Book Title: Candramati Und Sein Dasapadarthasastram
Author(s): Erich Frauwallner
Publisher: Erich Frauwallner
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Page #1 -------------------------------------------------------------------------- ________________ E. Frau wallner, Wien: .Candramati und sein Daśapadārthaśāstram Ein Beitrag zur Geschichte des Vaišeşika Vom Vaišeşika-System, das zusammen mit dem Sāmkhya in der indischen Philosophie jahrhundertelang die Führung hatte, besitzen wir aus alter Zeit nur drei Werke, die VaiseșikaSūtren, den Padārthadharmasamgrahaḥ des Prasastapāda und das Daśapadārthaśāstram (Cheng tsong che kiu yi louen) des Candramati (Houei-yue), welches von Hiuan-tsang ins Chinesische übersetzt wurde und uns dadurch erhalten geblieben ist 1). Schon der Umstand, daß das Daśapadārthaśāstram neben den grundlegenden Werken der Schule allein erhalten ist und daß es für wert gehalten wurde, ins Chinesische übertragen zu werden, sichert ihm großes Interesse. Trotzdem hat es bisher wenig Beachtung gefunden. Der Grund dafür ist die Beurteilung des Werkes durch seinen Herausgeber und Bearbeiter, den japanischen Gelehrten H. Ui. Nach Ui ist das Werk nämlich spät entstanden und vollkommen von Prasastapāda abhängig, so daß es uns über diesen hinaus nichts Neues zu bieten hat. Diese Beurteilung ist aber von vornherein bedenklich. Daß ein nichtbuddhistisches Werk ins Chinesische übersetzt wurde, ist etwas ganz Ungewöhnliches 2). Und Hiuan-tsang war so lange in Indien und mit den Lehren der wichtigsten 1) Taisho Ausgabe des chinesischen Tripitaka Nr. 2138; ferner The Vaišeșika Philosophy according to the Daśapadārtha-Šāstra, Chinese Text with Introduction, Translation, and Notes, by H. Ui, edited by F. W. Thomas (Royal Asiatic Society, Oriental Translation Fund, N. S., Vol. XXIV), London 1917; ich zitiere nach der Ausgabe im Tripitaka, da sie den Text viel übersichtlicher bringt, als die Ausgabe von Ui, füge aber die Seitenzahl der Übersetzung von Ui bei. Den Padārthadharmasamgrahaḥ, Prasastapāda's zitiere ich nach der Ausgabe der Vizianagram Sanskrit Series, Benares 1895. Die Ubersetzung des Daśapadārthaśāstram durch Ui ist oft fehlerhaft; ich verbessere, wo es nötig ist, stillschweigend. 2) Außer dem Daśapadärthaśāstram wurde nur die Sāmkhyakārikā des Iśvarakļşņa übersetzt (T 2137). Studia Indologica 5 Page #2 -------------------------------------------------------------------------- ________________ philosophischen Schulen so vertraut, daß er sicher kein ganz unbedeutendes Werk mitbrachte, um es zu übersetzen und mit seiner Hilfe seinen Schülern die Kenntnis eines der führenden philosophischen Systeme Indiens zu vermitteln. Außerdem ist auch die Begründung, welche Ui für seine Beurteilung gibt, anfechtbar. Er folgert die späte Entstehung des Werkes daraus 3), daß der berühmte buddhistische Lehrer Dharmapāla, vor allem in seinem Kommentar zum Catuḥśatakam des Aryadeva ), die Lehre von den sechs Kategorien bekämpft, während Candramati darüber hinaus zehn Kategorien lehrte; Dharmapāla könne also das Werk Candramati's noch nicht gekannt haben. Aber dieser Schluß ist nicht zwingend. Die Lehre von den sechs Kategorien ist alte Schullehre des Vaiśeşika und wurde nie aufgegeben. Candramati's Lehre stellt daneben eine heterodoxe Entwicklung dar, die nicht durchgedrungen ist. Die Polemik Dharmapala's konnte sich also gar wohl mit der orthodoxen Lehre der Schule auseinandersetzen, ohne diese Nebenentwicklung zu berücksichtigen. Dazu kommt noch Folgendes. Die Polemik Dharmapala's stammt aus dem Kommentar zu einem Werk, das Jahrhunderte älter war und die Lehre von den zehn Kategorien gar nicht kennen konnte. Er hatte also gerade hier am wenigsten Anlaß, mit seiner Polemik über den überkommenen Rahmen hinauszugehen, der sich auf die sechs Kategorien. beschränkte. Damit fällt die Notwendigkeit weg, Candramati nach Dharmapāla anzusetzen. Das hat aber zur Folge, daß auch sein Verhältnis zu Prasastapāda fraglich wird. Ui glaubte bei dem von ihm angenommenen zeitlichen Verhältnis, jede Übereinstimmung mit Prasastapāda als Abhängigkeit deuten zu dürfen. Nun müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß das Verhältnis umgekehrt ist. Schließlich müssen solche Übereinstimmungen überhaupt vorsichtiger beurteilt werden, als es bei Ui geschieht. Die Kategorienlehre des Vaiseṣika ist in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten entstanden, hatte also zur Zeit Hiuan-tsang's eine Geschichte von fast einem halben Jahrtausend hinter sich. Es ist nicht anzunehmen, daß diese Entwicklung, abgesehen von den Sūtren, nur in den Werken Prasastapāda's und Candramati's ihren Niederschlag fand. Wir werden wenigstens mit Kommentaren zu den Sūtren rechnen müssen, und auch solche Kommentare konnten nach indischem Brauch Vieles enthalten, was über den erklärten Text hinausging. Jedenfalls ist es ratsam, wo Übereinstimmungen vorlie 66 3) a. a. O., S. 9 f., vgl. auch S. 2 f. 4) T 1571. Page #3 -------------------------------------------------------------------------- ________________ gen, bei der Annahme einer Abhängigkeit vorsichtig zu sein und sich die Frage vorzulegen, ob die betreffende Lehre für den betreffenden Autor wirklich so charakteristisch ist, daß wir ihn als Quelle ansehen dürfen. Unter diesen Umständen scheint es mir also gerechtfertigt, die Frage nach der Bedeutung Candramati's und nach seiner Stellung in der Geschichte des Vaiśeșika einer erneuten Prüfung zu unterziehen, um so mehr als seit der Arbeit Ui's längere Zeit verstrichen ist, in der die Erforschung der indischen Philosophie wesentliche Fortschritte gemacht hat, so daß wir heute manches klarer sehen und besser beurteilen können, als es damals möglich war. Als Anfang wollen wir den Aufbau der Werke Candramati's und Prasastapāda's betrachten. Ui glaubt nämlich schon darin eine Übereinstimmung der beiden Werke zu finden, und zwar aus folgendem Grund. Prasastapāda's Werk ist so gegliedert, daß er nach einer kurzen Aufzählung der Kategorien zuerst die gemeinsamen und dann die besonderen Eigenschaften der einzelnen Kategorien bespricht. Die gleiche Gliederung glaubt Ui bei Candramati zu finden. Denn auch sein Werk ist in zwei Teile geteilt, von denen der erste nach Ui die besonderen, der zweite die gemeinsamen Eigenschaften der Kategorien behandelt. Aber diese Übereinstimmung ist nur scheinbar. Zunächst sind die betreffenden Überschriften zu den beiden Teilen des Werkes Zutat des Ubersetzers und fehlen im chinesischen Text. Aber auch eine genauere Prüfung des Inhalts führt zu einem anderen Ergebnis. Die innere Logik der von Prasastapāda angewendeten Einteilung fordert nämlich, daß die Behandlung der gemeinsamen Eigenschaften an der Spitze steht, weil sie für mehrere Kategorien gilt und dann im einzelnen nicht wiederholt werden braucht. Dementsprechend hat Prasastapāda auch die Gliederung des Stoffes durchgeführt. Er bespricht zuerst die gemeinsamen Eigenschaften aller oder mehrerer Kategorien, dann die Kategorien im einzelnen, und auch hier erst die gemeinsamen Eigenschaften der Substanzen, dann ihre besonderen usw. Ganz anders Candramati. Er bespricht zuerst sämtliche Kategorien im einzelnen und behandelt dann eine Anzahl von Eigenschaften der Substanzen, der Eigenschaften usw. Und zwar tut er es in der Weise, daß er fragt: Welche Substanzen sind beweglich (kriyā vattvam) und welche nicht, welche besitzen Eigenschaften (guņa vattvam) und welche nicht, usw. usw. Auch die Reihenfolge der so aufgezählten Eigenschaften ist bei ihm anders als bei Praśastapāda. Prasastapāda stellt die Eigenschaften an die Spitze, welche allen Kategorien gemeinsam sind; dann folgen diejeni 67 Page #4 -------------------------------------------------------------------------- ________________ gen, welche sich nur auf einige Kategorien erstrecken, und zwar in absteigender Zahl. Bei Candramati ist dergleichen nicht zu beobachten. Es ergibt sich also, daß Candramati bei der Abfassung seines Werkes einem andern Einteilungsprinzip folgte als Prasastapāda. Dabei hat seine Einteilung mit der Unterscheidung gemeinsamer und besonderer Eigenschaften nichts zu tun. Er behandelt vielmehr zuerst die einzelnen Kategorien, und bespricht dann in loser Folge eine Reihe von Eigenschaften derselben. Diese Art, ein Werk zu gliedern, ist nun keineswegs vereinzelt. Sie findet sich auch sonst, und zwar verweise ich als bekanntestes Beispiel auf das erste Buch von Vasubandhu's Abhidharmakośaḥ. In diesem bespricht Vasubandhu zunächst (v. 1--28) sämtliche Gegebenheiten nach der alten kanonischen Einteilung in Gruppen (s kandhāḥ), . Bereiche (ā yatanāni), und Elemente (dhātavah). Dann geht er auf die Besprechung verschiedener Eigenschaften über (v. 29—48), indem er fragt: Welche von den 18 Elementen sind sichtbar (s a nidarśan a ḥ) und welche nicht, weiche sind fähig Widerstand zu leisten (s a pratigh a ḥ) und welche nicht, usw. usw. Das ist genau die gleiche Gliederung wie bei Candramati. Wir können also sagen: Candramati ist, was den Aufbau seines Werkes betrifft, von Prasastapāda unabhängig. Er folgt vielmehr einer anderen Einteilungsweise, die sich auch sonst nachweisen läßt. Und zwar ist diese einfacher und altertümlicher, als die kunstvolle Gliederung des Stoffes bei Prasastapāda. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen wir, wenn wir das Werk Candramati's im einzelnen betrachten. Es bietet nämlich, um es in kurzen Worten zusammenzufassen, etwa folgendes Bild. Die Darstellung ist weitaus schlichter und dürftiger als bei Prasastapāda und lehnt sich gern an geeignete Sūtren an. Wo Candramati gemeinsam mit Prasastapāda gegenüber den Sūtren neuert, ist die Übereinstimmung meist unvollkommen und nicht derart, daß eine Abhängigkeit Candramati's angenommen werden müßte 5). Es ist vielmehr das umgekehrte Verhältnis ebenso gut möglich. Dazu kommen Fälle, in denen Candramati gegen Prasastapāda mit den Sūtren geht. Teilweise 5) Daß ein Zusammenhang besteht, ist andrerseits unbestreitbar. Das zeigt sich am deutlichsten darin, daß Candramati die Eigenschaften der Kategorien, welche er im zweiten Teil seines Werkes bespricht, in Gruppen zusammenfaßt, und daß ein großer Teil dieser Gruppen, wenn auch in anderer Anordnung, bei Prasastapāda wieder. kehrt. 68 Page #5 -------------------------------------------------------------------------- ________________ geht er auch vollständig eigene Wege. Es findet sich also nichts, was zu der Annahme nötigen würde, daß Candramati von Prasastapāda abhängig ist. Dagegen spricht manches dafür, in ihm den Älteren zu sehen. Betrachten wir als Beispiel gleich den ersten Abschnitt, der von den Substanzen handelt 6). Zunächst bespricht Candramati die Elemente, indem er kurz ihre charakteristischen Eigenschaften aufzählt. Das entspricht den altertümlichen Sūtren II, 1, 1-4. Demgegenüber hat Prasastapāda bei jedem Element das gesamte einschlägige Material zu einer ausführlichen Darstellung vereinigt. Das alles fehlt bei Candramati. Nicht nur die verschiedenen Erscheinungsformen und Produkte der Elemente werden nicht erwähnt. Nicht einmal ihre allgemeinen Eigenschaften (sā mānya gunā h) sind genannt. Es ist also viel wahrscheinlicher, daß Candramati auf den Sūtren fußt, als auf Prasastapāda. Ebenso knapp ist seine Behandlung der übrigen Substanzen. Bei der Erklärung der Zeit (kālah) hat Candramati ebenso wie Praśastapāda gegenüber dem Sūtra II, 2, 6 geändert. Aber Prasastapāda geht durch Einfügung des Begriffs der Vertauschbarkeit (v yatikara h) über ihn hinaus. Auch beim Raum (dik) haben beide, Candramati und Prasastapāda, den Sūtren II, 2, 14—15 gegenüber geändert, indem sie den Raum ohne Rücksicht auf die in den Sūtren gegebene Beziehung zur Sonne als Grundlage der Vorstellung von den verschiedenen Himmelsrichtungen erklären. Aber wieder geht Prasastapāda über Candramati hinaus, indem er das Verhältnis zu einem gegebenen Fixpunkt betont. Bei der Erklärung der Seele (āt mā) und des psychischen Organs (manah) geht Candramati vollkommen eigene . Wege. Hier fehlten geeignete Sūtren, die sich zu einer kurzen Begriffsbestimmung verwenden ließen. Er erklärt daher selbständig und unabhängig von Prasastapāda die Seele als inhärierende, das psychische Organ als nichtinhärierende Ursache der Eigenschaften der Seele. Prasastapāda verfährt demgegenüber ganz anders und bringt wieder eine ausführliche Darstellung mit breiten Erörterungen. Ein ähnliches Bild ergeben die folgenden Abschnitte. Bei den Eigenschaften der Elemente beschränkt sich Candramati wieder im Gegensatz zur ausführlichen Darstellung Prasasta 6) T 2138, p. 1262 c 16-26; Ui, S. 93 f. 69 Page #6 -------------------------------------------------------------------------- ________________ pāda's auf kurze Erklärungen. Daß er sie dabei ebenso wie Prasastapāda als Objekte der betreffenden Sinnesorgane bestimmt, ist so naheliegend, daß es keine Abhängigkeit beweist. Auch in Fällen, wo Candramati über die Sutren hinaus und ähnlich wie Prasastapāda einen Gegenstand breiter behandelt, zeigen sich charakteristische Abweichungen. Ich wähle als Beispiel die Eigenschaft Ausdehnung (parima na m). Die Behandlung dieser Eigenschaft in den Sūtren VII, 1, 8-25- ist wirr und schwer verständlich. Im Gegensatz dazu gibt Candramati eine klare und übersichtliche Darstellung 7). Er unterscheidet fünf Arten der Ausdehnung, Kleinheit und Größe, Kürze und Länge, und Kugelrundheit (parimaṇḍaly a m), worunter er unendliche Kleinheit und unendliche Größe versteht, und erklärt jede dieser Arten kurz nach ihrer Grundlage und ihrer Entstehung. Ähnlich verfährt Prasastapāda. Auch er unterscheidet zuerst die verschiedenen Arten der Ausdehnung und bespricht dann ihre Entstehung. Dabei ist er wie immer wesentlich ausführlicher und geht auch auf Einzelheiten ein, die bei Candramati nicht erwähnt sind, so auf die Relativität der Begriffe Kleinheit und Größe. Wichtig ist aber Folgendes. Prasastapāda unterscheidet nur vier Arten der Ausdehnung. Die Grenzfälle, unendliche Kleinheit und unendliche Größe, führt er nur als Abarten der Kleinheit und Größe an, und beschränkt dabei die Bezeichnung Kugelrundheit auf die unendliche Kleinheit. Das ist so einfach und klar, daß, wenn man von Praśastapāda ausgeht, kein Grund zu sehen ist, warum Candramati geändert haben sollte. Die Erklärung für seine andersartige Einteilung geben die Sūtren. In ihnen heißt es nämlich (VII, 1,20) nityam parimandalam („Das Ewige ist kugelrund"), was den, der sich an dieses Sūtra hielt, notwendig dazu führen mußte, ebenso wie die unendliche Kleinheit der Atome auch die Ausdehnung der unendlich großen ewigen Substanzen unter dem Begriff der Kugelrundheit zusammenzufassen. Candramati unterscheidet sich also auch hier trotz der allgemeinen Übereinstimmung in einer charakteristischen Einzelheit von Prasastapāda, und wieder steht er den Sūtren näher. Von besonderer Wichtigkeit für die Entscheidung unserer Frage ist jedoch die Erkenntnislehre, vor allem die Lehre von der Schlußfolgerung, und auf sie müssen wir daher näher eingehen. Denn sie gibt uns nicht nur eine Handhabe, das Verhältnis Candramati's zu Prasastapāda eindeutig zu klären, son 70 7) T 2138, p. 1263 a 10-22; Ui, S. 95. Page #7 -------------------------------------------------------------------------- ________________ dern sie ermöglicht uns auch, die Zeit beider ziemlich genau zu bestimmen. Was zunächst Prasastapāda betrifft, so ist bekannt, daß er in der Lehre von der Schlußfolgerung weitgehend mit den buddhistischen Logikern Vasubandhu und Dignaga übereinstimmt, und man hat meist angenommen, daß er von ihnen abhängt. Es ist aber auch die entgegengesetzte Ansicht vertreten worden und die Frage ist heute noch offen. Es ist nun hier nicht der Platz, auf alle Einzelheiten dieser umstrittenen Frage einzugehen ). Meiner Ansicht nach sind aber schon folgende allgemeine Erwägungen entscheidend. Bei Vasubandhu und Dignaga ist die Lehre von den drei Formen des Grundes (trirupam lingam) und von den darauf beruhenden drei Arten von Scheingründen breit ausgeführt und bildet das Kernstück ihrer Schlußlehre. Sie haben damit mächtig gewirkt. Eine ganze Schule schließt sich an sie an. Von fremden Schulen ist ihre Lehre teils übernommen, teils leidenschaftlich bekämpft worden. Nie aber hat man die Bedeutung dieser Männer als großer Logiker bestritten. Ganz anders bei Prasastapāda. Von ihm sehen wir keine weitere Wirkung ausgehen. Wohl wird seine Lehre, wie es nicht anders möglich war, von den Kommentatoren seines Werkes behandelt. Das ist aber alles. Im übrigen wird sie weder erwähnt noch bekämpft. Wo die Vaisesika-Lehre vom Schluß erwähnt und berücksichtigt wird, ist es die altertümliche Lehre der Sütren, nicht die Lehre Praśastapāda's. Ich verweise als Beispiel nur auf die großen NyāyaAutoren Vācaspatimiśra und Jayantabhaṭṭa 9). Unter diesen Umständen der gesamten Überlieferung zum Trotz die Lehre von den drei Formen des Grundes den berühmten Logikern Vasubandhu und Dignāga abzusprechen und sie dem als Logiker ganz obskuren Prasastapāda zuzuschreiben, ist ein Unterfangen, das man sich wohl überlegen sollte, und das nur gerechtfertigt ist, wenn man zwingende Gründe dafür anzuführen weiß. 8) Nur eine Einzelheit sei beiläufig berichtigt: Aus den Worten Prasastapāda's Kasyapo 'bravit (S. 200, 22) zu folgern, daß er für seine Schlußlehre innerhalb des Vaiśeşika Vorgänger hatte, ist vollkommen verfehlt. Wie seine eigenen Erklärungen zeigen (S. 204, 26), will er damit nur die Dreiteilung der Scheingründe auf das Sūtra III, 1, 15 zurückführen (so richtig B. Faddegon, The VaiçesikaSystem, Amsterdam 1918, S. 303). Auch sonst zeigen seine Ausführungen, daß er nur die Erkenntnislehre der Sütren kennt, und zwar in der Form, in der sie uns vorliegt. 9) Tātparyaṭīkā (Kashi Sanskrit Series), S. 164, 13 ff.; Nyayamañjarī (Vizianagram Sanskrit Series), S. 117, 4. 71 Page #8 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Dazu kommt noch folgendes. Dignāga hat sich in seinem Pramanasamuccayah ausführlich mit der Vaišeşika-Lehre vom Schluß auseinandergesetzt 19). Es ist aber nur die Lehre der Sūtren, die er anführt und bekämpft. Wie will man sich unter diesen Umständen seine Abhängigkeit von Prasastapāda denken? Er soll das, was er als eigene Lehre bringt, von Prasastapāda übernommen, bei der Bekämpfung des Vaiseșika dagegen dessen Lehre totgeschwiegen und sich gestellt haben, wie wenn es nur die veraltete Lehre der Sūtren gäbe. Das wäre doch die tollste Form eines Diebstahls von geistigem Eigentum, und er wäre mit Spott und Hohn überschüttet, aber sicher nicht als der große Logiker gefeiert worden. Nehmen wir dagegen das umgekehrte Verhältnis an, daß Prasastapāda von ihm abhängig ist, so ist alles klar, und auch die geringe Beachtung, welche die Schlußlehre Prasastapāda's gefunden hat, wird verständlich. Die Lehre Vasubandhu's und Dignāga's von den drei Formen des Grundes hat nämlich zuerst auch auf die Gegner mächtig gewirkt und wurde in weitem Maße übernommen. Erst als von Seiten des Nyāya der Rückschlag kam, suchte man davon abzurücken und ließ, was man nicht mit der eigenen Lehre verschmolzen hatte, fallen. Ein gutes Beispiel gibt dafür die Mīmāmsā. Hier kannte man zunächst nur eine einfache altertümliche Schlußlehre, welche Sabarasvāmin im Vịttikāragranthaḥ seines Mīmāmsābhāşyam wiedergibt. Unter dem Einfluß Dignāga's wurde dann von Kumārila, dem größten. MīmāmsāLehrer, die Schlußlehre breit entwickelt und zwar im Anschluß an die Lehre von den drei Formen des Grundes. Später gab man diese Lehre zwar nicht auf, aber man ging, ohne viel: Worte zu machen, stillschweigend darüber hinweg. Und es ist bezeichnend, wie z. B. Pārthasarathimiśra, einer der bedeutendsten Nachfolger Kumārila's, in seiner Nyāyaratnamälā bei der Besprechung der Umfassung (vyāpti h) auf die drei Formen des Grundes überhaupt nicht eingeht, sondern die erörterten Fragen in der Weise behandelt, wie es damals im Nyāya gebräuchlich war, und den Begriff der Umfassung nach dem Vorgang Jayantabhațța's durch den Begriff der festen Verbindung (ni ya ma h) ersetzt 11). Das entspricht genau der Sachlage bei 10) Pramāṇasamuccayavịttiḥ II, fol. 36b 2—39a 6 und III, fol. 58b 5-59b 4 und 65b 3—66b 3 (Tanjur, Ausgabe von Narthang, Mdo Ce). 11) Nyāyaratnamālā (Chowkhamba S. S.) S. 57, 21 f. Wie man weiterhin in den andern Schulen dem Begriff der vyāptiḥ eine andere eigene Fassung zu geben suchte, kann hier nicht weiter ausgeführt werden. Page #9 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Prasastapāda und erklärt sie aufs treffendste. Ich betrachte es daher, solange nicht durchschlagende Gegengründe vorgebracht werden, als feststehende Tatsache, daß Prasastapāda von der buddhistischen Logik, vor allem von Dignāga abhängt. Damit ist aber auch ein wichtiger Anhaltspunkt für seine Zeitbestimmung gegeben. Er kann sein Werk frühestens um die Mitte 6. Jahrhunderts n. Chr. geschrieben haben. Wie steht es demgegenüber mit Candramati? Um diese Frage zu beantworten. wollen wir zuerst sehen, was er über die Schlußfolgerung zu sagen hat. Bei der Besprechung der Eigenschaft Erkennen (buddhih) unterscheidet er zunächst zwei Arten des Erkennens, Wahnehmung und Schlußfolgerung. Dann fährt er fort (T 2138, p. 1263 b 7–13; Ui S. 97) 12): pi leang tchö ts'eu yeou eul tchong, yi kien t'ong kou pi, eul pou kien t'ong kou pi. kien t'ong kou pi tchö wei kien siang kou tai siang chou siang siang chou nien kou ngo yi ho kou yu pou kien chou siang king yeou tche cheng che ming kien t'ong kou pi. pou kien t'ong kou pi tchö wei kien yin kouo siang chou yi yi houo ho siang wei kou tai pei siang chou nien kou ngo yi ho kou yu pei pi king pou hien kien king chou yeou tche cheng che ming pou kien t'ong kou pi. „Die Schlußfolgerung ist zweifach, Schlußfolgerung auf Grund der Wahrnehmung einer Gemeinsamkeit 18) und Schlußfolgerung ohne Wahrnehmung einer Gemeinsamkeit. Wenn auf Grund der Wahrnehmung eines Merkmals (linga darśa nā t) infolge einer Berührung der Seele mit dem Denkorgan (āt maman a ḥ sa mnikarşā t), welche durch die Erinnerung an die Verbindung zwischen Merkmal und Merkmalträger bedingt ist (lingalingisamband has mịtya pek şāt), eine Erkenntnis des 12) Vgl. dazu auch K'ouei-ki, Tch'eng wei che louen chou ki, T 1830, - p. 256b 16-19. 13) Man ist versucht, in diesem Ausdruck das indische sāmā. nyato dỊsta m zu finden, doch spricht die chinesische Wiedergabe eher für ein drstas ā mān y am und a drst as āmānya m. Man vgl. dazu Ausdrücke wie dỊstas vala k saņa visa y am und a drstas v alak sana visa y am bei Prabhākara, Brhati (Madras University S. S.) S. 97 f. und drsta svala k saņasāmā nya. visa y am und a distas valak saņas āmā nyavisa y am bei Vācaspatimiśra, Sāmkhyatattvakaumudi zu Sāmkhyakārikā v. 5. Daß Candramati von sāmānya m spricht, findet seine Erklärung am besten in dem später angeführten Satz aus dem Vịttikāragranthaḥ S. 8, 10 (dhūmākļtidarśanād agnyāktivijñāna m), in dem ā krtiḥ dem sãmânya m entspricht. 73 Page #10 -------------------------------------------------------------------------- ________________ nichtgesehenen Merkmalträgers entsteht (ad şștalingivi. şa ya mjñānam), so ist dies eine Schlußfolgerung auf Grund der Wahrnehmung einer Gemeinsamkeit. Wenn dagegen auf Grund der Wahrnehmung einer Ursache (kārana m), einer Wirkung (k āryam), eines Verbundenen (s a myogi), eines demselben Gegenstand Inhärierenden (ekārtha sa mavā yi) oder eines Entgegengesetzten (virodh i) 14) infolge einer Berührung der Seele mit dem Denkorgan, welche durch die Erinnerung an die betreffende Verbindung bedingt ist, eine Erkenntnis eines vollkommen Unsichtbaren entsteht (aty antaparok sa visa y am jñāna m), so ist dies eine Schlußfolgerung ohne Wahrnehmung einer Gemeinsamkeit." Ferner kommt Candramati bei der Besprechung der Ursachen der einzelnen Eigenschaften (guņā ) noch einmal auf die Schlußfolgerung zu sprechen und sagt (T 2138, p. 1265 a 10 f.; Ui, S 109) 15): pi leang wei ho houo ho yi yi houo ho siang wei tsche wei sien tai ho teng siang chou nien ngo yi ho wei yin. „Die Ursache der Schlußfolgerung ist eine Berührung der Seele mit dem Denkorgan (āt maman ah samnikarşah), welche die Kenntnis eines Verbundenen, eines Inhärierenden, eines demselben Gegenstand Inhärierenden oder eines Entgegengesetzten voraussetzt (s a myogis a ma vāy y ekārthasama vā yivirodhijñāna pūrva k a h), und welche durch die Erinnerung an die Verbindung bedingt ist, die in Verbindung usw. besteht (s a myogādis am bandha smrtyapek şah)". Ein Blick auf die in diesen Sätzen enthaltene Lehre zeigt, daß hier von einem buddhistischen Einfluß keine Rede sein kann. Mit Prasastapāda besteht eine gewisse Übereinstimmung, insofern auch dieser eine Zweiteilung der Schlußfolgerung, und zwar in drsta m und sā mānyatodista m kennt 16). Aber die Übereinstimmung ist nicht vollständig. Und überdies ist diese Zweiteilung der Schlußfolgerung für Prasastapāda von so untergeordneter Bedeutung und wird bloß nebenher erwähnt, daß wir darin schwerlich das Vorbild Candramati's sehen können. Um dessen Lehre zu verstehen und ihre Herkunft zu 14) Vgl. Vaišeşika-Sūtram IX, 2, 1. 15) Um einen vollständig klaren Text zu gewinnen, war es nur notwendig, im Anschluß an Vaišeşika-Sūtram III, 1,9 das am Anfang überlieferte chou (63 und 4) in ho (30 und 3) zu ändern. 16) S. 205, 19 ff. 74 Page #11 -------------------------------------------------------------------------- ________________ erklären, müssen wir daher in anderer Richtung suchen. Und dabei müssen wir etwas weiter ausholen. Vor die entscheidende Entwicklung der Schlußlehre durch die buddhistischen Logiker Vasubandhu und Dignāga fällt eine Periode, welche ungefähr von den Jahren 300 und 450 begrenzt ist, und in welcher die Schlußlehre des Sāmkhya-Systems führend war. Dieses hatte ursprünglich nur eine einfache Schlußlehre besessen, ähnlich der des ältesten Nyāya. Sie ist in der Samkhyakārikā v. 5 kurz wiedergegeben. Danach beruht jede Schlußfolgerung auf Verbindung zwischen einem Merkmal (ling a m) und dem Merkmalträger (1 in gi). Ferner werden drei Arten der Schlußfolgerung unterschieden, die als pūrvavat, śe sa va't und sā mān y atod rşta m bezeichnet werden. Über diese einfache Lehre war in dem genannten Zeitraum die Samkhya-Schule Vrşagana's hinausgegangen und hatte eine Schlußlehre entwickelt, deren wichtigste Punkte sich folgendermaßen zusammenfassen lassen 17). Zunächst hatte man das Wesen der Schlußfolgerung genauer zu bestimmen gesucht, indem man folgende Definition aufstellte: sambandhā d 18) ekas mātpraty a k sāc chesasiddhir anu mānam. „Die Schlußfolgerung besteht darin, daß man auf Grund einer Verbindung durch die Wahrnehmung des Einen das Ubrige erkennt" 19). Was die Verbindung betrifft, auf welcher die Schlußfolgerung beruht, so unterschied man sieben Arten: das Verhältnis von Herr und Eigentum (nor-dan- bdag-po'i-dos-po), von Grundstoff und Umwandlung (r a n- bzin-dan-rnam-'gyur-gyidnos-po), von Ursache und Wirkung ('bras-bu-danrgyu i-dos-po), von Anlaß und Veranlaßtem (r gyumtshan-dan-rgy u-mtshan-can-gyi-dos-po), von Teil und Ganzem (t sa m-po-dan-tsam-po-cangyi-dnos-po), das Verhältnis des Beisammenseins (1 h ancig-spyod - pa'i-dnos-po) und das Verhältnis von Vernichtendem und Vernichtetem (g nod-by a- gnod 17) Diese Schlußlehre ist in der Yuktidīpikā (Calcutta S. S.) in den wesentlichen Punkten zutreffend wiedergegeben, wie die Polemik Dignāga's in seinem Pramāṇasamuccayaḥ zeigt. 18) v. l. sam baddhāt. 19) Pramāṇasamuccayavịttiḥ II, fol. 39a 6 (Ausgabe von Narthang); Yuktidīpikā S. 4, 11; Uddyotakara, Nyāyavārttikam S. 57,1 f. usw. 75 Page #12 -------------------------------------------------------------------------- ________________ byed-kyi-dnos-po) 20). Die alte Dreiteilung der Schlußfolgerung drängte man in den Hintergrund. Dagegen stellte man eine neue Zweiteilung auf. Das Ziel des Samkhya bei der Ausarbeitung seiner Schlußlehre war nämlich, die wichtigsten Lehrsätze des Systems durch regelrechte Schlußfolgerungen auf eine feste Grundlage zu stellen. Dabei war das Wesentliche, daß diese Schlußfolgerungen es mit Dingen zu tun haben, welche wie die Urmaterie und die Seele außerhalb des Bereiches jeder Wahrnehmung liegen. Bei solchen Dingen kann aber die Verbindung zwischen Grund und Folge nicht durch frühere Erfahrung festgestellt sein. Man sagte daher, daß in solchen Fällen die Schlußfolgerung auf einer Verbindung beruht, welche von andern Fällen her aus der Erfahrung bekannt ist, und welche hier in analoger Weise verwendet wird. Um dies zum Ausdruck zu bringen und so die Schlußfolgerungen, auf denen das ganze System beruht, theoretisch zu rechtfertigen, unterschied man also zwei Arten von Schlußfolgerungen, solche, denen eine früher in der Erfahrung festgestellte Verbindung zu Grunde liegt, und solche, bei denen eine derartige Verbindung benützt wird, um in analoger Weise Dinge zu erschließen, welche außerhalb jeder Wahrnehmung liegen und bei denen diese Verbindung nicht durch Erfahrung festgestellt werden kann. Diese Zweiteilung wurde an die Stelle der ursprünglichen Dreiteilung gesetzt. Allerdings gelang es nicht, eine Formu lierung zu finden, die allgemeine Anerkennung fand 21). In der Zeit, welche für uns entscheidend ist, gab man dieser Lehre folgende Form 22): Es gibt zwei Formen der Schlußfolgerung, auf Grund der Wahrnehmung im besonderen (vise ṣatodṛṣṭam) und auf Grund der Wahrnehmung im allgemeinen (samanya todṛṣṭam). Im ersten Fall schließt man bei einem bereits früher wahrgenommenen Feuer aus dem Rauch auf das Vorhandensein des Feuers. Im zweiten handelt es sich 20) Pramāṇasamuccayavṛttiḥ II, fol. 39a 6 und Jinendrabuddhi, Viśālāmalavatī, fol. 117b 6 ff.; eine etwas abweichende Aufzählung gibt ein Vers in Vacaspatimiśra's Tatparyaṭīkā (Kashi S. S.) S. 165, 2 f. mātrānimittasamyogivirodhisahacāribhih | svasvamivadhyaghātādyaiḥ samkhyānām saptadhānumā || 21) Eine Form der Lehre, welche von der hier wiedergegebenen abweicht, findet sich in Vacaspatimiśra's Samkhyatattvakaumudi zu Sāmkhyakārikā v. 5. 22) Pramāṇasamuccayavṛttiḥ II, fol. 41b 3 ff. und Viśālāmalavati, fol. 124a 6 ff. 76 Page #13 -------------------------------------------------------------------------- ________________ um das Erschließen eines Feuers, das man früher nicht wahrgenommen hat. Die Schlußfolgerungen pūrvavat und sesa vat fallen unter die Schlußfolgerung auf Grund der Wahrnehmung im allgemeinen (sā māny a todľsta m). Und zwar handelt es sich bei der Schlußfolgerung pūrvavat um einen Schluß von der Ursache auf die Wirkung, bei der Schlußfolgerung sesa vat um einen Schluß von der Wirkung auf die Ursache. Die erste ist nicht zwingend und daher fehlerhaft. Die zweite kann dagegen bei sorgfältiger Prüfung zum Erschließen nichtwahrnehmbarer Dinge herangezogen werden. Anschließend an diese Schlußlehre wurde die Lehre vom Beweis ausgearbeitet, der dazu dienen soll, die selbst gewonnene Schlußerkenntnis anderen mitzuteilen 22). Dabei unterschied man zwei Formen des Beweises, vītah und avītah. Im ersten Fall wird der Schluß wie im Nyāya in fünf Gliedern formuliert. Im zweiten Fall zeigt man, daß alle andern Annahmen unmöglich sind, und daß daher die eigene Annahme als einzige Möglichkeit übrigbleibt. In diese beiden Formen kleidete man dann weiterhin die grundlegenden Beweisführungen des Systems. Aber das ist für uns hier ohne Bedeutung und kann daher unberücksichtigt bleiben. Diese Lehre des Samkhya von der Schlußfolgerung erfreute sich lange Zeit großen Ansehens. Das zeigt z. B. die ausführliche Polemik, welche Dignāga in seinem Pramāṇasamuccayaḥ gegen sie richtet. Sie hat aber auch auf andere Systeme gewirkt 24). Und zwar sehen wir das besonders deutlich bei der 23) Pramāṇasamuccayavrttiḥ III, fol. 59b 4 ff.; Viśālāmalavatī, fol. 193a 1 ff.; Yuktidīpikā S. 47, 7 ff. und Simhasūri, Nyāyāgamānusāriņi S. 265, 14 ff. 24) Ein schönes Beispiel für diesen Einfluß bietet das Nyāyabhāşyam Paksilasvāmin's. Dieser bringt in seinem Kommentar zu Nyāyasūtram I, 1, 5 zwei Erklärungen für die im Sūtra angeführten drei Arten von Schlußfolgerungen. Von diesen ist die zweite (Kashi S. S., S. 23, 14 ff.) offenkundig ein Versuch, die Schlußlehre des Sāmkhya für das eigene System zu verwerten und ihm anzupassen. Nach dieser Erklärung ist pūrvavat eine Schlußfolgerung, bei der die zu Grunde liegende Verbindung aus früherer Erfahrung bekannt ist, während es sich bei der s ā mān ya todľsta m genannten Schlußfolgerung um einen Analogieschluß handelt, welcher der Erkenntnis eines nicht wahrnehmbaren Gegenstandes dienen soll. Das entspricht der Unterscheidung des Sāņkhya zwischen visesa todistam und sā māny a todi's t a m. Zur Erklärung der Schlußfolgerung sesavat ist die Sämkhyalehre vom a vitohetuḥ herangezogen (vgl. Yuktidīpikā S. 44, 17 ff.). Page #14 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Mīmāṁsā 25). Hier wird die Schlußfolgerung im Bhāşyam Sabarasvāmin's im Vșttikāragranthaḥ folgendermaßen besprochen 26): anumānam jñātasambandhasyaikadeśadarśanād ekadeśāntare 'samniksște 'rthe buddhiḥ. tat tu dvividham pratyakşatodsştasambandham sāmānyatodřşțasambandham ca. pratyaksatodřstasambandham yathā dhūmākstidarśanād agnyākstivijñānam. sāmānyatodȚstasambandham yathā devadattasya gatipūrvikām deśāntaraprāptim upalabhyādityagatismaraṇam. „Die Schlußfolgerung besteht darin, daß jemand dem die Verbindung bekannt ist 27), auf Grund der Wahrnehmung eines Teiles einen Gegenstand, mit dem er nicht in Berührung steht und der den andern Teil darstellt, erkennt. Sie ist zweifach, Schlußfolgerung, bei der die Verbindung sinnlich wahrgenommen ist, und Schlußfolgerung, bei der die Verbindung im allgemeinen wahrgenommen ist. Eine Schlußfolgerung, bei der die Verbindung sinnlich wahrgenommen ist, liegt z. B. vor, wenn jemand auf Grund der Wahrnehmung der Form des Rauches die Form des Feuers erkennt. Eine Schlußfolgerung, bei der die Verbindung im allgemeinen wahrgenommen ist, liegt z. B. vor, wenn jemand bemerkt hat, daß das Erreichen eines anderen Ortes durch Devadatta eine Bewegung voraussetzt, und daraufhin sich bewußt wird, daß sich die Sonne bewegt". Hier ist die Anlehnung an das Sāmkhya unverkennbar. Die Definition der Schlußfolgerung ist sorgfältiger ausgefeilt, folgt aber Glied für Glied dem Vorbild des Sāmkhya. Ebenso zeigt die Zweiteilung der Schlußfolgerung einige leichte Änderungen. An Stelle von vise şatodľstam ist pratyaksatod ș ța m getreten. Als Beispiel für sāmāny atodrstam ist zur besseren Verdeutlichung ein Fall gewählt, in dem das Erschlossene außerhalb des Bereichs der sinnlichen Wahrnehmung liegt. Aber der Grundgedanke ist unverändert beibehalten 28). Diese Abhängigkeit der Schlußlehre der Mī 25) Selbstverständlich ist dabei das Sāmkhya der gebende und die Mīmāmsā der empfangende Teil. Denn diese Schlußlehre ist natürlich dort zu Hause, wo wir ihr Werden beobachten können und wo sie eine wichtige Stelle einnimmt, nämlich im Sāņkhya, und nicht in der Mīmāmsā, wo sie plötzlich und unvermittelt auftaucht und für das System ohne Bedeutung ist. 26) Kashi S. S., S. 8, 8—12. 27) Der Ausdruck jñāta saņ band has y á wird von den späteren Kommentatoren verschieden erklärt. 28) Der Zusammenhang mit der Schlußlehre des Sāmkhya war Kumārila noch bewußt, vgl. Slokavārttikam 8 (Anumānaparicchedaḥ), v. 138. 78 Page #15 -------------------------------------------------------------------------- ________________ māmsā vom Sāmkhya war allerdings nur vorübergehend und wurde später durch den buddhistischen Einfluß verdrängt. Denn wie wir bereits erwähnt haben, ist bei dem nächsten großen Mīmāmsā-Lehrer, bei Kumārila, die Schlußlehre nach dem Vorbild der großen buddhistischen Logiker ausgearbeitet. Die alten Formulierungen sind daneben in den Hintergrund gedrängt. Genau das gleiche Bild zeigt nun auch das Vaišeşika. Denn nach allem bisher Gesagten kann es wohl keinem Zweifel unterliegen, daß Candramati unter dem Einfluß der Schlußlehre des Sāmkhya steht. Er hat zwar manches geändert. Die Definition des Schlusses, welche er nicht gesondert bringt, sondern in die Besprechung der zwei Arten der Schlußfolgerung eingearbeitet hat, ist geschickt den Anschauungen des Vaiseșika angepaßt. Die Terminologie ist geändert. Der Schlußfolgerung, welcher eine durch Erfahrung festgestellte Verbindung zu Grunde liegt, stellt er die Schlußfolgerung gegenüber, welche sich auf allgemein geltende feste Verbindungen stützt. Die sieben Arten von festen Verbindungen, welche das Sāmkhya kennt, ersetzt er durch Verbindungen, bei denen die Kategorienlehre des Vaišeşika berücksichtigt ist und welche nach dem Zeugnis der Sūtren im Vaiseșika schon früher bekannt waren 29). Aber von allen Einzelheiten in der Gestaltung der Lehre abgesehen, beweist schon die Zweiteilung der Schlußfolgerung, wie er sie bringt, schlagend seine Abhängigkeit von Sāmkhya 30). Denn er hebt ausdrücklich hervor, daß die zweite Art der Schlußfolgerung dazu dienen soll, Dinge zu erschließen, welche der Wahrnehmung dauernd entzogen sind. Und wir haben gesehen, daß die Aufstellung dieser Art von Schlußfolgerung aus den Bedürfnissen des Sāmkhya erwachsen ist. Und sie ist auch dort, und zwar nur dort, in entscheidender Weise zur Ausgestaltung des Systems herangezogen worden. Für das Vaišeșika dagegen ist sie so gut wie bedeutungslos. 29) Vgl. Vaiseşika-Sūtram III, 1,9 und IX, 2, 1. 30) In den Vaišeşika-Sūtren findet sich die Zweiteilung nur an zwei gleichartigen Stellen (II, 1, 15–17 und III, 2, 6 8), die beide spätere Zusätze sind. H. N. Randle's Versuch, die Entwicklung zu zeichnen, ist daher verfehlt (Indian Logic in the Early Schools, Oxford 1930, S. 148 ff.). Hier hat A. B. Keith viel richtiger gesehen, obwohl ihm das entscheidende Material noch nicht bekannt war (Indian Logic and Atomism, Oxford 1921, S. 90–92). Die Ansätze zu einer Schlußlehre in den Vaišeşika-Sūtren erfordern, mit Rücksicht auf ihre komplizierte Schichtung eine gesonderte Behandlung. 79 Page #16 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Sie kann also nur auf dem Boden des Sāmkhya entstanden sein und Candramati bat sie daher von dort übernommen. Wir kommen somit zu dem Ergebnis, daß die Schlußlehre des Vaiseșika bei Candramati ebenso vom Sāmkhya abhängt, wie die Schlußlehre der Mīmāmsā im Vịttikāragranthaḥ bei Sabarasvāmin. Und ebenso wie in der Mīmāmsā bei Kumārila der buddhistische Einfluß den Sāmkhya-Einfluß ablöst, so ist hier bei Prasastapāda der gleiche Wechsel vollzogen. Und wie Kumārila die Zweiteilung der Schlußfolgerung, wie er sie bei Sabarasvāmin vorfand, nicht ganz übergangen hat, so hat ihr auch Prasastapāda in seiner Darstellung einen, wenn auch bescheidenen Platz eingeräumt. Damit ist unsere Beweisführung geschlossen und ich glaube, wir können zuversichtlich behaupten, daß Candramati älter ist als Prasastapāda. Gleichzeitig bietet uns seine Abhängigkeit von der Schlußlehre des Sāmkhya die Möglichkeit, seine Zeit innerhalb ziemlich enger Grenzen zu bestimmen. Für die Schlußlehre des Sāmkhya haben wir zeitlich dadurch einen festen Anhaltspunkt, daß die Zweiteilung der Schlußfolgerung in više satodistam und sāmān yatodľsta m ausdrücklich für den Sāmkhya-Lehrer Vindhyavāsin bezeugt ist 31), der als älterer Zeitgenosse Vasubandhu's des Jüngeren in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts anzusetzen ist 32). Andererseits ist ein Einfluß der Schlußlehre des Sāmkhya nach Dignāga (c. 480—540) nicht anzunehmen. Das Wirken Candramati's fällt also mit großer Wahrscheinlichkeit in den Zeitraum zwischen 450 und 550 n. Chr. Was ferner Prasastapāda betrifft, so haben wir bereits gesagt, daß der buddhistische Einfluß auf seine Schlußlehre frühestens einen Ansatz um 550 zuläßt. Ihn viel später anzusetzen scheint aber nicht ratsam, da seine Schlußlehre sich am engsten an Dignāga anlehnt, und nicht an die jüngeren Logiker Sankarasvāmin und Dharmakīrti. Daß Hiuantsang das Werk Candramati's übersetzt hat, nötigt nicht unbedingt, Prasastapāda für jünger als Hiuan-tsang zu halten, da wir an verschiedenen Beispielen sehen, daß sich oft auch bedeutende Werke erst allmählich durchsetzten. So führt Uddyotakara in seinem Nyāyavārttikam Verse aus dem Pramāņasamuccayaḥ, dem letzten zusammenfassenden Werk Dignāga's 31) S. Kumārila, Slokavārttikam 8 (Anumānaparicchedah), v. 143. 32) Vgl. meine Abhandlung „On the date of the Buddhist Master of the Law Vasubandhu“ (Serie Orientale Roma III), Roma 1951. 80 Page #17 -------------------------------------------------------------------------- ________________ an, setzt also sein ganzes Wirken voraus. Trotzdem richtet er seine Polemik vor allem gegen Vasubandhu, den Vorläufer Dignaga's 33). Erst zur Zeit Kumārila's ist Vasubandhu vollkommen von Dignāga verdrängt. Ein anderes Beispiel. Der chinesische Pilger Yi-tsing kennt bereits Dharmakīrti und den durch ihn erzielten Fortschritt der Logik 84). Trotzdem wurde nach seinem Zeugnis damals im wissenschaftlichen Zentrum des Buddhismus in Nālandā die Logik noch immer nach den Werken Dignāga's gelehrt 35). Ein halbes Jahrhundert später ist Dignaga bereits vollkommen in den Schatten getreten und Dharmakirti ist der führende Logiker. Es ist also möglich, daß das Werk Prasastapāda's zur Zeit Hiuan-tsang's bereits geschrieben war, sich aber noch nicht allgemein durchgesetzt hatte. Und so ist wohl der wahrscheinlichste Zeitansatz für Praśastapāda die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts n. Chr. Damit ist die Zeit Candramati's und Prasastapāda's mit großer Wahrscheinlichkeit und innerhalb ziemlich enger Grenzen bestimmt. Nun bleibt uns noch die Aufgabe, aus dieser Erkenntnis die Folgerungen zu ziehen. Wir müssen uns also die Frage vorlegen, wie sich unter diesen Voraussetzungen die Geschichte des Vaiseṣika innerhalb des fraglichen Zeitraums darstellt, und ob die überlieferten Tatsachen auf diese Weise eine befriedigende Erklärung finden. Das ist nun tatsächlich der Fall. Zunächst schwindet auf diese Weise folgende Schwierigkeit. Candramati's Werk ist unvergleichlich dürftiger als das Prasastapāda's. Wenn es jünger wäre, wäre es also schwer zu verstehen, daß es Hiuantsang übersetzte und daß sein Schüler K'ouei-ki Candramati als namhaften Autor nennt, während er Prasastapāda überhaupt nicht kennt. Dagegen ist das alles verständlich, wenn das Daśapadarthaśāstram zu seiner Zeit ein altberühmtes Werk war, das Prasastapāda noch nicht verdrängt hatte. Allerdings müssen wir uns dafür fragen, worauf diese Berühmtheit des Werkes beruhte. Denn auf den ersten Blick und vor allem im Vergleich zu Prasastapāda's Padarthadharmasamgrahaḥ macht es keinen besonderen Eindruck. Aber auch das findet unter den von uns angenommenen Voraussetzungen seine Erklärung. 33) Vgl. meinen Aufsatz Zu den Fragmenten buddhistischer Logiker im Nyāyavārttikam" (WZKM Bd. 40/1933, S. 281 ff.). 34) Nan hai ki koueì nei fa tchouan, T 2125, k. 4, p. 229b 20. 35) Ebendort, p. 230a 6 f. Studia Indologica 6 81 Page #18 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Das Vaiseșika ist aus einer alten Naturphilosophie hervorgegangen. Erst allmählich hat sich auf dem Boden dieser Naturphilosophie die Kategorienlehre entwickelt, nach der dann das ganze System umgestaltet wurde. Diese Geschichte des Systems spiegelt sich deutlich in den Sūtren. Neben Abschnitten, welche die alte Naturphilosophie noch rein wiedergeben, stehen solche, die die Spuren späterer Umarbeitung tragen, und dazwischen immer wieder Einschübe aus den verschiedensten Zeiten, in denen die Kategorienlehre niedergelegt ist. Daher stammt auch das bunte Aussehen des Werkes und man hat es nicht mit Unrecht als den unübersichtlichsten unter den alten Sūtra-Texten bezeichnet. Es ist nun klar, daß unter diesen Umständen die Darstellung der Lehre in den Sūtren auf die Dauer nicht genügen konnte, und daß auch Darstellungen in Kommentarform, welche sich an die Sūtren anlehnten, unbefriedigend ausfallen mußten. Es war das dringende Bedürfnis nach einer neuen Darstellung gegeben, welche den Stoff in besserer übersichtlicher Form brachte und welche vor allem die Kategorienlehre, die allmählich zum Hauptbestandteil des Systems geworden war, zusammenfassend behandelte. Das Daśapadārthaśās. tram Candramati's ist nun ein Werk, welches diese Forderungen erfüllt. Nehmen wir also an, daß Candramati der erste war, der den kühnen Schritt tat, sich von der Darstellung der Sūtren freizumachen und die Kategorienlehre in selbständiger Darstellung zu behandeln, so ist sein Ruhm verständlich. Denn tatsächlich war das ein entscheidender Schritt, welcher eine Umwälzung in der Geschichte des Systems bedeutete. Und so dürftig sich sein Werk neben dem Prasastapāda's ausnehmen mag, von diesem Gesichtspunkt aus gesehen war es eine bedeutende Leistung. Aber auch das Werk Prasastapāda's wird unter diesen Voraussetzungen erst recht verständlich. Wie kam er dazu, nach Candramati sein Werk zu schreiben? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns Folgendes vor Augen halten. Candramati's Werk war vom Standpunkt der Vaišeşika-Schule in doppelter Hinsicht anfechtbar. Zunächst hatte Candramati über die Kategorienlehre die alte Naturphilosophie vollkommen vernachlässigt. Besonders schwer aber wog folgendes. Candramati war in der Kategorienlehre von der orthodoxen Schule abgewichen und hatte an Stelle der herkömmlichen sechs Kategorien zehn gelehrt. Es ist verständlich, daß gerade der Mann, der den revolutionären Schritt tat, dem System über die Sūtren hinweg eine vollkommen neue Form zu geben, auch in anderen Dingen 82 Page #19 -------------------------------------------------------------------------- ________________ eigene Wege ging. Es ist aber ebenso verständlich, daß dies innerhalb der Schule zu einem Rückschlag führen mußte. Seine entscheidende Errungenschaft, die systematische Ausgestaltung und Darstellung der Kategorienlehre mußte natürlich beibehalten werden. Andrerseits aber mußte die orthodoxe Lehre wiederhergestellt werden. Und die von Candramati vollkommen vernachlässigte Naturphilosophie mußte wieder zur Geltung gebracht werden und in dem Rahmen der neuen Darstellung ihren Platz finden. Gerade das ist es aber, was das Werk Prasastapāda's leistet. Es ist somit als Antwort der orthodoxen Schule auf Candramati's Verstöße gegen die alte Schullehre zu verstehen. Und vieles in ihm gewinnt erst so gesehen seine rechte Bedeutung. Ein charakteristischer Zug Prasastapāda's ist es z. B., daß er die vorgetragenen Lehrsätze immer durch Hinweise auf die einschlägigen Sūtren zu belegen sucht. Das ist sonst in dieser Weise nicht gebräuchlich. Nun wird uns der Sinn dieses Verfahrens klar. Er wollte Candramati gegenüber die orthodoxe Lehre der Schule wiederherstellen. Und daher war es für ihn wichtig nachzuweisen, daß das, was er brachte, wirklich alte Lehre war. Zu unserer Auffassung, daß sein Werk jünger ist als das Candramati's, paßt ferner auch die bessere Anordnung und die sorgfältigere Durcharbeitung des Stoffes. Es paßt dazu aber auch, daß sich in ihm bereits die Scholastik ankündigt, welche bald nachher zur Erstarrung des Systems führte 36). Wir sehen also, daß bei dem von uns angenommenen zeitlichen Verhältnis der Werke Candramati's und Prasastapāda's die Gegebenheiten der Überlieferung eine befriedigende Erklärung finden. Die Geschichte des Vaiseșika in diesem Zeitraum stellt sich somit, wenn wir die gewonnenen Ergebnisse nochmal kurz zusammenfassen, folgendermaßen dar. In den ersten nach christlichen Jahrhunderten hatte das Vaisesika die Kategorienlehre geschaffen und die alte Naturphilosophie des Systems nach ihr umgestaltet. Diese Entwicklung hatte ihren Niederschlag in den Sūtren gefunden. Denn man hatte nach allgemeinem Brauch die alten Sūtren immer wieder erweitert und umgeformt, so wie es die Weiterbildung der Lehre erforderte. Aber gerade beim Vaiseșika war diese Anpassung an das Neue besonders schwer. Die Kategorienlehre war etwas so Andersartiges, von der Naturphilosophie voll 36) Vgl. dazu meine Darstellung des Vaiseșika im 2. Band meiner Geschichte der indischen Philosophie, Salzburg 1956, S. 189 ff. Page #20 -------------------------------------------------------------------------- ________________ kommen Verschiedenes, daß sie nicht einfach durch einige Zusätze an die alte Lehre angeschlossen werden konnte. Und so wurden die Sütren durch die Umarbeitungen unübersichtlich und schwer verständlich, ohne daß der' beabsichtigte Zweck wirklich erreicht worden wäre. Es erwies sich daher immer dringender als notwendig, dem System eine vollkommen neue Form zu geben, welche dem neuen Inhalt entsprach. Der Mann, der diesen Schritt tat, war Candramati (zwischen 450 und 550 n. Chr.). In seinem Daśapadārthaśāstram gab er die überlieferte Form der Lehre vollkommen auf. Dafür stellte er die Kategorienlehre, welche zum Hauptgegenstand des Systems geworden war, in den Mittelpunkt seiner Darstellung und paßte die Anordnung des Stoffes ausschließlich ihr an. So fand die Kategorienlehre zum erstenmal eine planvolle abgerundete Behandlung und wurde in allen Teilen gleichmäßig ausgestaltet. Es war dies eine umwälzende Tat und bedeutete für das System einen großen Fortschritt. Aber wie es bei solchen Neuerungen gewöhnlich zu geschehen pflegt, sein Werk hatte auch seine Schwächen. Er hatte in einseitiger Betonung der Kategorienlehre den übrigen Inhalt des Systems, die alte Naturphilosophie, weitgehend vernachlässigt. Auch sonst erwiesen sich ergänzende Zusätze und Verbesserungen als notwendig. Und vor allem, Candramati hatte als der kühne Neuerer, der er war, sich auch nicht gescheut, die hergebrachte Lehre der Schule zu ändern, und hatte an die Stelle der herkömmlichen Zahl von sechs Kategorien zehn gesetzt. Alles das drängte zu einer Änderung, und diese kam auch. Und zwar vollzog sie Prasastapāda (etwa 550—600 n. Chr.) in seinem Padārthadharmasamgrahaḥ. Prasastapāda baute auf dem Werk Candramati's auf, aber er ergänzte und verbesserte. Er gab der Darstellung eine bessere Gliederung, indem er die Kategorien systematisch nach ihren gemeinsamen und besonderen Eigenschaften behandelte. Er arbeitete in den Rahmen, den Candramati gegeben hatte, die gesamte Uberlieferung der Schule ein, indem er die ganze Naturphilosophie aufnahm. Auch sonst füllte er die Lücken, die Candramati gelassen hatte. Vor allem aber stellte er gegenüber den Abweichungen Candramati's die orthodoxe Lehre der Schule in ihrem vollem Umfang wieder her, und belegte die Übereinstimmung seiner Darstellung mit der hergebrachten Schullehre, indem er jeweils zur Bestätigung der vorgetragenen Lehrsätze auf die einschlägigen Sūtren verwies. Dabei legte er auch großen Wert auf die sprachliche Formung, was sich bis in die Wortwahl geltend macht. 84 Page #21 -------------------------------------------------------------------------- ________________ So schuf er ein Werk, welches den ganzen Inhalt des damaligen Systems in seltener Vollkommenheit darbietet, und das, so wenig es vielleicht dem europaischen Geschmack zusagen mag, eine der ganz grossen Leistungen der indischen philosophischen Systematik darstellt. Allerdings zeigen sich bei ihm auch bereits die Anfange der Scholastik, die bald nachher das klassische Vaisesika-System erstarren liess. Und so bildet sein Werk nicht nur in grossartiger Zusammenfassung den glanzenden Abschluss des alten Systems sondern leitet auch gleichzeitig den Verfall ein. Damit ist unsere Untersuchung beendet. Es ist uns nicht nur gelungen, das zeitliche Verhaltnis der Werke Candramati's und Prasastapada's zu bestimmen, sondern es war uns daruber hinaus moglich, einen Blick in die Entwicklung des VaisesikaSystems wahrend des letzten Abschnitts der klassischen Zeit zu werfen. Und damit ist wieder ein Schritt zur Wiedergewinnung der grossen philosophischen Systeme der klassischen Zeit getan, welche uns durch die Ungunst der Uberlieferung zum groBen Teil verloren sind, und deren Wiedergewinnung zu den wichtigsten Aufgaben der indischen Pilosophiegeschichte zahlt. 85