzeit hinein, z. B. im Fall der Jaina-Literatur auf Alt-Gujarati. Das Prakrit und das Sanskrit sind die wichtigsten, aber nicht die einzigen Sprachen des Jainismus. Es gibt wahre Berge von Manuskripten, und selbst die bis heute erschienenen Textausgaben würden mehrere Regale füllen. Manches liest sich mühelos, in anderen Fällen erfordert jeder Vers oder Satz gezielte Untersuchungen. Ein großer Teil der Literatur hat überdies Parallelen in der nicht-jainistischen indischen Literatur, und auch das will berücksichtigt werden. Die Jaina-Kunst reicht bis in die Anfänge unserer Zeitrechnung zurück. Die Tirthankara-Darstellungen sind am besten bekannt: Der meditierende Tirthankara erscheint stehend oder sitzend, nackt oder seltener) bekleidet. Hier sieht alles ganz einfach aus (der sitzende Tirthankara ist überdies dem sitzenden Buddha ähnlich). Aber die Ikonographie der Tirthankaras ist nicht so einheitlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Außerdem bilden Darstellungen von Jaina-Gottheiten der einen oder der anderen Art in der Jaina-Kunst einen zusätzlichen Themenkreis. Wer diese Kunst zu Hause kennen lernen will, findet in vielen Museen für asiatische Kunst Jaina-Miniaturen mit der Darstellung von Heiligenlegenden, vornehmlich solchen, die sich um die Tirthankaras ranken. Er findet auch mehr oder weniger alte Jaina-Bronzen (meist Tirthankara-Darstellungen). Verschiedene in letzter Zeit erschienene Bildbände zur Jaina-Kunst ergänzen solche Informationsmöglichkeiten auf ihre Weise. Etwas ganz anderes ist das Erlebnis der Jaina-Kunst im Lande. Zeugnisse dieser Kunst finden sich fast auf dem gesamten indischen Subkontinent. In Khajuraho gibt es nicht nur Hindu-Tempel, sondern auch Jaina-Tempel; in Ellora gibt es nicht nur Höhlentempel der Hindus, sondern auch solche der Jainas; in Tamilnadu finden sich nicht nur Felsreliefs mit Darstellungen von Hindu-Gottheiten, sondern auch solche mit Darstellungen von Tirthankaras. Überaus eindrucksvoll und einzig in ihrer Art sind zudem die auf Hügeln angelegten Tempelstädte der Jainas, vornehmlich Shatrunjaya (bei Palitana) und Girnar (bei Junagadh), beide auf der Halbinsel Kathiawar im Bundesland Gujarat. Insgesamt überschreitet der Jainismus unser Orientierungs- und Vorstellungsvermögen. Er zeigt eine explosionsartige Ausdehnung anfangs einfacher dogmatischer Prinzipien zu einem in seinen Details nicht mehr überschaubaren theoretisch-praktischen System. Zugleich entwickelt er sich zu einer Teilkultur innerhalb der indischen Gesamtkultur. Indem er diese teils übernimmt und teils in seinem Sinne weiterentwickelt, liefert er einen quantitativ und qualitativ bedeutsamen Beitrag zur indischen Welt. Der Jainismus ist ein Reich für sich, ein religionsgeschichtlicher und kultureller Mikrokosmos. Er steht für die Ahimsa und anderes, aber die Realität ist hier wie sonst vielschichtig, unseren Denkgewohnheiten wenig entgegenkommend und komplexer, als es die dünne Decke der Abstraktionen erwarten läßt. zurück weiter 1 von 1 01.04.99 11:55 Page #22 -------------------------------------------------------------------------- ________________ SERE-NOW4U :Bruhn Grundzuge der Jaina-Ethik - Literatur http://www.here-now4u.de/ger/spr/religion/Bruhn/Literatur.html Literatur * A. L. BASHAM, Kapitel IV-V (Jainismus) und VI (fruher Buddhismus). In: W. TH. DE BARY, Sources of Indian Tradition. Columbia University Press, New York 1958. * COLETTE CAILLAT, Le Jinisme. Tirage a part. 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[Kurzgefasste Darstellung des Jainismus auf S. 25 - 53.] * PRATAPADITYA PAL, The Peaceful Liberators. Jain Art from India. Los Angeles County Museum of Art 1994. * N. SHANTA, La voie jaina. Histoire, spiritualite, vie des ascetes pelerines de l'Inde. Paris 1985. Unsere LEUMANN-Zitate entstammen einem Werk der reinen Fachliteratur: ERNST LEUMANN, Ubersicht uber die Avasyaka-Literatur. Hamburg 1934. zuruck weiter ! von 1 01.04.99 11:55