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Wirklichkeit und Begriff bei Dharmakirti
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4. Vorstellung ohne Begriff Es hat sich gezeigt, daß wir unter ,,Begriff" denjenigen Svabhāva verstehen dürfen, den die Vorstellung nach Beurteilung der Wirksamkeit der Dinge vorstellt und den das Wort als Gegenstand der Vorstellung bedeutet. Es gibt aber neben den Vorstellungen, die sich in diesem Sinne auf Wirkliches stützen, auch solche, die sich auf Unwirkliches oder beides stützen 59, und selbstverständlich auch die entsprechen
59 Vgl. v. 205 = 207 unter Anm. 43.
Unter einer Vorstellung, die sich auf Nichtseiendes stützt, versteht Dharmakirti offenbar z. B. die ,,Urmaterie“ des Sāmkhya und in anderen philosophischen Schulen gelehrte Prinzipien, bei denen es sich um Vorstellungen handelt, die sich an mit der Wirklichkeit in Widerspruch stehende Vorstellungsbilder klammern (vastuviparītākāranivesişu... tirthāntariyapratyayesu ... PVSV 106, 9f.).
Soviel geht jedenfalls aus PVSV 106, 4 7 hervor: „Daher überlegen die an diesem Beschaffenheitsträger (= Wortgegenstand) Interessierten, ob er seiend oder nichtseiend ist: ,Stützt sich der auf Grund des Wortes , Urmaterie [in der Vorstellung] sich spiegelnde Gegenstand auf Seiendes oder nicht ? Wenn nun bewiesen werden soll, daß sich dieses (Vorstellungsbild) nicht auf Seiendes stützt, ...“ (tad atra dharmiņi vyavasthitāḥ sadasattvam cintayanti kim ayam pradhānasabdapratibhāsy artho bhāvopädäno na veti. tasya bhāvānupādānatve sādhye ...). Vgl. auch T. VETTER, Das Problem des metaphysischen Beweises in der logisch-erkenntnistheoretischen Periode der indischen Philosophie. ZDMG 118 (1968) 353f.
Bisher habe ich leider noch keine Stelle gefunden, aus der ersichtlich wäre, was Dharmakirti unter Vorstellungen versteht, die sich auf beides stützen. Daß es sich nicht um den gewöhnlichen Vorstellungsirrtum handeln kann, wie VETTER (Erkenntnisprobleme, 50) gemeint hat, geht m. M. aus der Kritik des Vorstellungsirrtums hervor (vgl. oben p. 194), denn dieser Irrtum stützt sich auf Seiendes.
Hier bringt nur Sakyamatis Kommentar Hilfe. Sakyamati gibt (Pramāņavārttikaţikā, Peking edition, Vol. 131, f. 279b5ff.) folgende Beispiele: „Hasenhorn usw." (ri bon gi rva la sogs pa) für eine sich auf Nichtseiendes stützende Vorstellung und ,,Erkennbarsein usw." (śes bya ñid la sog8 pa, korr.: ses byar hid la so sas pa) für eine sich auf beides stützende.
Diese Interpretation wird durch zwei Stellen aus Polemiken in Nyāyawerken kräftig gestützt. Vācaspatimiśra sagt in Erklärung des DharmakirtiVerses in seiner Nyāyavārttikatātparyaţikā (Calcutta ed., 699, 12f.): ,,Gestützt auf Seiendes, wie ,Blaues'; gestützt auf Nichtseiendes, wie ,Hasenhorn'; gestützt auf beides, wie gestaltlos', denn gestaltlos ist die Erkenntnis (als Seiendes) und das Hasenhorn (als Nichtseiendes]." (bhāvāśrayo yatha nilam iti, abhāvāórayo yathā sasavişāņam iti, ubhayāśrayo yathamūrtam iti, amūrtam hi bhavati vijñānam bhavati ca sasavişānam.)
Noch deutlicher ist Bhāsarvajña in seinem Nyāyabhūşaņam (Vārāṇasi 1968, 552, 2–6). Er scheint hier einen buddhistischen Kommentar zu den beiden Versen PV I 205—206 = 207—208 zu zitieren (der zweite Vers ist in der Ausgabe als Prosa abgedruckt), der aber nicht zu identifizieren ist, wenn es sich überhaupt um einen solchen und nicht nur um eine Erklärung