Book Title: Anmerkunjen Zu Einer Buddhistichen Texttradition Parlokasiddhi
Author(s): Ernst Steinkellner
Publisher: Ernst Steinkellner
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Page #1 -------------------------------------------------------------------------- ________________ ERNST STEINKELLNER ANMERKUNGEN ZU EINER BUDDHISTISCHEN TEXTTRADITION: PARALOKASIDDHI Anlaß der folgenden Bemerkungen ist die Handschrift Nr. 616.1 der „Stein Collection of Tun-huang manuscripts" in der India Office Library zu London. Es handelt sich um das Fragment einer Sammelhandschrift, die aus der vermauerten Bibliothek in der Grotte A 17 von Tun-huang stammt und mit vielen anderen von SIR AUREL STEIN bei seiner zweiten Expedition, 1906–1908, erworben wurdel Tun-huang, der westchinesische Vorposten an der Seidenstraße und alter Sammelpunkt aller Kulturströme Asiens, hat uns mit seinem „1000-Buddha-Kloster" (Chien-fo-tung) nicht nur ein gewaltiges kunstgeschichtliches Erbe hinterlassen, sondern mit der 1 Uber diese Expedition informiert STEIN in Ruins of desert Cathay: Personal narrative of explorations in Central Asia and Westernmost China, 2 Bde., London 1912; und in Serindia: Detailed report of Exploration in Central Asia and Westernmost China, 5 Bde., Oxford 1921. 2 PAUL PELLIOT, Mission Pelliot en Asie Centrale I : Les grottes de Touen-houang, 6 Bde., Paris 1922-1924. Von den vielen neueren chinesischen und japanischen Veröffentlichungen sei der prachtvollen Fotos wegen besonders genannt: Chugoku Sekkutsu. Tonko Bakuko-kutsu, 5 Bde, Tokyo 1980-1982. Page #2 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 80 wohl vor der Mitte des 11. Jahrhunderts vermauerten Bibliothek 3 auch eine der größten Sammlungen der literarischen Kultur Zentralasiens4. Neben den vielen tausenden chinesischen Texten nehmen die tibetischen Handschriften mengenmäßig die zweite Stelle ein; daneben finden sich z. B. im Pariser Fonds Pelliot alttürkische, soghdische, khotansakische, Sanskrit-Handschriften und sogar ein hebräisches Fragment. Die tibetischen Handschriften sind von besonderer Bedeutung nicht nur als solche, sondern auch für die tibetische Sprachgeschichte, weil es sich um Abschriften des 8. bis 11. Jahrhunderts in alttibetischer Sprache handelt, bei denen die im frühen 9. Jahrhundert durchgeführte zentraltibetische Orthographie- und Terminologie-Reform nicht berücksichtigt worden ist. Sie stellen damit neben den zentraltibetischen Inschriften das einzige große Korpus des ältesten tibetischen Schrifttums dar. Man hat natürlich diese Bibliothek in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Auffindung vor allem nach ,,Schätzen“ durchsucht. Dabei wurde viel Sensationelles gefunden und bearbeitet. Aber schon 1966 betrachtete FUJIEDA die Zeit des ,,treasure-seeking“ als abgeschlossen. Das stimmt sicher für die Methode der Bearbeitung dieser Sammlungen; „Schätze“ aber gibt es offenbar immer noch, wenigstens auf dem Gebiete der religiös-philosophischen Literatur. Der Text, den ich heute kurz vorstellen möchte, ist so ein ,,Schatz". Er trägt den Titel 'Jig-rten pha-rol sgrub/bsgrub-pha, das ist * Paralokasiddhi auf Sanskrit, das heißt „Nachweis der anderen Welt". Als Autor ist ein bisher unbekannter Prajñāsena angegeben. Der Text ist in seiner Art einzig, und ich hoffe, daß ich ihn in absehbarer Zeit mit der Lösung wenigstens einiger der lehrreichen 3 Für die Vermauerung wurden verschiedene Gründe angeführt: der Angriff der Tanguten in 1035 (P. PELLIOT, Une bibliothèque médiévale retrouvée au Kangou, BÉFEO 8, 1908, 506), oder es handle sich um ein ,,deposit of sacred waste" (M. A. STEIN, Serindia II, 820). Zum Zeitpunkt der Vermauerung vor oder während 1035 und zur Erklärung des Vorhandenseins späterer Manuskripte in der Bibliothek" zuletzt A. RÓNA-TAS, A brief note on the chronology of the Tun-huang collections, AOH 21, 1968, 313-316. 4 Einen allgemeinen Überblick über Forschungsstand und Probleme vermittelt FUJIEDA AKIRA, The Tunhuang Manuscripts. A General Description, Zinbun, Memoirs of the Research Institute for Humanistic Studies - Kyoto University, 9, 1966, 1-32; 10, 1969, 17–39. Vgl. ferner PAUL DEMIÉVILLE, Récents travaux sur Touen-Houang, Toung Pao 56, 1970, 1—95; und JA 269, 1981, fasc. 1 et 2 (Numéro spécial, Actes du Colloque international: Manuscrits et inscriptions de Haute Asie du Ve au XIe siècle). 5 Ibid. (1966), 1. Page #3 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 81 Probleme, die er birgt, unserer Kommission vorlegen kann. Er ist kurz. Nur sieben beidseitig in der alten tibetischen Kursive beschriebene Folios zu vier Zeilen im länglichen Pothi-Format, mit einem markierten Schnürloch. Neben dem Text enthält die Handschrift - offenbar von derselben Hand geschriebene interlineare Glossen, die anfangs reichhaltig sind, dann immer spärlicher werden. Inhaltlich ist der Text ein Beispiel für die Art, wie buddhistische Lehrstücke mit langer und oft auch sehr differenzierter scholastischer Tradition schließlich auch auf recht einfache Weise zusammengefaßt worden sind, um so die Ergebnisse der theoretischen Arbeit für die Belehrung und Überzeugung nutzbar zu machen. Und gerade dieser, von der Aufgabe der Vermittlung bestimmte Charakter macht unseren Text in besonderem Maße interessant. Bisher hat man nämlich nur einen einzigen Text desselben Namens gekannt, die Paralokasiddhi des Dharmottara. Sie wurde um 800 n. Chr. verfaßt und ist in einer tibetischen Übersetzung des 11. Jahrhunderts erhalten. Das kleine Werk ist ein reichlich schwieriger Essay zum Nachweis der Kontinuität des Bewußtseinsstromes, und damit natürlich auch der Wiedergeburt. Er wurde von G. ROERICH ins Englische übersetzt?, allerdings mit Mißverständnissen; auch fehlt bis heute eine kritische Textausgabe 8. Diese Paralokasiddhi wurde von den Redaktoren des tibetischen Kanons in die Abteilung „Erkenntnistheorie" (Tshad-ma) aufgenommen. Und das ist berechtigt, weil uns hier ein typisches frühes Beispiel für die verschiedenen „Beweis-Traktate" vorliegt, die in der erkenntnistheoretisch-logischen Schule seit dem 8. Jahrhundert entstanden sind. Von ganz anderer Art ist dagegen unsere Paralokasiddhi. Sie stammt aus einer Tradition, die zwar auch in der erkenntnistheoretisch-logischen Schule ihren Widerhall gefunden hat, aber doch deutlich nicht nur zeitlich über die Anfänge dieser Schule zurückliegt, sondern sich auch methodisch und inhaltlich wesentlich von den Beweis-Traktaten dieser Schule unterscheidet. Es handelt sich bei unserem Text um einen mahāyānistischen Traktat, der in seiner Methodik jenen Kategorien verpflichtet ist, wie wir sie aus dem 10. Kapitel des Samdhinirmocanasūtra kennen. 6 Peking Edition Nr. 5749, übersetzt von Bhavyarāja und Pha-tshab Ni-ma-grags. 7 Indian Culture 15, 1948-1949, 213—22 (ungesehen); Neudruck in G. N. RE RICH, Izbranniye Trudy, Moskva 1967, 235-240. 8 Eine solche Ausgabe wird von mir vorbereitet. Page #4 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 82 Auf diese Tradition unserer Siddhi komme ich später zurück. Zunächst einige Bemerkungen zum Text selbst, die wenigstens andeuten sollen, wie vielschichtig sein Interesse ist. Als erstes : Kann man den Text zeitlich einordnen? Läßt sich der Autor fassen? Es hat offensichtlich im 8./9. Jahrhundert mehrere Texte des Titels Paralokasiddhi gegeben. Eine Analyse der vorliegenden Informationen werde ich andernorts vorlegen. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist folgendes: Als der erkenntnistheoretisch-logischen Schule zugehörig sind zu bewerten: 1. die im tibetischen Kanon erhaltene Paralokasiddhi des Dharmo ttara (P 5749). 2. Der gleichnamige, aber nicht erhaltene Text, der im 812 oder 824 zusammengestellten Katalog der königlichen PalastBibliothek von Han-dkar zusammen mit einem Kommentar angeführt wird ('Jig-rten pha-rol grub-pa, Lalou 715; de'i grel-pa, Lalou 716). Als ,,Mahāyānistische Traktate" (nach dem Titel der Abteilung XXV im Han-dkar-Katalog) sind zu bewerten: 3. die im Han-dkar-Katalog (Lalou 680) genannte 'Jig-rten pha-rol bsgrubs-pa des mKhan-po Ye-ses-sde. Sie ist für die Beurteilung dieser Literatur deshalb wichtig, weil es sich nicht um eine Übersetzung aus dem Sanskrit handelt, sondern um ein tibetisches Originalwerk. Ye-ses-sde war nämlich ein bedeutendes Mitglied der zentraltibetischen Übersetzungsschule zu Ende des 7. und Anfang des 8. Jahrhunderts. Neben seinen vielen Übersetzungen hat er auch selbständige Werke verfaßt, von denen einige sogar erhalten sind 10. Sie gehören zur ältesten tibetischen Originalliteratur. Sein Name lautet Jñānasena auf Sanskrit, und er wurde auch gelegentlich in dieser Form bezeichnet. 4. Dazu kommt nun die 'Jig-rten pha-rol sgrub-pa des Prajñāsena aus der Londoner Sammlung. Zum Autor hier nur soviel: Er wird in der Glosse 1 genannt und als slob-d pon, das ist ācārya, Lehrer bezeichnet. Das wird oft für einen für indische Gelehrte 9 Zu Ye-ses-sde vgl. die Angaben bei D. SEYFORT RUEGG, Autour du lTa ba'i khyad par de Ye šes sde (Version de Touen-Houang, Pelliot tibétain 814), JA 269, 1981, (207—229) 211; ferner JEAN NAUDOU, Les bouddhistes kaśmiriens au Moyen Age, Paris 1968, 86 ff. 10 Vgl. D. SEYFORT RUEGG, loc. cit., 212, Anm. 20. Page #5 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 83 reservierten Titel gehalten, er konnte aber auch für Tibeter verwendet werden 11. Irgendwelche Hinweise auf eine Übersetzung oder die Übersetzer gibt es nicht. Einer einfachen Identifizierung mit dem Text des Ye-ses-sde (= Jñānasena!) stehen entgegen: der unterschiedliche Umfang der beiden Texte (960: ca. 2000 Silben) und die fast undenkbare Verwechslung der beiden in bedeutendem terminologischen Gebrauch stehenden Wörter jñāna und prajñā, deren tibetische Entsprechungen, ye-ses und ses-rab, jedenfalls um diese Zeit feststanden und nicht ver wechselt wurden. 5. Schließlich ist aus der Einleitungsglosse zu unserem Text ein Paralokas ddhi-Text des Subhagupta (ca. 720—780) zu erschließen, der als Vorbild für das Werk des Prajñāsena bezeichnet wird 12. Dieses Werk könnte auch im Katalog von Han-dkar unter dem Titel Pha-rol-gyi yul grub-pa (Lalou 713) genannt sein, denn FRAUWALLNERS Identifizierung dieses Titels mit Subhaguptas Bähyārthasiddhi 13 halte ich nicht für zwingend. Es sind uns also, neben unserem Text, noch drei indische Texte des gleichen Titels bekannt, die ins Tibetische übersetzt worden sind, und einer, der originaltibetisch ist. Alle anderen Texte sind zwischen der Mitte des 8. Jahrhunderts und dem Anfang des 9. Jahrhunderts verfaßt. Für unseren Text kommt grundsätzlich die Zeit zwischen dem Ende des 8. Jahrhunderts und dem Anfang des 11. Jahrhunderts (1035) in Frage; daß es aber wohl auch für die Abfassung unseres Textes nur zu Anfang dieser Periode ein gutes Motiv gibt, glaube ich noch zeigen zu können. Der Autor ist, wie gesagt, sonst nicht bekannt. Was uns zur nächsten Frage bringt: Haben wir es überhaupt mit einer Übersetzung aus dem Sanskrit zu tun, oder mit dem Originalwerk eines tibetischen Verfassers? 11 Vgl. die gelehrten Tibeter Bai-ro-tsa-na-raksita, Klu'i rgyal-mtshan, Pra-sa-sde se na, bKra-sis in Ba-stons bsTan-'gyur-gyi dkar-chag (ed. NISHIOKA Soshū, Buston Bukkyo-shi mokuroku-bu sakuin, I-III. Tokyo-Daigalu-Bungakubu Bunka-kõryű-kenkyū-shisetsu Kenkyū Kiyo 4, 1980, 61-92; 5, 1981, 43—94; 6, 1983, 47—201) III, 115. 12 Nach unserer bisherigen Kenntnis von Subhaguptas Schaffen ist zwar die sich hier aufdrängende Klassifizierung eines seiner Werke als ,,mahayanistisch" schwer denkbar, aber im besonderen Fall - nicht problematisch. 13 E. FRAUWALLNER, Zu den buddhistischen Texten in der Zeit Khri-sron-ide btsan's, WZKS 1, 1957, (95—103) 99. Page #6 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 84 Die Beantwortung dieser Frage ist leider beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht einfach. Die Anziehung sprachlicher Kriterien zu ihrer Entscheidung ist z. B. fast unmöglich, und zwar aus folgendem Grund: Während es nämlich zwischen der Sprache der religiösen Übersetzungstexte und der der weltlichen originaltibetischen Texte klar erkennbare Unterschiede nicht nur im Wortschatz, sondern auch in der Syntax gibt, sind solche Unterschiede innerhalb der religiösen und gelehrten Texte, seien sie übersetzte oder originaltibetische, nicht oder kaum feststellbar. Man bediente sich auch als Tibeter bei der Abfassung eines Textes dieser Art der nämlichen Sprache, die man von der Welt der übersetzten Texte her als inhaltsentsprechend gewöhnt war. Diese Form der tibetischen Schriftsprache wird gewöhnlich treffend als Chos-skad. (,,Religionssprache“) bezeichnet 14. Es bleiben also die textlichen Kriterien, bei denen ich für unsere Zwecke formale und inhaltliche unterscheide. Sie sind deshalb nicht so eindeutig wie die sprachlichen, weil sie voraussetzen, daß man nicht nur den Text richtig verstanden hat, sondern auch den richtigen Kontext zum Vergleich anziehen kann – dieser ist ja unter Umständen auch überhaupt nicht mehr oder nur noch lückenhaft vorhanden. Daß aber Entscheidungen auf Grund solcher Kriterien möglich sind, möchte ich an Hand der Beurteilung der Glossen zeigen. Es ist nämlich auch bei den Glossen keineswegs von vorneherein klar, daß es sich um eine originaltibetische Arbeit handelt, denn wir kennen auch den Fall, daß Glossen einfach Auszüge aus Kommentaren sind, die ihrerseits übersetzt worden sind. Von den Gründen, die ich für tibetische Autorschaft bei den Glossen anführen kann, sei nur ein Beispiel gebracht, weil es zeigt, wie gerade der Versuch des Glossisten sich besonders traditionell und ,,indisch“ zu geben, sein Tibetertum enthüllt. In der Glosse 4 wird der Terminus mu-stegs-can erklärt, mustegs-can ist die übliche Entsprechung für Skt. tirthika, ein Wort, das im buddhistischen Kontext Vertreter der verschiedenen indischen Religionen bezeichnet, soweit sie nicht Buddhisten sind, und das zum Wort tirtha- „Furt, ritueller Badeplatz, Wallfahrtsort“ gehört. Die im lexikalisch-etymologischen Werk des sGra-sbyor bam-po gñis-pa (= Madhyavyutpatti) erhaltene indische Etymologie des 14 Vgl. SEYFORT RUEGG, loc. cit., 228. Page #7 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 85 Wortes (*tirthe vidyate *tīrthika iti,,,in der Furt befindet er sich, so heißt er t.") (SIMONSSON p. 276) ist nach Panini 4. 3. 53 (tatra bhavaḥ) ganz gewöhnlich. Die beigegebene, von den tibetischen Redaktoren entworfene Erklärung der Übersetzung durch mustegs-can ist zwar nicht ganz einleuchtend, doch ist durch das Wort stegs,,Brett, Stütze", das als ,,in den See des Nirvāṇa führende Brücke" verstanden wird, immerhin der semantische Zusammenhang mit der indischen Etymologie erhalten. Die Erklärung des Wortes durch unsere Glosse gibt sich hingegen ganz dem traditionellen Geist der schematisierenden Beurteilung der Andersgläubigen verpflichtet, wenn sie sagt:,,,mustegs-can heißen sie, weil sie sich (in ihren Lehren) an die beiden Extreme (mu) von ewig (rtag) und vernichtet (chad) halten." Diese Erklärung bezieht sich also auf das alte Schema von den beiden Extremen der abzulehnenden nichtbuddhistischen Lehrpositionen. Das ist an und für sich keine schlechte Erklärung, sie beruht aber auf einer grob äußerlichen Identifizierung der tibetischen Silben (8)teg(s) und (r)tag, sowie can und chad, und kann natürlich nicht von einer ursprünglich indischen Erklärung herge leitet werden. Diese und andere Beobachtungen erweisen die Glossen klar als tibetische Schöpfung, und ich sehe keinen Grund, der dagegen spricht, daß sie vom Schreiber dieses Teils der Sammelhandschrift selbst stammen und der Schreiber der Handschrift auf diese Weise mündlich erhaltene Erklärungen notiert hat. Im Falle des Grundtextes sind es vor allem formale Gründe, die dafür sprechen, daß wir es mit einem tibetischen Originalwerk zu tun haben. So fehlt z. B. eine kurze Einleitung, die Gegenstand, Anlaß und Nutzen des Werkes angibt. So etwas kann gewöhnlich überhaupt nur fehlen, wenn das Werk sofort mit der Darstellung einer gegnerischen Auffassung (parvapaksa) beginnt, die widerlegt werden soll. Aber auch das ist hier nicht der Fall. Vielmehr beginnt das Werk und das ist für indischen Brauch ganz ungewöhnlich mit einer kurzen Einführung der wenigstens teilweise anerkannten Lehren (siddhänta). Erst dann folgen die gegnerischen Möglichkeiten (purvapaksa) und die in einer Untersuchung dieser Lehren bestehende Widerlegung (dasana). Schließlich ist das System der Darstellung der gegnerischen Positionen in einer Weise in Unordnung, wie es von der gelehrten indischen Tradition der in Frage kommenden Zeit nicht erwartet werden kann. Page #8 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 86 Kurz, im einzelnen nicht zwingende, im ganzen aber doch deutliche Hinweise darauf, daß auch der Grundtext keine Übersetzung aus dem Sanskrit ist, sondern ein tibetisches Original 15, Nun aber zurück zur erwähnten,,Tradition unseres Textes". Als solche möchte ich im besonderen diejenige Tradition bezeichnen, in der einzelne Argumente und zusammenhängende Argumentationen für die Existenz einer,,anderen Welt", der Wiedergeburt also, entwickelt worden sind. Auf diese Argumente selbst kann ich heute nicht eingehen, das wäre ein eigener Vortrag. Sie sind übrigens nicht besonders überraschend und stützen sich einerseits auf die Beobachtung von offenbar nicht erlernten Fähigkeiten und Kenntnissen bei Neugeborenen, von unerklärlichen Unterschieden bei Geschwistern mit gleicher Ernährung usw.; andererseits wird vor allem gezeigt, daß Bewußtsein, Erkenntnis, nicht aus ewigen Ursachen wie Gott usw. entstehen kann und auch nicht aus Nichterkenntnisartigem wie aus den Elementen. Um nun die Entwicklung dieser Argumentationstradition deutlich werden zu lassen, muß ihr Milieu kurz skizziert werden. Ich vereinfache dabei grob, was systematisch wie historisch entschieden differenzierter ist. Ich kann mich aber auf die vereinfachenden Schemata stützen, wie sie in den doxographischen Werken der Buddhisten selbst für die Beschreibung der unterschiedlichen Positionen entworfen worden sind. Diese Positionen sind in ihren wesentlichen Zügen bereits für die Zeit des Auftretens des Buddha Sākyamuni zu erkennen. Sie charakterisieren die verschiedenen Lösungen, die man für die alles bewegenden alten Fragen nach der Quelle des Lebens und nach dem. Schicksal nach dem Tode, und nach dem, der all dies trägt, gefunden hat. Noch aus der spätvedischen Periode ererbt ist die Anschauung vom Dasein der Lebewesen als anfanglose Abfolge von Geburt und Tod und wieder Geburt, als von Ewigkeit her bestehende Wanderung im Kreislauf von Werden und Sterben, für die auch ein Ende normalerweise nicht anzunehmen ist. Immer wieder gelebt zu haben, und immer wieder sterben zu müssen, war dem Inder eine erschreckende Wirklichkeit; und die Idee der Wiedergeburt war 15 Eine genaue Darlegung dieser Argumente wird die Einleitung zur geplanten Ausgabe enthalten. Page #9 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 87 daher nicht nur Grundlage seines Weltverständnisses, sondern auch Ausgangspunkt für das Streben zur Überwindung dieser Welt. Allgemein durchgesetzt hat sich um diese Zeit auch die Auffassung, daß die Art und Weise, die Qualität der jeweiligen Existenz in diesem Kreislauf von den guten und schlechten Werken (karman) bestimmt wird. Der Terminus loka 16, der auch im Titel unseres Traktates vorkommt und den man am besten mit „Welt“ wiedergeben wird, bedeutet ursprünglich „Lichtung, freier, offener Platz, der hell ist und in der Wildnis Dasein und Ausschau ermöglicht“. Durch „Welt“ wiedergegeben für den indischen Kontext seit der spätvedischen Zeit, und dann besonders in Zusammenhang mit der Idee des ewigen Sterbens und Geborenwerdens, bezeichnet er die in räumlicher und zeitlicher Unterschiedenheit möglichen Sphären für entsprechende Weisen des Daseins, Existenzformen, die Welt der Väter (pitsloka) etwa, die Welt der Götter (deva-, svargaloka), die Welt der Opferfrucht (sukrtasya loka). .. Schließlich wird der Charakter des Verschiedenseins all dieser möglichen Welten von der jeweils diesseitigen Welt (ihaloka) verallgemeinert durch das Wort para- „andere" bezeichnet. In der ältesten Zeit des Buddhismus ist dann z. B. die „andere Welt“ vor allem eine gleichzeitig mit unserer hiesigen Welt bestehende andere Daseinssphäre, die Höllen etwa, oder verschiedene Meditationssphären. Das heißt, der Terminus wird zunächst vor allem in kosmologischem Sinn verwendet. Dann aber scheint der für die Soteriologie wichtigere Gebrauch zu überwiegen: die „andere Welt“ ist dann die ,,frühere, die der jetzigen vorangegangene Existenz", und die „spätere, die auf die jetzige folgende Existenz". Wurde nun auch die Idee des Existenzkreislaufes als sozusagen „angeborene" Grundanschauung zunächst nicht kritisch vertreten, so war es doch nötig, die Art und die Bedingungen des Kreislaufs zu untersuchen, herauszufinden also, wie dieser Kreislauf überhaupt möglich sei. Die Beantwortung dieser Fragen schloß eine Antwort auf die Frage ein, wer oder was eigentlich in diesem Kreislauf wandere. Es sind -- aber, wie gesagt, nicht mit dem Anspruch auf historische und systematische Vollständigkeit, sondern nun schon von den doxographischen Vereinfachungen der Buddhisten her formuliert --- drei wesentlich verschiedene Positionen zu unterscheiden: 16 Vgl. J. GONDA, Loka: World and Heaven in the Veda, Amsterdam 1966; zuletzt STEVEN COLLINS, Selfless persons, Cambridge 1982, 44 ff. Page #10 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 88 1. Die der brahmanischen und frühhinduistischen Auffassungen, sowie die der Jainas: Im Kreislauf wandern die ewigen Seelen (atman, jiva, pudgala usw.); unter der Leitung verschiedener ewiger Demiurgen (Isvara, Brahman, Siva usw.) bilden sich Lebewesen und Welt; Opfer-Werk und rituelle Observanzen bestimmen das Schicksal der Lebewesen oder — bei den Jainas — jegliches Werk an sich. 2. Dagegen lautet die buddhistische Position 17: Was im Kreislauf wandert, ist keine ewige Seele. Was wir als „irdische Persönlichkeit“ fassen können, ist nur ein Konglomerat von selbständigen, nur für einen Augenblick bestehenden psychischen und physischen Konstituenten (skandha). Von ihnen gehen die physischen und die meisten psychischen Konstituenten nicht vom Augenblick des Todes in ein nächstes Dasein über. Nur das Erkennen (vijñāna) setzt sich fort. An Stelle einer ewigen Seele ,,wandert" also scheinbar ein Bewußtseinsstrom (cittasantāna). Aber weil dieser Strom als eine nur kausal zusammenhängende Reihe von Erkenntnisphasen gedacht ist, wandert streng genommen gar nichts; nur die Kette von Ur-. sache und Wirkung setzt sich fort. An Stelle eines „Übergehens" (samkrānti) von einem Dasein zu einem anderen, steht die Idee der Verursachung eines neuen Daseins (punarbhava). 3. Beiden Auffassungen steht die aus den frühen skeptischen Richtungen entstandene des klassischen Materialismus 18 gegenüber: Es gibt nur diese Welt, und keine andere, aus der man kommen oder in die man gehen könnte. Und eine ewige Seele ist so wenig erkennbar, wie ein von den materiellen Elementen verschiedenes Erkennen. Der Geist ergibt sich aus den Elementverbindungen, die man als Körper, Sinnesorgane und Sinnesobjekte unterscheiden kann, so wie die Rauschkraft sich aus der Hefe ergibt. Diese, schon für die letzten vorchristlichen Jahrhunderte anzunehmenden 19 Grundgedanken bildeten eine brauchbare Ergänzung für die politische Theorie. Die sich seit der Maurya-Zeit, ca. ab dem 4. vorchr. Jahrhundert ausbildende systematische indische Staatslehre ist nämlich durch einen konsequenten „Macchiavellismus" charakterisiert, ohne alle moralische Bedenken in der Wahl der Mittel und Ziele. Und von der Verbindung mit der politischen Theorie her rührt wohl die Tatsache, daß die materialistische Tra 17 Vgl. neuere Arbeiten wie RUNE E. A. JOHANSSON, The Dynamic Psychology of Early Buddhism, London-Malmö 1979, 144 ff.; ST. COLLINS, loc. cit. 18 Zum Sinn dieser Bezeichnung in der indischen Tradition vgl. E. FRAUWALLNER, Geschichte der indischen Philosophie II, Salzburg 1956, 295. 19 Ibid., 296 ff., 302 f. Page #11 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 89 dition sehr früh Methoden der Widerlegung der Möglichkeit einer Wiedergeburt und des Vorhandenseins einer Seele entwickelt hat. In den kanonischen Schriften der Buddhisten und der Jainas sind die grausigen Experimente des Königs Pāyāsi/Paesi überliefert 20, die den Nachweis erbringen sollten, daß es keine Seele und daher keine Wiedergeburt gibt. Gegen die buddhistische Position, die ja eine Seele ebenfalls leugnete, wurde dann auch der Nachweis entwickelt, daß die Reihe der Erkenntnismomente nicht ununterbrochen andauern und sich nicht von einem Dasein in ein anderes Dasein fortsetzen könne21 Die apologetische Reaktion der Buddhisten ist zunächst eher praktischer Natur und wird beispielhaft vorgeführt durch die mutigen Versuche buddhistischer Mönche, verschiedene königliche Wüteriche von ihrem grausamen philosophischen Treiben dadurch abzuhalten, daß sie sie durch Parabeln oder -- noch besser — durch Wundertaten vom Vorhandensein einer Vergeltungsmöglichkeit überzeugen 22. . Schließlich wird aber auch mit Argumenten begründet, daß Untaten Folgen haben. Sie sollen die Notwendigkeit der Wiedergeburt und damit die mögliche Vergeltung aller Untaten darlegen 23. Erst relativ spät ist uns eine sekundäre Fassung solcher Argumente in der Paraloka kathā aus dem Kapitel XXIX der Jāta kamālā24 des berühmten Dichters Āryasura, 4. Jahrhundert nach Chr., erhalten. Sie werden übrigens dem König von einem aus dem BrahmanHimmel herabgestiegenen Gott vorgetragen. Der in dieser Paralokakathā vorliegende Nachweis der anderen Welt wird auf zweifache Weise geführt 25: durch Argumentation (yukti), die sich auf die Erkenntnismittel Wahrnehmung und Schlußfolgerung stützt; und durch vertiefende Auseinandersetzung (parikṣā) mit den von der 20 Dīghanikāya XXIII; vgl. E. FRAUWALLNER, loc. cit., 297 ff. 21 Diese Argumente sind erst verhältnismäßig spät belegbar (vgl. ibid., 305), aber sicher schon alt. 22 Vgl. die Parabeln des Kumāra Kassapa im Pāyāsi Suttanta (Dighanikāya XXIII) oder das Verhalten des Mönches in der Geschichte von Asokas Henker Candagirika (Divyāvadāna XXVI). 23 Spätestens hier wird deutlich, daß die Kluft zwischen der Leugnung eines die Früchte der Taten erntenden Selbstes und der Annahme, daß das Gesetz der Tatvergeltung auch ohne ein betroffenes Selbst die Schicksale regelt, in der Praxis der Predigt nicht leicht zu überspringen gewesen sein wird. 24 193, 20—195, 2 (ed. KERN). 25 193, 22 f. ; ich folge dabei der Erklärung von Dharmakirtis Tīkā (Peking Edition 5651, 362 a 5). Page #12 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 90 Autorität gehörten Lehrinhalten, mit Stellen der kanonischen Überlieferung also. Das praktische Motiv ist wohl das wichtigste, das in der Periode des älteren, hinayānistischen Buddhismus zur Aufstellung solcher Argumente für die Existenz der Wiedergeburt geführt haben mag; und zwar einfach deshalb, weil der Mönchsorden auf die Wohlgeneigtheit oder wenigstens Neutralität der Machthaber angewiesen war. Es mußte daher immer versucht werden, auch den skrupellosesten König für die buddhistische 'Lehre einzunehmen und ihn womöglich zu einem nach buddhistischen Moralgesetzen regierenden König (dharmarājan) zu wandeln 26. Aber der eigentliche Anstoß zur Entwicklung von nicht nur apologetischen Argumentationen, sondern auch aktiven Beweisführungen für die Möglichkeit einer Wiedergeburt wird erst durch den Mahāyāna-Buddhismus gegeben. Nach diesem Typus des Buddhismus, der sich in den Jahrhunderten um Christi Geburt entwickelt hat, wird die eigene Befreiung vom Leiden des ewigen Kreislaufs so lange zurückgestellt, bis alle anderen leidenden Lebewesen diese Befreiung gewonnen haben. Der erste Grund für diese Entscheidung ist ein bis zur Vollkommenheit entwickeltes Mitleid (karunā) mit den leidenden Wesen, und eine bis zur Vollkommenheit entwickelte Allwissenheit (sarvajñatā) gewährleistet, daß der Bodhisattva — der Idealtyp dieses Buddhismus — den anderen Lebewesen auch tatsächlich in der ihnen entsprechenden Weise helfen kann. Die Entwicklung dieser heilsbringenden Eigenschaften, Heilstugenden, bis zur Vollkommenheit hin ist aber, wie man beobachten kann, nicht in einem einzigen Dasein möglich; sie ist nur in unendlich vielen Existenzen vorstellbar. Die Möglichkeit einer sehr langen Abfolge von Existenzen muß also gesichert sein, wenn das Ziel nicht vollständig irreal sein sollte. So wurde die Idee der unendlichen Abfolge von Geburten, um die von der Kontinuität der Entwicklung der Geistigkeit und der verschiedenen geistigen Tugenden bereichert, von einer Selbstverständlichkeit zu einer besonderen begleitenden Voraussetzung der religiösen Lebensführung des 26 Eine ähnliche Funktion für die Veränderung und Neuordnung individuellen Verhalteng weist GREGORY SCHOPEN für den jātismara der Mahāyānasūtren aus in The Generalization of an Old Yogic Attainment in Medieval Mahāyāna Sūtra Literature: Some Notes on Jātismara, JI ABS 6/1, 1983, (109147) 135 ff. Page #13 -------------------------------------------------------------------------- ________________ Mahāyānabuddhisten 26 a. Berücksichtigt man schließlich auch, daß in der allgemeinen kulturellen Entwicklung Indiens bis zu dieser Zeit ein Bewußtsein für das formale und regelmäßige Argumentieren (yukti, nyāya) sich gebildet hatte, ist das Erscheinen solcher beweisführenden Argumentationen ganz natürlich. In einem Mahāyānasūtra der mittleren Periode, dem Samdhinirmocanasūtra --- ca. 2./3. Jahrhundert n. Chr.27 -, wurden die das Vorhandensein einer anderen Welt, die Wiedergeburt beweisenden Argumente jedenfalls schon in der Methodologie berücksichtigt28. Den systematischen Endpunkt dieser Entwicklung, deren frühester Beleg das Samdhinirmocanasūtra ist, bringt das Aufkommen der erkenntnistheoretisch-logischen Schule im 6. Jahrhundert n. Chr., für die ein strenger Nachweis der Wiedergeburt 29 zu den grundlegenden System-Elementen gehört, sofern sie nämlich ihre eigentliche Aufgabe in einer philosophischen Begründung des Buddhismus sieht 30. Neben diesem von der erkenntnistheoretisch-logischen Schule entwickelten und verteidigten Beweis hat aber offenbar die durch die Methodologie des Samdhinirmocanasūtra bestimmte Argumentation ihre Gültigkeit, und vor allem ihren Wert für die Predigt und Überzeugungsdidaktik behalten 31. 26a Vgl. z. B. Prajñākaraguptas Feststellung zu Ende des Paralokasiddhi-Ab schnittes: ,,Daher ist durch den Nachweis der Kontinuität von Geburt und Tod, soferne es eine anfangs- und endlose Kausalreihe von (Phasen der) Geistigkeit gibt, die Möglichkeit der) Ubung (bis zur Vollkommenheit) erwiesen. Somit finden eben alle diese übungsfähigen Tugenden eine Möglichkeit (zu ihrer Entwicklung). Daher ist Allwissenheit oder eine andere Tugend möglich." (tato 'nādinidhane cittasantāne sati janmamarana prabandhasiddher abhyāsaprasiddhir ity ābhyāsikā gunah sarva evāvakāśam āsādayantiti sarvajñatānyo vā gunah sambhavati. PVBh 105, 29 f.) 27 Samdhinirmocana Sūtra. L'explication des mystères. Texte tibétain édité et tra duit par ÉTIENNE LAMOTTE. Louvain-Paris 1935, 24 f. 28 Ibid., X, 7, b (156, 10 f.). Die maßgebende Darstellung gibt Dharmakirti in Pramānavärttika II (pramā. nasiddhi) vv. 34119. Dazu vgl. NAMAI MAMORU, Köki Bukkyoto ni yoru Bārhaspatya hihan II rinne no ronshō o megutte (1) [Kritik der Bārhaspatya nach den späteren Buddhisten II — Uber den Beweis der (Seelen-)Wanderung 1], Indological Review 3, 1981, (59—78) 65—72 30 Vgl. E. STEINKELLNER, The Spiritual Place of the Epistemological Tradition in Buddhism, Nanto Bukkyo 49, 1982, 1-18. 31 Im zehnten Kapitel des Samdhinirmocanasūtra ist ,,un petit traité de logique" (LAMOTTE, préface, 24) eingeschoben ($ 7, 4, 7). Dieses Textstück ergänzt die Kategorien, die eingeführt werden, um den Lehrteil (mātņkā) der Verkündigung (desanā) zu gliedern. Hier findet sich unter den acht,,Untersuchungen" (brtag 29 D : Page #14 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 92 Diese Tradition ist uns zwar nur noch in einem späten Rest greifbar, dem einzigen erhaltenen Werk, der Paralokasiddhi des Prajñāsena eben; aber wir können gerade an diesem Werk ihre auch um rund 800 n. Chr. noch vorhandene Lebendigkeit feststellen. Die Paralokasiddhi überliefert nämlich nicht irgendwelche alten, in der Diskussion der Zeit längst überholten Inhalte, sondern die Ergebnisse der neueren, für das 7./8. Jahrhundert zu erschlieBenden Diskussion, also auch die Arbeit der erkenntnistheoretischen Schule, allerdings — und das unterscheidet sie -- im Rahmen der methodischen Formen der Samdhinirmocana-Tradition. . Auf Grund der diesbezüglichen Glosse muß man schließlich annehmen, daß auch das Werk des Subhagupta, das als Modell gedient haben soll, von derselben Art gewesen ist. Ebenso ist das Werk des Tibeters Ye-ses-sde, das sich im Han-dkar-Katalog unter der Gruppe der Mahāyānaśāstren findet, dieser Tradition zuzuordnen. Damit komme ich zu einer letzten Frage: Obwohl die literarische Tradition des Nachweises der Wiedergeburt eher am Rande -pa, parīksā) die der Argumentation (rigs-pa, nyāya). Von dieser Kategorie werden & 7, 4, 7 vier Argumentationsweisen unterschieden; die dritte wird ausführlich weiter gegliedert und erklärt. Die Darlegung dieser Kategorien bezeichne ich als die „Methodologie des Samdhinirmocanasūtra". Diese Methodologie behandelte zuletzt meines Wissens als erster KAJIYAMA YUICHI in seinem Beitrag Bukkyo chishikiron no keisei (= Die Ausbildung der buddhistischen Erkenntnistheorie) in: Köza - Daijōbukkyo 9, Ninshikiron to Ronrigaku, Tokyo 1984 (1—101), 5464. Die dritte der hier genannten Argumentationsweisen ist ,,die Argumentation, die im Nachweis durch (besondere) Argumente besteht' ('thad-pas sgrub-pa'i rigs pa, *upapattisiddhinyāya : *upapattisiddhanyāya LAMOTTE). Sie umfaßt den Einsatz der Erkenntnismittel (pramāna) Wahrnehmung, Schlußfolgerung und Uberlieferung, die in dem Terminus für diese Argumentationsweise durch das Wort ,,Argument" ('thad-pa, *upapatti) bezeichnet werden. Der upa pattisiddhinyāya des Samdhinirmocanasūtra ist also eine Beweismethode selbständiger Art, die nicht der Ergänzung durch ein Nachweisverfahren bedarf, das sich auf die Erkenntnismittel Wahrnehmung usw. stützt, sondern selbst dieses Verfahren umfaßt. Wenn er — wie im Falle unserer Paralokasiddhi — neben einer Untersuchungsmethode (brtag-pa, pariksā) mit den Erkenntnismitteln den größten Teil des Werkes, und den Anfangsteil sogar, einnimmt, dann kann man für diese ,,Tautologie der Methoden" nur die Tradition als Motiv anführen — ein wesentlicher Unterschied der Verfahrensweisen liegt ja nicht vor (vielleicht daß sich bei solchem Einsatz der beiden Methoden eine Unterscheidung von positiver und negativer Beweisführung angeboten hat): Die ältere, durch das Samdhinirmocanasūtra überlieferte Methodenordnung hat sich in bestimmten - jedenfalls mit der Unterweisungspraxis, also wohl auch mit der Mission, befaßten Kreisen, durch die Ehrwürdigkeit des Sūtra geschützt, als besonders langlebig erwiesen. Page #15 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 93 der buddhistischen Interessensgebiete zu liegen scheint und die Beschäftigung mit dem Thema teilweise auch apologetischen Charakters ist, hat einer aus jener kleinen Gruppe von tibetischen Übersetzer-Gelehrten des ausgehenden 8. Jahrhunderts, die neben ihrer eigentlichen Tätigkeit auch schon selbständige Werke verfaßt haben, einen Traktat gerade über dieses Thema verfaßt. Das ist auffallend. Und wenn meine Vermutung stimmt, daß nicht nur die Glosse, sondern auch das Werk des Prajñāsena als tibetische Schöpfung zu betrachten ist, hätte es wenigstens zwei derartige Werke gegeben. Zwei Traktate aber wären angesichts der geringen Zahl von aus dieser Zeit erhaltenen oder bekannten tibetischen Originalwerken 32 ein bemerkenswerter Anteil, und es ist erlaubt festzustellen, daß der Nachweis der Wiedergeburt als Thema von besonderem Interesse für die tibetischen Träger dieser ersten Ausbreitungsperiode der Religion gewesen ist. Warum aber war der Nachweis der Wiedergeburt in dieser ersten Periode der Übernahme des buddhistischen Schrifttums und damit wesentlicher kultureller Schöpfungen Indiens durch die Tibeter von besonderem Interesse? Die Antwort kann in Ansehung unserer Quellenlage und des Forschungsstandes nur als Hypothese gegeben werden. Und zwar deshalb, weil man bisher keineswegs eindeutig feststellen konnte, wie das Menschenbild und die Vorstellungen von Dasein, Geburt und Tod in Tibets vorbuddhistischer Zeit wirklich ausgesehen haben 33 Die vorbuddhistischen Vorstellungen vom Wesen des Menschen, und von Leben und Tod, sind deshalb nur schwer zu bestimmen, weil sich einerseits verschiedene Kulturwelten in Tibet immer überlagert und überlappt haben – Einheitlichkeit daher nicht zu erwarten ist und weil die regionalen Unterschiede in der Zeit vor dem staatsbildenden Königtum auch in ideengeschichtlicher Hinsicht bedeutsam sind - es daher zwar immer notwendig wäre, aber nicht immer möglich ist, zu bestimmen, auf welche Kulturregion Tibets eine bestimmte Information zutrifft –, und weil schließlich, andererseits, die zur Verfügung stehenden Quellen sich entweder nur auf einen Teilaspekt des Lebens beziehen -- z. B. das Bestattungsritual der Könige — oder aus viel späterer, und das heißt bereits buddhistischer Zeit stammen, wie etwa die schriftlichen und 32 Vgl. SEYFORT RUEGG, loc. cit., 209212 und Anm. 8, 10, 20. 33 Die wichtigsten Arbeiten auf diesem Gebiete verdanken wir MARCELLE LALOU, GIUSEPPE TUCCI, ROLF A. STEIN und ARIANE MACDONALD. Page #16 -------------------------------------------------------------------------- ________________ 94 mundlichen Quellen fur die Seelenvorstellungen der sogenannten tibetischen Volksreligion. Bei aller Unsicherheit konnen wir aber doch wenigstens eine negative Behauptung wagen, die fur unseren Zusammenhang genugt: Es hat im vorbuddhistischen Tibet zwar die Idee von einer vom materiellen Korper verschiedenen und von ihm trennbaren Seele gegeben, aber nicht die Idee eines ewigen Kreislaufs von Leben und Tod, nicht die Idee eines diesen Kreislaufs regulierenden Prinzips, und naturlich schon gar nicht die Idee eines ohne eine Seele moglichen Kreislaufs von Existenzen. Da nun, wenigstens fur die populare Form des Buddhismus, und mit Bezug auf seine gesellschaftsbestimmende Funktion, gesagt werden kann, dass die Durchsetzung seiner Morallehren ohne die Annahme der Ideenkomplexe von der Tat-Vergeltung und der Wiedergeburt nicht denkbar ist, liegt es nahe, hier das Motiv dafur zu suchen, dass die Tibeter unter ihren ersten buddhistischen Originalwerken, auch kleine Traktate uber die Wiedergeburt verfasst haben. Was wir in dem einzigen erhaltenen Beispiel, dem Werk des Prajnasena, vor uns haben, muss dann aber auch mit anderen Augen betrachtet werden. Nicht das einfache und ein wenig ungeschickt organisierte Beispiel eines spaten zusammenfassenden Traktates uber ein Seitenthema der buddhistischen Dogmatik hatten wir vor uns, sondern den einzigen erhaltenen Versuch eines tibetischen Spezialisten, diesen fur die Ausbreitung der Religion in der neuen kulturellen Umwelt wichtigen Vorstellungskomplex gestutzt auf die dogmatische Tradition des indischen Buddhismus zu erlautern. Dann aber verdient dieser Text unsere Aufmerksamkeit in all seinen Aspekten, vor allem aber in seinen Unvollkommenheiten. Denn welche Verstandnissschwierigkeiten und Interpretationsprobleme die Ubernahme der hochentwickelten buddhistischen Ideen- und Begriffswelt in die tibetische Kultur des 8. und 9. Jahrhundert bereitet hat, ist vorzuglich durch die Untersuchung von Texten wie des unseren zu erkennen. Druck: R. Spies & Co., 1050 Wien