Book Title: Vorattische Philosophie
Author(s): Thales Von
Publisher: Thales Von
Catalog link: https://jainqq.org/explore/269265/1

JAIN EDUCATION INTERNATIONAL FOR PRIVATE AND PERSONAL USE ONLY
Page #1 -------------------------------------------------------------------------- ________________ $9 THALES VON MILET Antike Zeugnisse uber Leben und Lehre; Fragmente. H. DIELS/W. KRANZ: Die Fragmente der Vorsokratiker (griech. und dtsch. 91959) Kap. II (Nachtrage in Bd. I und III). Chronologie. F. JACOBY: Apollod. Chron., 175-183. FGTH 244 F 28.-G. CARLOTTI: Sulla cronologia di T. e di Anassimene. G. crit. Filos. ital. 8 (1927) 161-169. - E. BODRERO: La doppia personalita di T. Arch. Filos. 1 (1931) 3-19. Abkurzungen. DL = Diogenes Laertios, DK = Diels/Kranz, Fragm. Vorsokr.. 1. Lebenszeit. Den Anhaltspunkt fur die Bestimmung der Lebenszeit des Thales (Dans) bildete schon im Altertum die beruhmte Voraussage der Sonnenfinsternis, die wahrend der Schlacht zwischen Lydern und Medern am Fluss Halys eintrat. Die moderne Forschung findet die Finsternis vom 28. Mai 585 am besten zu den antiken Nachrichten uber die Lebenszeit des Thales passend. APOLLODOR datiert die Finsternis auf Olymp. 48, 4 (585/84; DK As), also ein Jahr spater, wahrend EUSEBIOS sie ein weiteres Jahr spater legt (DK 11 A 5). Seiner Gewohnheit gemass hat APOLLODOR die Blute (axun = 40. Lebensjahr) des Thales auf dieses Jahr verlegt und demnach als Geburtsjahr Olymp. 39, 1 (624) errechnet. Bei diesem Ansatz muss man allerdings mit DIELS einen Uberlieferungsfehler bei DIOGENES LAERTIOS (1 37/38: DK U AI) annehmen und statt z lesen. Das Todesjahr setzt APOLLODOR auf Olymp. 58 (548-545), womit Thales ein Alter von 78 Jahren, d. h. fast das Vollalter von 80 Jahren (= doppelte axun, vgl. F. Boll, Lebensalter. Neue Jb. klass. Altertum 31 (1913) 102) erreicht hatte. Nach DEMETRIOS VON PHALERON fand die Liste der sieben Weisen, in die Thales aufgenommen wurde, unter dem Archon Damasias (582/1) offizielle Anerkennung. Demetrios verlegt bei diesem Ansatz das Ereignis in das Epochejahr der Erneuerung der Pythischen Spiele. Ebenso ist APOLLODORS Ansatz des Todesjahres durch die Eroberung von Sardes bestimmt. 2. Herkunft. Der Name von Thales' Vater Examyes ist karisch, der seiner Mutter Kleobuline griechisch. Die seit HERODOT (I 170: DK 11 A 4) weiter ausgesponnenen antiken Nachrichten uber phonikische Herkunft (DLI 22: DK 11 A 1) mogen der schon fruh beginnenden antiken Neigung entsprungen sein, die griechische Wissenschaft auf orientalische Einflusse zuruckzufuhren. Die tatsachlichen Beziehungen des Thales zu Agypten und Phonizien mogen die Legendenbildung uber seine Herkunft gefordert haben. 3. Reisen. Spate Nachrichten, die allerdings wohl auf EUDEMOS zuruckgehen, lassen Thales langere Zeit in Agypten verweilen oder wenigstens anlasslich einer Reise die Kenntnis der Geometrie und die Anregung seiner Lehre vom Wasser als dem Urprinzip von dort nach Milet bringen (Aetios I 3, I; Prokl. In Euclidem p. 65 Friedl.; Plut. De Is. et Os. 34 p. 364 D:DK IA). Reisen nach Agypten gehoren zum traditionellen Bild der fruhen griechischen Denker. Bei den engen Beziehungen, die Milet zu seiner Kolonie Naukratis unterhielt, ist jedoch die Tatsache einer agyptischen Reise des Thales nicht auszuschliessen, zumal Anregungen, die er dort erhielt, sehr wahrscheinlich sind. 4. Philosophenlegende. Schon PLATON berichtet die Geschichte von der thrakischen Magd, die den Weisen verspottet, weil er sich um die Vorgange am Himmel kummere, das Nachstliegende aber nicht beachte (Theait. 174 a : DK 11 A 9). Bereits im 4. Jahrhundert ist also die Philosophie mit dem Vorwurf der Lebensuntuchtigkeit behaftet. Schon ARISTOTELES lasst den Thales gegen diese Legende den Beweis erbringen, dass er viel Geld verdienen konnte, wenn es ihn interessierte (Polit. A 1, 1259 a 6: DK 11 A 10). Der Weise ist also nicht unpraktisch, nur ist ihm die Wahrheitserkenntnis wichtiger. Wie die meisten fruhen Denker ist Thales jedenfalls kein weltabgewandter Denker, sondern hat in den praktischen Wissenschaften und im politischen Leben seiner Vaterstadt etwas geleistet. 3. Politische und praktische Tatigkeit. Dem Rufe praktischer Weisheit entspricht die Aufnahme des Thales in die Zahl der sieben Weisen (vgl. S.). Er soll klarsichtig die grossere Schlagkraft der Meder vorausgesehen und darum den Griechen geraten haben, sich nicht mit Kroisos zu verbunden. Ferner soll er vorgeschlagen haben, die gesamten jonischen Stadte zu einer politischen Gemeinschaft mit Teos als Mittelpunkt zusammenzufassen (Herod. I 170; DL I 25: DK 11 A 4; A 1). Die Erzahlung von der Ableitung des Halys berichtet Page #2 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 42 VORATTISCHE PHILOSOPHIE HERODOT mit Zuruckhaltung (I 75: DK 11 A 6). AETIOS lasst Thales die jahrliche Niluberschwemmung durch die Windstauung des Wassers erklaren, eine Theorie, die bereits HERODOT neben anderen erwahnt (Aetios IV 1,1; Herod. II 20: DK 11 A 16). 6. Schriften. Obwohl dem Thales eine Reihe von Werken mathematischen und astronomischen Inhalts zugeschrieben wurden, bezweifelte schon das Altertum, dass er uberhaupt etwas geschrieben habe (Simpl. Phys. p. 23, 29 Diels; DL I 23; Suda s.v.: DK 11 B 1). Das ihm von SIMPLIKIOS zugeschriebene Werk uber einen nautischen Sternkalender wird von DIOGENES LAERTIOS dem Samier Phokos zuerkannt. Weder ARISTOTELES noch seine Schuler THEOPHRAST und EUDEMOS scheinen ein Werk von ihm in Handen gehabt zu haben oder zu kennen. Die Berichte, die Aristoteles uber die kosmologischen Ansichten des Thales gibt, stammen, wie Aristoteles selbst sagt, aus zweiter Hand. = 7. Mathematik. Schon fur HERODOT ist Agypten das Ursprungsland der Geometrie, die dort der Landvermessung nach der jahrlichen Flut diente (II 109). In seinem Werk uber die Geschichte der Geometrie und Arithmetik hat EUDEMOS den Ursprung der Geometrie den Agyptern, den der Arithmetik den Phonikern zugesprochen (nach Prokl. In Euclidem p. 65, 3 ff. Friedl. : DK 11 A 11) und dem Thales nicht nur die Ubertragung, sondern auch eine Erweiterung des geometrischen Wissens der Agypter zuerkannt. HIERONYMOS VON RHODOS (s. S.), der selbst wahrscheinlich EUDEMOS folgt (doch hatte DIOGENES LAERTIOS offenbar nur dessen Geschichte der Astronomie, nicht aber die Geschichte der Geometrie und Arithmetik zur Verfugung), schreibt Thales eine einfache Methode zur Messung der Hohe der Pyramiden zu. Man misst die Lange des Schattens zu einer Tageszeit, da der Schatten eines Menschen genau seiner Korpergrosse entspricht (DL I 27; Plin. Nat. hist. XXXVI 82: DK 11 A 1; A 21). PLUTARCH (Conv. sept. sap. 2 p. 147 A: DK 11 A 21) verallgemeinert zu der Proportion << Lange des Schattens irgendeines messbaren Gegenstandes: Hohe dieses Gegenstandes Pyramidenschatten : Pyramidenhohe>>. Ebenso berichtet EUDEMOS (Prokl. In Euclidem p. 352 Friedl.: DK 11 A 20) eine Methode zur Messung der Entfernung von Schiffen auf hoher See. Mit Hilfe eines einfachen Theodoliten stellt man den Winkel zwischen der Horizontalen und der Sichtlinie fest und kann dann, wenn der Abstand des Auges von der Meeresoberflache bekannt ist, die Entfernung des Schiffes errechnen. Thales mag durchaus diese beiden praktischen Methoden gekannt haben, aber Eudemos unterlag sicher dem gleichen Irrtum wie die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, die den Agyptern die Kenntnis des pythagoreischen Lehrsatzes zuschrieb, weil sie aus der Seitenproportion 3:4:5 ein rechtwinkliges Dreick herzustellen wussten. So hat Eudemos dem Thales die grundsatzliche Kenntnis des Kongruenzsatzes zugesprochen. Im Anschluss an ihn spricht PROKLOS dem Thales die Kenntnis von vier wichtigen geometrischen Grundsatzen zu (die ausdruckliche Berufung auf Eudemos erfolgt nur bei den beiden letzten): 1. die Halbierung des Kreises durch den Durchmesser (p. 157, 10 Friedl.); 2. die Gleichheit der Basiswinkel eines gleichschenkligen Dreiecks (p. 250, 20 Friedl.); 3. die Gleichheit der Scheitelwinkel (p. 299, 1 Friedl.); 4. die Kongruenz von Dreiecken bei Gleichheit einer Seite und der beiden anliegenden Winkel (p. 352, 14 Friedl. DK 11 A 20). PAMPHILOS erkennt ihm die Einsicht zu, dass ein dem Halbkreis einbeschriebenes Dreieck rechtwinklig ist (Lehrsatz des Thales DL I 24: DK 11 A 1). Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Thales von den Agyptern eine Reihe von praktischen mathematischen Kenntnissen ubernahm, nicht aber, dass er bereits Page #3 -------------------------------------------------------------------------- ________________ S 9 THALES die theoretischen Grundlagen solcher Satze besass (vgl. Burnet, Early Greek philos. 45, Ubers. 35). 8. Astronomie. Ahnlich mussen wir auch die Nachrichten uber die astronomischen Kenntnisse des Thales einschatzen. An der Tatsache, dass er die Sonnenfinsternis voraussagte, die am Tage der Schlacht zwischen Lydern und Medern eintrat, ist nicht zu zweifeln. Dabei handelt es sich naturlich nicht um eine genaue Angabe von Tag und Stunde. Nach HERODOT (I 74:DK 11 A s) gab Thales das Jahr als Grenze an, in dem sie tatsachlich erfolgte. Ohne Zweifel verfuhr Thales auch hier rein empirisch und stutzte sich auf die von den Babyloniern auf Grund von Beobachtungen, die spatestens seit 721 aufgezeichnet wurden, festgestellten Finsternisperioden. Wenn EUDEMOS (Aetios II 24, 1; Derkylides ap. Theon Smyrn. p. 198, 14 Hiller : DK 11 A 17 a; 11 A 17) ihm die Kenntnis der wahren Ursache zuschreibt, so unterlag er dem gleichen Fehler wie bei seinen Nachrichten uber die mathematischen Entdeckungen des Thales. Dagegen mag die Feststellung der Schwankungen in den Abstanden zwischen den Solstitien und die Beschreibung des Sternbildes des kleinen Baren sowie der Hinweis auf seine navigatorische Bedeutung wirklich auf Thales zuruckgehen (Kallimachos lambus fr. 191, 52 ff. Pfeiffer : DK 11 A 3a), auch Beobachtungen der Hyaden und Pleiaden wurden ihm zugeschrieben (Schol. in Aratum 172; Plin. Nat. hist. XVIII 213: DK 11 B 2; 1 A 18). Wenn dagegen DIOGENES LAERTIOS (I 24: DK 11 A 1) ihm eine Beschreibung der Sonnenbahn von Wendepunkt zu Wendepunkt, die Feststellung der Proportionen von Sonne und Monddurchmesser zu ihren Bahnachsen, eine detaillierte Kenntnis des Tierkreises (auch dem Pythagoras zugeschrieben) oder der Neigung des Tierkreises zuspricht, so sind damit zweifellos Erkenntnisse, welche die Astronomie des 5. Jahrhunderts erwarb, dem ersten griechischen Astronomen beigelegt worden. Dazu passt, dass EUDEMOS die Entdeckung der Neigung des Tierkreises dem Oinopidos von Chios (Ende 5. Jh.) zuschrieb (Theon Smyrn. p. 198, 14 Hiller). Fur Thales wurde diese Erkenntnis ein Wissen um die Kreisbahn von Sonne und Mond voraussetzen. Der Gedanke einer frei schwebenden Erde tritt uns aber erst bei Anaximander entgegen. Es sind also empirische astronomische Beobachtungen, was sich hinter der von PLATON und ARISTOTELES erwahnten Astrologie des Thales verbirgt, ebenso wie seine mathematischen Kenntnisse sich auf praktisch anwendbare Methoden beschrankten. 9. Kosmologie. Unsere Kenntnis der Kosmologie des Thales verdanken wir ARISTOTELES. Dieser berichtet, dass Thales sich die Erde in Gestalt einer runden, flachen Scheibe, auf dem Wasser schwimmend, dachte (De caelo B 13, 294 a 28 : DK 11 A 14). Ferner reiht er bei seiner Ubersicht uber die geschichtliche Entwicklung der Lehre von den vier Ursachen Thales unter diejenigen ein, die nur ein materielles Prinzip angenommen haben, und zwar habe er als Urstoff das Wasser angesehen (Met. A 3, 983 b 6: DK 11 A 12). Wenn Aristoteles gegen die Vorstellung von der auf Wasser schwimmenden Erde einwendet, dass Thales auch fur das Wasser eine Unterlage hatte annehmen mussen, so zeigt das, wie sehr Aristoteles die Meinungen der Fruhzeit seinen eigenen Fragestellungen unterwirft. Wie fur die homerische Vorstellung die Erde ihre Wurzeln tief hinunter erstreckt und damit die Frage nach einem noch tiefer Liegenden nicht gestellt wird, so ist fur Thales die unauslotbare Tiefe des die Erde tragenden Wassers Page #4 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 44 VORATTISCHE PHILOSOPHIE Grund genug. Nach jungsten Forschungen (U. Holscher) kann kein Zweifel sein, dass diese Vorstellung von dem die Erde tragenden Wasser aus agyptischen oder sonstigen orientalischen (babylonischen Quellen stammt. Aus der zweiten Feststellung des Aristoteles konnen wir mit Sicherheit als die Ansicht des Thales entnehmen, dass er die Erde aus dem Urwasser auftauchen oder sie aus ihm sich bilden liess. Eine solche Nachricht war fur Aristoteles Grund genug, Thales so zu verstehen, dass er alles aus dem Wasser werden liess. Der von Aristoteles verwendete Begriff des Prinzips (aorn) gehort mit Sicherheit erst seiner Darstellungsweise an. Dass die Grunde, die Aristoteles fur die Lehre anfuhrt, dass namlich alles aus Wasser entstanden sei und das Wasser das Prinzip von allem sei, nicht von Thales stammen, wie das auf Grund des Aristotelischen Berichte schon im Altertum angenommen wurde (vgl. Theoph. Phys. op. fr. 1), sagt Aristoteles selbst mit aller wunschenswerten Deutlichkeit. <> (Met. A 3, 983 b 22: DK 11 A 12). Es ist eine ansprechende Vermutung, dass diese physiologischen Beobachtungen entstammende Begrundung auf Hippon (s. S. :-) zuruckgeht (Burnet a. a. O. 49, Ubers. 38; Zeller-Nestle, Philos. d. Gr. IC 262 Anm. 1). THEOPHRAST gibt noch als weiteren Grund an, dass das Tote vertrockne. Wahrscheinlich konnen wir diese Uberlegung auf Grund des Menon Anonymi Londin. XI 22 (DK 38 A 11) ebenfalls dem Hippon zusprechen. Wenn die Argumente des Aristoteles aus Hippon entnommen sind, wurde man freilich auch eine Erwahnung dieses Arguments erwarten, und so ist es vermutlich besser, die Aristotelischen Begrundungen als eigene Uberlegungen des Aristoteles zu verstehen. Unser Wissen, dass das Weltbild des Thales von kosmologischen Vorstellungen: Agyptens beeinflusst ist, gebietet uns auch Vorsicht gegenuber der Aristotelischen Deutung des Wassers als des Urprinzips. Es mag sein, dass Thales lediglich lehrte, die Erde habe sich aus dem Wasser zur festen Masse gebildet, ohne deshalb das Wasser als das eigentlich Seiende und Bleibende in allem Wechsel zu behaupten. Eine weitere Nachricht des SENECA (Nat. quaest. III 14: DK 11 A 15), die wahrscheinlich uber Vermittlung durch POSEIDONIOS auf THEOPHRAST zuruckgeht, unterrichtet uns, dass Thales die Erdbeben als Schwankungen der auf dem Wasser schwimmenden Erde erklarte. Weiter erfahren wir durch ARISTOTELES, dass nach Thales der Magnet Seele besitzt, weil er Eisen bewegt, und dass alles voll von Gottern sei (De anima A 2, 405 a 19; AS, 411 a 7: DK 11 A 22). Eine Bemerkung bei DIOGENES LAERTIOS lasst uns schliessen, dass der Sophist HIPpias in diesem Punkte die Quelle des Aristoteles war. Da die Bemerkung, dass alles voll von Gottern sei navra ninon tenv), auch bei PLATON sich findet (Nom. X 899 b), konnen wir hier vielleicht sogar einen wortlichen Ausspruch des Thales vermuten. Die Bemerkung des ARISTOTELES, dass Thales die Seele als bewegende Kraft verstanden habe (xwvNTIXOv ti), ist wohl richtig. Er beschrankt dann die Beseelung nicht auf den Menschen, sondern dehnt sie auf alles Lebende aus und bezieht den Magneten mit in den Bereich des Page #5 -------------------------------------------------------------------------- ________________ S 9 THALES - SIO ANAXIMANDER Beseelten, d. h. mit bewegender Kraft Ausgestatteten, ein. Als voll von bewegenden und lebenspendenden Kraften ist dann alles voll von Gottern. Mehr durfen wir aber aus diesen Satzen nicht herauslesen. Sie besagen weder etwas fur einen Pantheismus noch fur einen Dualismus von Materie und Geist, wie es die stoische Interpretation wollte (Cic. De nat. deor. I 10, 25). So sehr das Denken des Thales noch mythischen Vorstellungen verpflichtet ist, ist es doch ein erster Schritt zu einem mit empirisch und rational nachprufbaren Mitteln gewonnenen Weltverstandnis. Sekundarliteratur Gesamtdarstellungen, allgemeine Studien. Ed. ZELLER/W. NESTLE: Die Philos. der Griechen in ihrer gesch. Entwicklung I (1920). - J. BURNET: Early Greek philos. (Lond. 19--; dtsch. 1913). - A. REY: Projet d'article pour le dictionnaire hist. des sci. dans leur rapport avec la philos.: T. Rev. Synthese (sect. synthese generale) 6 (1933) 53-56. - W. NESTLE: T. Paulys Realencyclop.class. Altertumswiss. VA, 1 (1934) 1210, 50-1212, 17. -S. W.KLINE: The first philosopher of the western world. Class. J. (Menasha) 35 (1939) 81-85.-B. SNELL: Die Nachrichten uber die Lehren des T. und die Anfange der griech. Philos. und Lit.gesch. Philologus 96 (1944) 170-182. - S. MOSER: Der Ansatz der Philos. bei T. Anz. Altertumswiss. 2 (1949) 93-95.- M. MARCOVICH: Milesiaca. 1: T. 2: Anaximandro. 3: Anaximenes. Episteme (Caracas) 2 (1958) 133-215. - D. R, DICKS: T. Class. Quart. 53 (1959) 294-309. - E. STAMATIS: Uber T. Altertum 6 (1960) 93-103. - J.L. GARCIA VENTURINI: Aporte para una justipreciacion de T. Sapientia (La Plata) 16 (1961) 144-151. - ST. H. ROSEN: T.: the beginning of philos., in: Essays in philos. (Philadelphia 1962). Leben. B. WISNIEWSKI: La morale de T. G. ital. Filol. 12 (1959) 214-217. Mathematik, Astronomie. A. FRAJESE: T. e le origini della geometria greca. Boll. Un. mat. ital. 4 (1941) 49-60. - L. ALFONSI: T. e l'Egizio. Riv. Filol. class. NS 28 (1950) 204-222. - S. OSWIECIMSKI: T.: the ancient ideal of a scientist, in: Charisteria Thaddeo Sinko ... oblata (Warschau =Bratislava 1951) 229-253.-A. WASSERSTEIN: T.' determination of the diameters of the sun and moon. J. hellen. Stud. 75 (1955) 114-116; 76 (1956) 105. Kosmologie. P. GUERIN: L'idee de justice dans la conception de l'univers chez les premiers philosophes grecs, de T. a Heraclite (Paris 1934). - R. MONDOLFO: La genesi e i problemi della cosmologia di T. Riv. Filol. class. 63 (1935) 145-167. - A. MADDALENA: L'antitesi di T. (Padova 1937), in: Mem. Accad. Sci. Padova 15 (1936/37) 53. - U. FILIPPI: Le magneisme de T. a Pierre de Maricourt. Rev. thom. 51 (1951) 489-495. - TH. BALLAUF: Vom Ursprung. Interpretationen zu T.' und Anaximanders Philos. T. Philos. 15 (1953) 18-70. - U. HOLSCHER: Anaximander und die Anfange der Philos. Hermes 81 (1953) 257-277, 385-418.-C. CARENA: La cosmologia di T. e la coppa solare dei poeti jonici. Riv. rosmin. Filos. Colt. 56 (1962) 22-32. Vergleichende Studien. E. SCHRODINGER: Das Problem der Natur seit T., in: Eranos-Jb. 16 (Zurich 1948) -... - G. E. BARIE: L'esigenza dell'unita da T. a Platone. Acme 2 (1949) 25-86. - Th. BALLAUF: Vom Ursprung. Interpretationen zu T.' und Anaximanders Philos. T. Philos. 15 (1953) 18-70. - T. V. SMITH: De T. a San Agustin. Guia y lecturas de la filos. griega, romana y cristiana primitiva. Trad. de S. Ferrari (Buenos Aires 1955). - G. GALLI: Da T. al <> di Platone, in: Bibl. filos. pedagog. del Saggiatore (Torino 1956). $10 ANAXIMANDROS VON MILET Antike Zeugnisse uber Leben und Lehre; Fragmente. H. DIELS/W. KRANZ: Die Fragmente der Vorsokratiker (griech, und dtsch. '1959) Kap. 12 (Nachtrage in Bd. I und III). Chronologie. F. JACOBY: Apollod. Chron. 189-192. FGTH 244 F 29. Bildnisse. Relief, Fragment, Thermenmuseum Rom, Uberschrift AJNAEIMANAPOY, von einem hellenistischen Kunstler frei erfunden (HELBIG, Fuhrer 113 Nr. 1408). Doch vgl. Page #6 -------------------------------------------------------------------------- ________________ VORATTISCHE PHILOSOPHIE auch U. VON WILAMOWITZ-MOELLENDORFF, Berl. Sitzb. (1926) 126'. - (Zeitgenossische milesische Gewandstatue stellt den Philosophen nicht dar.) Abkurzungen. DL = Diogenes Laertios, DK = Diels/Kranz, Fragm. Vorsokr.'. 1. Leben. Anaximanders (Avaciuavdos) Lebenszeit setzen wir mit ziemlicher Sicherheit in die Jahre zwischen 610/9 und 546/5. APOLLODOR hatte wohl aus der ihm noch vorliegenden Schrift des Anaximander sichere Anhaltspunkte, sein Lebensalter fur 547/6 (Ol. 58, 2) mit 64 Jahren anzugeben (Diels, Neue Jb. klass. Altertum si (1923] ; Burnet, Early Greek philos. 53, Ubers. 42). Dass Anaximander schon von THEOPHRAST (DL II 1-2: DK 12 A 1) als Schuler und Nachfolger des Thales bezeichnet wird, braucht nicht mehr zu bedeuten, als dass er dessen jungerer Landsmann war. Er soll eine Kolonie in Apollonia am Schwarzen Meer begrundet haben (Aelian III 17: DK 12 A 3), und ebenso werden Beziehungen zu Sparta berichtet (Cic. De div. I 50, 112: DK 12 A sa). 2. Schriften. Das Werk des Anaximander galt als die alteste philosophische Schrift der griechischen Literatur (Themist. Or. 36 p. 317 Dindorf). Es wurde im Original oder in einer gekurzten Fassung noch von APOLLODOR gelesen, wahrend SIMPLIKIOS es nicht mehr gekannt zu haben scheint. Als Titel wird von spateren, wie bei allen Werken der altesten Philosophen, Uber die Natur>> (IIegi puoems) angegeben. Die im Suda (DK 12 A 2) erwahnten weiteren Werke verweisen auf geometrische und astronomische Interessen, sind aber wohl kaum als Zeugnisse einer ausgedehnten literarischen Tatigkeit zu werten, sondern konnen ebenso gut Abschnitte des Hauptwerks bezeichnen. 3. Astronomie. Der Gnomon (ein einfaches Instrument zur Bestimmung von Hohe und Stellung der Sonne mit Hilfe des Schattens) ist nicht (wie DL II 1-2 behauptet) von Anaximander erfunden, sondern nach dem Zeugnis HERODOTS von den Babyloniern ubernommen (Herod. II 109: DK 12 A 4). Dagegen soll Anaximander eine runde Erdkarte gefertigt haben, auf der die bekannten drei Erdteile ungefahr die gleiche Flache einnahmen (Agathemeros I 1; Strabo I p. 7 Causab.: DK-12 A 6). Sie wurde von Hekataios (s. S. et verbessert und mag den von HERODOT beschriebenen (jonischen) Erdkarten geglichen haben. Dagegen ist die Zuschreibung eines Himmelsglobus (DL a. a. O.) unwahrscheinlich. Sicher mussen wir starke geographische und astronomische Interessen bei Anaximander annehmen. Diese werden auch in seiner Weltentstehungstheorie sichtbar. Die Erde ist gleich einer zylindrischen Saule, deren Hohe ein Drittel der Breite ausmacht (Ps. Plut. Strom. 2; Hippol. Ref. I 6, 3: DK 12 A 10; 12 A 11). Die von den Menschen bewohnte Oberflache erscheint dann wie eine flache Scheibe (vgl. Thales, S. --). Die kuhne Neuerung des Anaximander liegt aber darin, dass er keine die Erde tragende Unterlage mehr braucht, sondern sie frei in der Mitte des Raumes oder genauer wohl im Zentrum der Ringe der Himmelskorper schweben lasst. Sie hat wegen des gleichen Abstands nach allen Seiten keinen Grund, sich von der Mitte zu entfernen. Diese Erklarung des ARISTOTELES (De caelo B 13, 295 b 10:DK 12 A 26) liegt wohl im Sinne des Anaximander. Mit dieser freischwebenden Lage der Erde ist die Moglichkeit gegeben, die Gestirnbahnen als Kreise aufzufassen. Anaximander versteht die Gestirne als feurige Rader, die von Luft eingeschlossen sind. Durch eine Offnung in der umhullenden Luft entweicht das Feuer und lasst uns den Feuerkreis als Stern erscheinen. Durch die Bewegung dieser Feuerrader sind die Gestirnumlaufe, durch gelegentliche Verstopfungen der Offnungen die Sonnen- und Mondfinsternisse und die Mondphasen erklart. (Ein Grund fur diese Verstopfungen wird nicht angegeben.) Die Grosse der Page #7 -------------------------------------------------------------------------- ________________ S 10 ANAXIMANDER Sonne ist gleich der der Erdoberflache. Die Durchmesser der Feuerrader werden in Vielfachen des Erddurchmessers angegeben: Die Sternrader haben den neunfachen', das Rad des Mondes den achtzehnfachen und das der Sonne den siebenundzwanzigfachen (nach Aetius II 20, 1:DK 12 A 21 den achtundzwanzigfachen) Durchmesser der Erde (Hippol. Ref. I 6, 4-5: DK 12 A 11). Anaximander gibt also dem Kosmos eine mathematische Struktur. Die Schwierigkeit, die eine Erklarung der Planetenbahnen und der Fixsternsphare nach der Theorie des Anaximander macht (wir wissen ubrigens nichts uber eine Unterscheidung, die er zwischen den Sternen gemacht hatte), lassen sich am besten durch die Annahme beheben, dass Anaximander jedem Planeten und den Fixsternen ein gleich grosses Rad, aber von verschiedener Neigung und Umdrehungsgeschwindigkeit zuteilte. Auch dann ist es aber noch nicht moglich, die Bahnen der Zirkumpolarsterne, die nicht untergehen, mit Hilfe der Radertheorie zu erklaren. Wir wissen jedoch nicht, ob Anaximander diese Probleme beachtete. Der von AETIOS (II 16, 5:DK 12 A 18) erwahnte Begriff von Kugeln (opaigai) passt kaum zu der Radertheorie. (Uber Burnets Annahme [a. a. O. 69, Ubers. 55), dass die ausserhalb der Milchstrasse gelegenen Fixsterne zahllose Welten seien, von denen jede eine feurige Umhullung besitze, s. unten S. - .) Dass die astronomischen Vorstellungen Anaximanders Einflusse von Babylon her erfahren haben, zeigte BURKERT (---). * Die Drehung der himmlischen Kreise wird durch Wind verursacht, dessen Ursache der infolge der Sonnenwarme aufsteigende Wasserdampf bildet (Arist. Meteor. B 1, 353 6 6; Alexander in Meteor. p. 67, 3ff. [s. auch Arist. Meteor. B 2, 355 a 21: DK 64 A 9]). Anaximander gibt also eine physikalische Ursache der Bewegung an. ALEXANDER VON APHRODISIAS schreibt unter Berufung auf THEOPHRAST auch die bei ARISTOTELES folgende Nachricht dem Anaximander und dem Diogenes von Apollonia zu, dass die Erde immer weiter austrockne und schliesslich das Meer verschwinde. Diese Lehre lasst sich allerdings schwer in unser Bild der Kosmologie Anaximanders einfugen. Es ist kaum anzunehmen, dass ALEXANDER irrtumlich einen nur auf Diogenes gehenden Bezug auch auf Anaximander ausdehnte, da wir bei ARISTOTELES die Lehre von der fortschreitenden Austrocknung der Erde nur fur Demokrit erwahnt finden (Meteor. B 3, 356 b 10, vgl. S. ). Moglicherweise handelt es sich hier um ein Stuck einer kyklischen Theorie von Weltuntergang und Weltentstehung, die gut zu Anaximanders Lehre von den unzahligen Welten passen wurde. 4. Entstehung des Lebens. Anaximander versucht auch, eine rationale Theorie uber die Entstehung des Lebens zu geben (Aetios V 19, 4; Ps. Plut. Strom. 2; Plut. Quaest. conv. VIII 8,4 p. 730 E; Hippol. Ref. I 6, 6; Censor. De die nat. 4, 7: DK 12 A 30; 12 A 10; 12 A 30; 12 A 11; 12 A 30). Wenn er alles Leben im Wasser unter dem Einfluss der Sonne entstehen lasst, so mogen ihn Beobachtungen uber das Kleinleben im austrocknenden Meeresschlamm angeregt haben. Auch ARISTOTELES nimmt ja unter solchen Umstanden Selbstzeugung an. Auch die Landtiere entstanden im Wasser und waren von stacheligen Schutzhullen umgeben, die sie abwarfen, um noch einige Zeit auf dem Trockenen weiterzuleben. (Das vieldiskutierte petassiavai im Bericht Diese Angabe fehlt in unseren Quellen, lasst sich aber aus den uberlieferten Distanzen von Mond und Sonne und der Nachricht, dass die Sterne der Erde am nachsten standen, erschliessen. Page #8 -------------------------------------------------------------------------- ________________ VORATTISCHE PHILOSOPHIE des Aetios wird wohl im Sinne des fruhen Gebrauchs des Prafixes ueta- als Veranderung der Lebensweise zu verstehen sein.) Da der Mensch im Unterschied von den Tieren lange Zeit pflegebedurftig ist, wurde er nach Meinung des Anaximander im Schosse von Fischen so lange ausgetragen, bis er sich mit gegenseitiger Hilfe selbst erhalten konnte. Dass dieser Fisch der Hai gewesen sei, wie manche moderne Darstellungen sagen, ruhrt von einem Missverstandnis des bei PLUTARCH (auf Grund der schonen Konjektur von Emperius ist yameol statt des unverstandlichen Talaioi zu lesen) gebrauchten Vergleichs, der dieses Austragen des Menschen im Leibe von Fischen mit dem Verhalten des Hais erklart, der nach antiker Uberzeugung sein Ei im Korper weiter nahrt, bis das Junge allein lebensfahig ist (vgl. Aristot. Hist. an. Z 10, 365 b 1). Die Lehre des Anaximander uber die Entstehung der Tiere wurde gern als Vorlaufer der modernen Deszendenztheorie aufgefasst. 5. Metaphysik. Alle unsere Nachrichten uber die metaphysische Lehre des Anaximander gehen auf THEOPHRAST zuruck, dessen Bericht wir in drei Versionen (bei Simpl. Phys. p. 24, 13; Ps.Plut. Strom. 2; Hippol. Ref. I 6, 1-2: DK 12 A 9-11) besitzen. Auch die kurzeren Berichte bei DIOGENES LAERTIOS (DK 12 A 1) und bei AETIOS (DK 12 A 14) gehen auf Theophrast zuruck. Ob Theophrast das Werk des Anaximander im vollen Wortlaut kannte, wie meist angenommen wird, oder nur Auszuge und ob SIMPLIKIOS den Originalbericht des Theophrast in Handen hatte oder auf einen Auszug im verlorenen Physikkommentar des ALEXANDER VON APHRODISIAS angewiesen war, ob ferner dieser noch den vollen Wortlaut des TheophrastBerichts kannte oder eine gekurzte Fassung, das sind Fragen, die schwer zu entscheiden sind. Und doch hangt es von der Antwort auf diese Fragen ab, wieweit wir die Berichte als zuverlassig betrachten durfen. Mit Sicherheit wird der Satz als wortliches Zitat betrachtet: <> (xard to khreon* didonai gar auta diken kai tisin allelous tes adikias kata ten tou khronou taciv) (Simpl. Phys. p. 24, 13: DK 12 B 1). Ferner wissen wir, dass am Anfang des Weltprozesses das Apeiron stand und diesem die Eigenschaften des <> (ujavatov xai avohegov Arist. Phys. I 4, 203 b 13 f. oder in THEOPHRASTS Formulierung aidiov elval xai aynow Hippol. Ref. I 6, 1: DK 12 A 11) zugelegt wurde. Alles Weitere mussen wir uns aus den zum Teil widersprechenden antiken Angaben erganzen, weshalb die Meinungen der modernen Interpreten in wesentlichen Punkten auseinandergehen. Die Kontroverse beginnt bereits bei der verhaltnismassig unwichtigen Frage, ob Anaximander als erster den Begriff des Prinzips (aoxn) gepragt hat. Gegen die weitverbreitete bejahende Antwort, die sich auf den Wortlaut einer sicher auf THEOPHRAST zuruckgehenden Wendung des SIMPLIKIOS stutzt (ro@TOS TOUTO toUvoua nouioas tns aoxns Phys. 24, 13: DK 12 A 9) hat BURNET (a. a. O. 54 n. 2, Ubers.--) darauf hingewiesen, dass Theophrast bereits Thales den Begriff in den Mund gelegt hatte und dass es dem Tenor des Berichts bei Simplikios besser entspreche, die Wendung so zu verstehen, dass Anaximander <>. Wichtiger ist die andere Frage, was Anaximander unter dem Apeiron verstand, aus dem alles wird, und das darum in dem Bericht des ARISTOTELES als Materialprinzip Page #9 -------------------------------------------------------------------------- ________________ SIO ANAXIMANDER erscheint. Aristoteles hat zweifellos an vielen Stellen die raumliche Unendlichkeit betont, und darin sind ihm viele moderne Forscher gefolgt. Zweifellos bedeutet arelowv bei HOMER.<> (vgl. Er' areloova yatav, Od. 1, 98). Aber schon Aristoteles stellt die Frage, wie es sich mit der Qualitat dieses Grenzenlosen verhalte, und findet, dass Anaximander es mit keinem der bekannten vier Elemente gleichsetzte. Deshalb haben manche es als unbestimmte Mischung aller Elementarstoffe verstanden, die sich dann aus ihm schieden (H. Ritter), wahrend die meisten neueren Forscher geneigt sind, ZELLERS Ansicht zu folgen, dass das Apeiron qualitativ vollig unbestimmt sei'. Es scheint also kaum zweifelhaft zu sein und den verschiedenen antiken Nachrichten am besten zu entsprechen, wenn wir das Apeiron als das Unbestimmte (Indefinite) der Qualitat und der Quantitat nach verstehen. Diese Deutung stimmt auch mit der Kennzeichnung uberein, durch die THEOPHRAST (Simpl. Phys. 24, 26) das Apeiron des Anaximander von dem des Anaximenes unterscheidet. Das Apeiron des Letzteren sei nicht unbestimmt (aoQlotov), sondern eine bestimmte Substanz (plouevn), namlich Luft. Selbstverstandlich ist es damit auch unbestimmt in der zeitlichen Dauer und verdient die Bezeichnung des <>. Das Apeiron mit Diels und CORNFord als kugelformig zu fassen, erscheint bei seiner volligen Unbestimmtheit kaum moglich. Eine weitere Streitfrage hat sich aus Stellen des ARISTOTELES ergeben, wo er einigen Naturphilosophen (voixot) die Annahme einer Mittelsubstanz zwischen Wasser und Luft oder Feuer und Luft zuspricht (Phys. A 4, 187 a 12; De gen. et corr. B 5, 332 a 19: DK 12 A 16). Sowohl ALEXANDER VON APHRODISIAS wie SIMPLIKIOS haben diese Anspielung auf Anaximander bezogen. Es handelt sich aber bei dieser Bemerkung entweder um ein Missverstandnis, und Aristoteles hatte jemanden unter den jungeren Physiologen im Auge (so Zeller, Philos. d. Gr. I 283 ff.), oder er legte sich das Apeiron in seiner Weise zurecht (Kirk, Some problems 24ff.). Wenn wir das Apeiron als das Unbestimmte fassen durfen, so hat es keinen Sinn zu fragen, zwischen welchen von den Empedokleischen Elementen es seinen Platz findet. Auf die Frage, warum Anaximander das Unbestimmte als den Anfang aller Dinge setzte, gibt uns ARISTOTELES zwei Begrundungen an die Hand. Das Grenzenlose durfe nicht ein bestimmter Stoff sein, da dieser sonst durch seine Machtigkeit das Aufkommen. jeder Unterscheidung ersticken wurde (Phys. I's, 204 b 22: DK 12 A 16). Es muss aber unendlich sein, damit dem Werden und Vergehen der Stoff nicht mangele (Phys. I' 4, 203 b 15: DK 12 A 15). Offensichtlich geht die erste Begrundung auf ein qualitativ Unbestimmtes, wahrend die zweite ein quantitativ Unendliches erfordert. Die moderne Forschung zeigt eine gewisse Neigung zur zweiten Begrundung, obwohl Aristoteles aufweist, dass sie in keiner Weise stichhaltig ist und wechselseitige Umwandlung auch bei begrenztem Material ein ewiges Werden und Vergehen garantiert (Phys. I 8, 208 a 8: DK 12 A 14). Ein solches relatives Werden und Vergehen kennt aber zweifellos auch Anaximander (vgl. S. --). Das Unbehagen der Forscher bei der ersten Begrundung formuliert am klarsten CHERNISS, Vgl. Cornford, Mystery religions 542, <>, womit er sich gegen Cherniss, Arist. crit. of pre-socr. philos. 377, wendet, der an indeterminate number of internal divisions > annimmt. Page #10 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 50 VORATTISCHE PHILOSOPHIE wenn er hier das Aristotelische Axiom vom Gleichgewicht der Gegensatze ausgesprochen findet. Doch kennt Anaximander, wie das einzige erhaltene Fragment zeigt, so etwas wie einen Ausgleich der Gegensatze, und KIRK mag mit Recht eine Uberlegung derart ihm zutrauen, dass das Auftreten bestimmter andersartiger Stoffe bei der Ubermacht eines qualitativ bestimmten Urstoffes undenkbar ware. Wie erklarte Anaximander die Entstehung der Welt aus dem Unbestimmten? Mit Sicherheit konnen wir sagen, dass sich irgendwie das Warme (Feuer) und das Kalte (Luft - Dunst) schieden. Sowohl uber den Begriff der Absonderung wie uber die Form, in der sie vor sich geht, beginnt bereits wieder die Kontroverse. Ps.PLUTARCH (Strom. 2: DK 12 A 10) berichtet, dass <> (TO Ex tou aidiou gonimon thermou te kai psukhrou kata ten genesin toude tou kosmou apoxownva). Ist das Zeugungsfahige (yovluov) ein Gegenstuck zum kosmologischen Ei der Orphik (Cornford; vgl. S.-) oder ein Prozess, etwa ein Wirbel (Vlastos), oder bezeichnet es nur den der Aussonderung fahigen Teil des Indefiniten? Der Hinweis BALDRYS (1932), dass in dem Bericht des Ps. Plutarch eine Reihe biologisch-embryologischer Begriffe vorkommt, wurde die Auffassung CORNFORDS stutzen, doch zeigt Anaximander sonst keine Neigung zu biologisch-mythologischer Erklarungsweise (vgl. die Erklarung der Drehung der Feuerrader durch aufsteigenden Wind Abs. 3). THEOPHRAST hat offensichtlich das Unbestimmte des Anaximander mit ewiger Bewegung ausgestattet, um die Entstehung unzahliger Welten zu erklaren (s. unten). Deshalb haben manche modernen Erklarer dem Apeiron eine Bewegung irgendwelcher Art (Burnet) oder eine Kreisbewegung (Tannery) oder eine Wirbelbewegung in einem Teil (Vlastos) zugeschrieben. ARISTOTELES kennt die Moglichkeit, dass ewige Bewegung (davatov xai antavotov Phys. 1, 250 b 13f.) dem Sein innewohnt, wie Leben dem Lebendigen, und trifft damit wahrscheinlich die Auffassung eines Thales und Anaximander richtiger als sein Schuler THEOPHRAST, der mit seiner Fragestellung nach der Ursache der Bewegung noch die modernen Erklarer irregefuhrt hat. Das Ewige, Gottliche hat naturlich die Kraft der Bewegung. Fur den Vorgang der Sonderung werden uns zwei Begriffe uberliefert: <> (Exxoiveojai, Aristoteles) und <> (aroxoiveojai, Simpl. und Ps.Plut., d. h. Theophrast). HOLSCHER hat sich fur den zweiten Begriff ausgesprochen und ihn fur die Absonderung unzahliger Welten gelten lassen. Doch abgesehen von dieser Frage (s. unten) fahrt Ps. Plutarch sofort mit der Entstehung der Gegensatze fort, was sich mit Holschers These schwer vereinbaren lasst. Immerhin mag Theophrasts Begriff dem Denken Anaximanders naher kommen. Es bleibt bei der Wichtigkeit der Berichterstatter Aristoteles und Theophrast zu bedenken, dass Aristoteles seine Berichte in die Form seiner Vier-Elementen- und Vier-Ursachen-Lehre kleidete und deshalb Anaximanders Apeiron nur als ungeschiedene Mischung verstehen konnte, wahrend Theophrast ihm ewige Bewegung und die Entstehung unzahliger Welten zuschrieb. Es ist kein Zweifel, dass Anaximander eine Mehrzahl von Welten aus dem Unbestimmten hervorgehen liess. Aber die Meinungen gehen auseinander, ob es sich dabei um eine unendliche Zahl aufeinanderfolgender oder gleichzeitiger Welten handelte. Es durfte sicher sein, dass THEOPHRAST den zweiten Standpunkt vertrat. Ihm schloss Page #11 -------------------------------------------------------------------------- ________________ S 10 ANAXIMANDER sich unter den modernen Forschern vor allem BURNET an, wahrend ZELLER die erste Auffassung als allein fur Anaximander in Frage kommend vertrat. Seine Ansicht wurde mit neuen Argumenten durch CORNFORD gestutzt, denen KIRK noch den Gedanken hinzufugte, dass Theophrast bei seiner Berichterstattung uber Anaximander sich durch Gesichtspunkte atomistischer Herkunft beeinflussen liess. Tatsachlich scheint Anaximander von der Entstehung der gegensatzlichen Elemente Luft und Feuer zur Entstehung eben dieser Welt vorangegangen zu sein. Auch die genauere Analyse des einzigen Fragments fuhrt wohl zu einer Stutzung dieser These von der Aufeinanderfolge unzahliger Welten oder unzahliger Formen dieser Welt. Das Fragment sagt uns, dass die seienden Dinge einander Strafe und Vergeltung leisten fur ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit>>. Anaximander kennt die Verganglichkeit alles Bestehenden und fasst seinen Untergang als Zeichen ausgleichender Gerechtigkeit. Der Vollstrecker dieser Gerechtigkeit ist die Zeit. Wir haben das wohl zunachst fur den Wechsel der Jahreszeiten und die Lebensablaufe zu verstehen. Der Sommer hat seine Zeit mit seiner Hitze und Durre, er wird vom Winter abgelost, aber auch dieser hat seine Zeit. So hat alles seine Zeit, und nichts dauert ewig. Die dem Zitat vorangehende Bemerkung, woraus etwas werde, dahin vergehe es wieder, ist wohl als peripatetische Interpretation und nicht als Meinung des Anaximander zu verstehen. Wahrend ein Teil der modernen Forscher sie mehr oder weniger als Wiedergabe eines Anaximandrischen Gedankens versteht und also die Ruckkehr aller Dinge in das Unbestimmte hier ausgesprochen findet (Cherniss, Vlastos), wiesen andere darauf hin, dass diese Deutung Theophrasts in Widerspruch mit dem Wortlaut des Zitats steht, das von einer gegenseitigen Busse spricht, welche die Dinge zu leisten haben. Auch der Begriff der Gegensatze darf dabei nicht in peripatetischem Sinne uberspannt werden, es handelt sich vielmehr wohl nur um Verschiedenheit der Gegenstande, wie Winter - Sommer, Tag - Nacht, Wind, Eisen, Feuer, Mann - Frau. 6. Zusammenfassung. Aus dem Unbestimmten, das ewig, unverganglich und gottlich ist, scheiden sich Feuer und feuchte Luft ab. Die Feuerhulle birst und bildet feurige Rader, die von Luft umschlossen werden wie der Baum von der Rinde. Durch Offnungen in der Lufthulle erscheinen uns die Gestirne. Unter dem Einfluss der Sonne sich verdunnende Luft bringt als Wind die Rader zur Drehung. Die Sonne lasst die Erde austrocknen, die als zylindrische Saule in der Mitte schwebt. In den Meeren bildet sich als weitere Wirkung der Sonne das Leben. Doch wie eines das andere ablost, so werden auch dieser Welt andere Weltbildungen in unendlicher Reihe folgen. Es ist ein grossartiger umfassender Weltentwurf, den Anaximander entwickelt. Mit wenigen Mitteln werden die gesamten Phanomene der Erfahrungswelt aus einem Uranfang abgeleitet. Der Verstand hat begonnen, dem anthropomorphen Bild des Mythos ein anderes entgegenzustellen, das die Erscheinungen mit rationalen und in der Erfahrung nachprufbaren Mitteln zu deuten versucht. Sekundarliteratur Gesamtdarstellungen, allgemeine Studien. H. RITTER/L. PRELLER: Hist. philos. graec. (deg1934 [E. WELLMANN]). - ED. ZELLER/W. NESTLE: Die Philos. der Griechen in ihrer gesch. Entwicklung 1 (*1920). - J. BURNET: Early Greek philos. (Lond. *19-5; dtsch. 1913). - Page #12 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 52 VORATTISCHE PHILOSOPHIE F. M. CORNFORD: From religion to philos., a study in the origins of Western speculation (Lond. 1912); Principium sapientiae. The origins of Greek philos, thought (Cambridge 1952). - H. DIELS: A. Neue Jb. klass. Altertum 26 (1923) 65-76. - F. PELIKAN: De Anaximandro pessimismi apud Graecos auctore. Acta Congr. Philol. slav. 2 (1931) 162-169. - A. REY: Projets d'articles pour le dictionnaire hist. des sci. dans leur rapport avec la philos. A., Anaximene. Rev. Synthese (sect. synthese generale) 8 (1934) 187-192. - K. DEICHGRABER: A. Hermes 75 (1940) 10-19; Nochmals A. ebda. 75 (1940) 329-331. - M. POPLAWSKI: Anaksymander. Eos 41 (1940-46) 58-72. - M. HEIDEGGER: Der Spruch des A., in: Holzwege (Ffm. 1950) 295-343. - E. W. PLATZECK: La sentencia de A. a la luz del dilema heideggeriano. Verdad y Vida 8 (1950) 299-324. - P. CHIODI: Heidegger e A.: la metafisica come oblio dell'essere. Riv. crit. Stor. Filos. 17 (1952) 161-172. G. VLASTOS: Theology and philos. in early Greec thought. Philos. Quart. 2 (1952) 97-123.-G.B. BURCH: A., the first metaphysician. Rev. Metaphys. Morale 3 (1949) 137-160; Humanitas (Tucuman) 2 (1954) 329-347. - H.-W. STRITZINGER: Untersuchungen zu A. Diss. (Mainz 1952). - U. HOLSCHER: A. und die Anfange der Philos. Hermes 81 (1953) 257-277, 385-418. - K. YOSHIOKA: An interpretation of A., in: Act. II. Congr. int. Philos. 12 (Bruxelles 1953) 51-53. - C. RAMNOUX: Sur quelques interpretations modernes de la pensee d'A. Rev. Metaphys. Morale 59 (1954) 233-252. - G. S. KIRK: Some problems in A. Class. Quart. 49 (1955) 21-38. - K. JASPERS: A. [als <>], in: Die grossen Philosophen I (Munchen 1959) 625-630. - M. DE CORTE: Mythe et philos. chez A. Laval theol. philos. 14 (1958) 9-29. - M. MARCOVICH: Milesiaca. I: Tales. 2: A. 3: Anaximenes. Episteme (Caracas) 2 (1958) 133-215. - F. X. HERRMANN: Das Weltbild A.s, in: Lebendige Tradition (Wurzburg 1961) 43-78. - C. J. CLASSEN: A. Hermes 90 (1962) 159-172. Naturwissenschaft. W.A. HEIDEL: A.s book, the earliest known geographical treatise. Proc. Amer. Acad. Arts Sci. 56 (1921) 237-288. - P. TANNERY: Pour l'hist, de la sci. hellene. De Thales a Empedocle (Paris ?1930 [A. Dies]). - H. C. BALDRY: Embryological analogies in pre-socratic cosmology. Class. Quart. 26 (1932) 27-34. - H. ERHARD: War A. Descendenztheoretiker? Sudhoff's Arch. Gesch. Med. 33 (1940) 107-111. - J.H. LOENEN: Was A. an evolutionist? Mnemosyne 7 (1954), 215-232. - B.L. HIJMANS JR.: A.s biologische Fragmente im System seiner Philos. Acta classica 3 (1960) 32-35. - W. BURKERT: Weisheit und Wiss. Stud. zu Pythagoras, Philolaos und Platon (1962). Kosmogonie, Metaphysik. A. DYROFF: Zur griech, und germanischen Kosmogonie (A., Pherekydes, Voluspa). Arch. Rel.-Wiss. 31 (1934) 105-123. - H. E. CHERNISS: Aristotle's criticism of pre-socratic philos. (Baltimore 1935). - G. DE SANTILLANA: Il cosmo di A., Period. Mat. Serie 4, 16 (1936) - ... - A. MADDALENA: A. e l'infinito come simultaneita. Atti Ist. veneto Sci. 96 (1936/37) 683-720.-R. MONDOLFO: Problemi della cosmologia d'A. Logos (Napoli) 20 (1937), 14-30. - F. DIRLMEIER: Der Satz des A. Rhein. Mus. Philol. 87 (1938) 376-382. - E. KRIECK: Das Weltgesetz. Geist der Zeit 1/2 (1944) 57-79. - W. KRANZ: Das Wesen des Unendlichen bei A. Rhein. Mus. Philol. N.F. 93 (1950) 364-379. - W.I. MATSON: The naturalism of A. Rev. Metaphys. Morale 6 (1952/53) 387395. - B. WISNIEWSKI: Sur la signification de l'apeiron d'A. Rev. Et. grec. 70 (1957) 47-55. - M. DE CORTE: Mythe et philos. chez A. Laval theol. philos. 14 (1958) (1960) 9-29. - N. RESCHER: Cosmic evolution in A. Stud. gen. II (1958) 718-731. - C. H. KAHN: A. and the arguments concerning the anelpov at Physics 203 b, 4-15, in: Festschr. E. Kapp (Hbg. 1958) 19-29. - C. H. KAHN: A. and the origins of greek cosmology (New York 1960). - B. WISNIEWSKI: <> d'A. et de Pythagore. Stud. ital. Filol. class. 31 (1959) 175-178. - V. GUAZZONI FOA: Dall'aneloov di A. all'areheotov di Parmenide. G. Metafis. 15 (1960) 465-474. - C. CARENA: A proposito dell'ineloov di A. Riv. rosmin. Filos. Colt. 55 (1961) 39-40. - P. SELIGMAN: The <> of A. A study in the origin and function of metaphysical ideas (London=New York 1962). - F. SOLMSEN: A.s infinite: traces and influences. Arch. Gesch. Philos. 44 (1962) 109-131. Vergleichende Studien. R. ALLERS: Microcosmus from A. to Paracelsus. Traditio 2 (1944) 319-407. - E. WOLF: Der Ursprung des abendlandischen Rechtsgedankens bei A. und Heraklit. Symposion 1 (1948) 35-87. - E. WOLF: Dike bei A. und Parmenides. Lexis 2 anglogy (New York i - V. GUAZZONI FOR: DU 1. et de Pythagore. Stud ital